In einem DDR-Seminar, das ich dieses Semester an der Humboldt-Universität unterrichte, erinnere ich die Studierenden immer gern daran, dass man die Geschichte nicht „vom Ende her“ denken solle. Wenn die historischen Akteur*innen zur Zeit des Mauerbaus gewusst hätten, dass die Mauer 1989 wieder fallen und die DDR 1990 aufhören würde zu existieren, hätten sie vermutlich anders gehandelt als sie es ohne dieses Wissen taten. Wenn wir Geschichte verstehen wollen, müssen wir deshalb versuchen, das Ende zumindest vorübergehend auszublenden. Die DDR schon für das Jahr 1961 oder 1976 als „Verliererin“ des Kalten Krieges darzustellen, wäre eine nachträgliche Verzerrung der Dinge.
Das „Ende“ waren in diesem Fall das Ende des Kalten Kriegs und der Sieg der Demokratie über die Diktatur (oder auch der Marktwirtschaft über die Planwirtschaft) in Europa. Die Sowjetunion löste sich auf, Russland wandelte sich zumindest auf dem Papier zu einer Republik mit freien Wahlen. Das war die Situation, die entstand, während ich in Bielefeld Geschichte studierte (1988 bis 1995), und das ist die Geschäftsgrundlage, auf der seither Geschichte geschrieben und gelehrt wird. Was aber, wenn sich die Geschäftsgrundlage ändert?
Seit Beginn der Postmoderne hat sich die Geschichtswissenschaft – zumindest rhetorisch – von den sogenannten Metanarrativen verabschiedet. Niemand glaubt mehr wirklich an einen fortschreitenden Prozess der Demokratisierung oder Liberalisierung, niemand glaubt mehr, wie einst Francis Fukuyama, dass irgendwann Frieden auf Erden herrschen und die Menschen nur noch Fußball schauen und Karten spielen werden. Die Jugoslawien-Kriege konnte man vor diesem Hintergrund als ‚Betriebsunfall‘ betrachten, und dass es bei russischen Wahlen nicht immer ganz demokratisch zuging als Kinderkrankheit der Demokratie.
Damit, dass es in Europa so bald wieder einen Angriffskrieg von diesem Ausmaß und massenhafte Menschen- und Völkerrechtsverletzungen geben würde, hatte ich zumindest nicht gerechnet – vermutlich, weil ich den russischen Überfall auf die Krym 2014 nicht ernst genug genommen habe. Was wir seit Februar 2022 erleben, ist indes nicht nur von Olaf Scholz als „Zeitenwende“ beschrieben worden. Das heißt, dass sich das Ende der Geschichte, von dem her wir sie gerade nicht denken sollen, geändert hat. Welche Folgen hat das für die gegenwärtige Geschichtsschreibung?
Cold War Cultures Revisited
2012 habe ich zusammen mit den Kollegen Marcus M. Payk und Thomas Lindenberger einen Sammelband mit dem Titel European Cold War Cultures. Perspectives on Societies in the East and the West herausgegeben. Die Grundannahme dieses Bands war, dass es verschiedene Wege in die Moderne gab und dass sich der westeuropäische und der osteuropäische in der Zeit des Kalten Kriegs weniger unterschieden als das zuvor angenommen worden war. Die Beiträge beschäftigten sich unter anderem mit dem Zivilschutz, mit Sportereignissen und Jugendaustauschen, und generell eher mit kulturellen Entwicklungen in Ost und West als mit Ideologien, politischen Systemen oder militärischen Fragen. Eine Grundannahme war, dass man die Historiographie vom ideologischen Antikommunismus befreien müsse, der den Blick auf Kultur und Alltag „im Osten“ verstellte.
So gut und richtig diese Annahme war, stellt sich doch aus heutiger Sicht die Frage, ob man nicht deutlicher hätte differenzieren müssen zwischen der Sowjetunion als Supermacht und den osteuropäischen Staaten, die sich dem sowjetischen Einfluss zu entziehen versuchten. Und ob wir nicht den Blick stärker auf die Spätfolgen des Stalinismus als auf den Prozess der Entstalinisierung hätten richten sollen, der aus heutiger Perspektive doch weniger erfolgreich verlaufen zu sein scheint als man das im Westen derzeit annahm.
Als der Cold War Cultures-Band 2012 erschien, war der Begriff des Totalitarismus aus verschiedenen Gründen gerade nicht opportun. Vorhandene Totalitarismustheorien standen lange schon unter dem Generalverdacht des Antikommunismus, den wir mit dem Cold War Cultures-Band gerade nicht befeuern mochten. Aber mangels einer begrifflichen Alternative wurde die Sowjetunion in unserem Band auch nicht als totalitäre, beziehungsweise nach Stalins Tod als posttotalitäre Gesellschaft beschrieben. Das fällt uns heute auf die Füße.
Nimmt man die Kriterien, die Hannah Arendt 1951 in Origins of Totalitarianism entwickelt hat, als Ausgangspunkt, kann man Putins Russland durchaus als totalitären Staat beschreiben: Es gibt eine starke Führungspersönlichkeit, massive Repressionen gegen Regimegegner, ein Lagersystem, eine gleichgeschaltete Presse und eine Ideologie, in diesem Fall eine Geschichtsideologie, die mit terroristischen Mitteln in imperialistische Politik übersetzt wird, koste es, was es wolle. Eine solche Einschätzung lenkt den Blick weg von den Brüchen und Zäsuren in der russischen bzw. sowjetischen Geschichte und wirft im Gegenzug Fragen nach Kontinuitäten auf. Sowjetische bzw. russische Angriffe auf Ungarn (1956), die Tschechoslowakei (1968), Tschetschenien (1994 und 1999) und Georgien (2008) könnten vor diesem Hintergrund auch als Elemente einer imperialistischen Geschichte interpretiert werden, deren jüngstes Kapitel gerade in der Ukraine spielt.
Damit hätte sich dann das Interesse von einer Kulturgeschichte des Kalten Kriegs wieder zu einer politischen bzw. militärischen Geschichte zurück verschoben. Zynisch könnte man sagen, dass wir uns eine Kulturgeschichte des Kalten Krieges nur leisten konnten, solange es in Europa gerade keinen „heißen“ Krieg gab. Im Gegenzug könnte das aber auch heißen, dass wir die westeuropäische und politisch eher zur Linken tendierende Kulturgeschichte des Kalten Krieges aus ihrem anti-anti-kommunistischen Korsett befreien und Russland als post- und prätotalitäre Gesellschaft neu in den Blick nehmen sollten.
Der NATO-Doppelbeschluss
Der NATO-Doppelbeschluss von 1979, mit dem das Verteidigungsbündnis die Aufstellung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa ankündigte, stieß in der alten Bundesrepublik auf massiven gesellschaftlichen Widerstand und war einer der Auslöser für die Entstehung einer breiten Friedensbewegung. Ich selbst habe als Jugendliche die damals noch samstags geöffnete Schule geschwänzt, um am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten gegen diesen Beschluss zu demonstrieren. Die Devise „Frieden schaffen ohne Waffen“ oder auch „mit immer weniger Waffen“ gehörte zu den gefühlten Wahrheiten der Zeit. Erste Risse bekam diese Grundeinstellung bei mir erst Jahrzehnte später, als ich – mehr oder weniger zufällig – die Memoiren von Helmut Schmidt las. Seine Argumente für die Wiederherstellung eines atomaren Gleichgewichts, die ihn selbst das Amt kosteten, schienen mir plötzlich durchaus plausibel. Aber zwischendurch war auch die Mauer gefallen.
Als Historikerin ordnete ich deshalb die Einsicht, dass Schmidt möglicherweise doch nicht so falsch gelegen hatte, in die Schublade mit den hindsight-Argumenten („hinterher ist man immer schlauer“). Niemand wusste 1979, dass der Kalte Krieg gute zehn Jahre später zu Ende sein würde, und – siehe oben – man sollte ja die Dinge nicht „vom Ende her“ bewerten.
Was damals niemand wusste: Dass gut dreissig Jahre später Russland eine Ukraine angreifen würde, die ihre Atomwaffen nach dem Ende des Kalten Kriegs abgegeben hatte. Niemand wollte, dass sich mit dem Zerfall der Sowjetunion eine Reihe von atomar bewaffneten Nachfolgestaaten zu Sicherheitsrisiken für den Weltfrieden entwickeln. Aber man darf annehmen, dass Putin die Ukraine nicht angegriffen hätte, würde sie noch über diese Waffen verfügen. Auch hier hat sich das Ende, von dem her wir die Geschichte nicht denken sollen, radikal verändert.
Was einst plausibel schien („Waffen weg“), sollten wir vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse wieder auf den Prüfstand stellen. Gerade damit tun sich viel linke Intellektuelle in Deutschland jedoch schwer. Während die Unterzeichner*innen des in der Emma veröffentlichten „Briefs der 28“ an ihren pazifistischen Positionen festhalten, die sich aus ihrer Sicht im Kalten Krieg gut bewährt haben, fordern andere in einem offenen Brief an Olaf Scholz ein radikales Umdenken, konkret: die militärische Unterstützung der Ukraine gegen Russland. Beide berufen sich auf die Geschichte, aus der sie das eine oder das andere gelernt haben. Die einen halten am vorletzten „Ende der Geschichte“ fest, die anderen schalten um auf „Zeitenwende“. Letzteres halte ich persönlich für die intelligentere Option. Wenn schon vom Ende her denken, dann wenigsten vom jüngsten.
Erinnerungskultur
Seit Jahren verdichten sich die Anzeichen dafür, dass mit der deutschen Erinnerungskultur etwas nicht stimmt. Der Satz, dass man aus der Geschichte lernen müsse, damit sie sich nicht wiederhole, liest sich wie ein Anhang zum Grundgesetz. Aber was wir in letzter Zeit beobachten ist, dass deutsche Außenminister in Yad VaShem Sonntagsreden halten und gar, wie Heiko Maas, die Lehren aus Auschwitz zum Grundmotiv ihrer politischen Karriere erklären, während sie es nicht schaffen, ihre Ortskräfte aus Afghanistan herauszuholen. Frank-Walter Steinmeier scheint so fest davon überzeugt zu sein, dass er aus der Geschichte immer das Richtige gelernt hat, dass jeder Zweifel daran als Affront nicht nur auf den Mann, sondern auch auf die deutsche Erinnerungskultur in ihrer Gesamtheit empfunden wird.
Dies ist umso erstaunlicher als es in Israel längst heftige Debatten darüber gibt, ob die Erinnerung an den Holocaust nicht versteinert und in einem Maße ritualisiert sei, dass sie dringend einer Revision bedürfe. Yishay Sarid hat diesen Diskurs in dem Roman Monster sehr anschaulich beschrieben. Er handelt von einem erfolglosen Historiker, der sein Geld damit verdient, dass er israelische Schulklassen durch Majdanek führt und dort feststellt, dass die Schüler die vorgesehenen Lektionen nicht lernen (sondern stattdessen rassistische Sprüche über Araber*innen machen).
In Deutschland gibt es solche Debatten kaum – und das fällt uns jetzt auf die Füße. Deutsche Politiker*innen können zwar theoretisch erklären, warum das mit dem Nationalsozialismus Mist war. Viele tun sich aber schwer damit, Analogieschlüsse anzustellen und daraus Orientierung für die Gegenwart zu gewinnen. Bezeichnenderweise wurde Robert Habeck, als er im Sommer 2021 Waffenlieferungen an die Ukraine auch nur in Erwägung zog, mit einem Shitstorm überzogen. Dabei hatte er eigentlich nur eins und eins (nämlich Vergangenheit und Gegenwart) zusammengezogen und daraus einen Schluss gezogen, den heute dann doch viele richtig finden.
Angesichts der Tatsache, dass Putin die Organisation Memorial zum ausländischen Agenten erklärt hat (und zum Massenmörder mutiert ist), scheint die Kritik an der Floskelmaschinerie der deutschen Erinnerungskultur vielleicht banal. Wie wichtig es ist, Geschichtskulturen lebendig zu halten und gegebenenfalls neuen Gegebenheiten anzupassen, zeigt aber einmal mehr der Blick nach Russland. Das Verbot von Memorial in Russland erscheint so als Maßnahme Putins gegen die posttotalitäre Geschichtsaufarbeitung, an der er keinerlei Interesse hat, weil sie seine eigene totalitäre Politik infrage stellt.
Das Ende neu denken
Für die Studierenden in meinem DDR-Seminar halte ich daran fest, dass sie die Geschichte nicht vom Ende her denken sollen. Wenn wir wissenschaftlich valide Aussagen über die Motivationen und die Handlungen unserer Protagonist*innen in der Vergangenheit treffen wollen, müssen wir vorübergehend das Ende der Geschichte ausblenden. Andernfalls laufen wir Gefahr, sie durch eine Brille zu betrachten, die die historischen Akteur*innen selbst nicht hatten. Aber seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar – und genau genommen schon seit der Annexion der Krim 2014 – hat sich das Ende, das wir ausblenden müssen, selbst verändert. Die von vielen gehegte Annahme, dass sich Russland langfristig als demokratischer Staat in die Weltordnung einfügen und es in Europa keine zwischenstaatlichen Angriffskriege mehr geben werde, ist obsolet. Die 1990er Jahre erscheinen nun als kurze Phase zwischen dem Ende des Kalten Kriegs und dem Erstarken eines neuen russischen Totalitarismus – um einen Begriff zu bemühen, den ich selbst längst zum Quellenbegriff erklärt hatte. Von diesem Ende her müssen wir vor allem die Gegenwart neu denken.