Die Aufrechterhaltung einer anständigen Work Life Balance ist eine diffizile Angelegenheit – für Frauen wie für Männer. Selbst die Profis der Beratungsindustrie bewegen sich wie auf rohen Eiern, wenn sie das Schlagwort in konkrete Ratschläge umsetzen sollen. Das gilt vor allem, wenn widerstreitende Interessen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern im Spiel sind, obwohl man von solchen Konflikten eigentlich gar nichts wissen will. Die Beratung beider Seiten kann dann selbst zum Balanceakt werden, der eine sorgfältige Wahl der Worte verlangt. Die Kommunikationsagentur Edelmann versucht es in einer Beratungsbroschüre des deutschen Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit dem verzagten Titel: „So sag ich’s meinen Vorgesetzten“. Die Kernbotschaft der Broschüre lautet, dass Familie zum „Erfolgsfaktor“ werden kann, wenn man nur „offen“ mit seinem Chef kommuniziert. Zugleich wirbt sie für Verständnis mit Vorgesetzten, die auf den Wunsch nach Elternzeit nicht nur begeistert reagieren: „Wenn Ihre Chefin oder Ihr Chef von Ihrem Mutter- oder Vaterglück erfährt, wird sich neben Freude voraussichtlich auch ein wenig Unsicherheit einstellen“.

Aus der Broschüre „So sag ich’s meinen Vorgesetzten“; Quelle: bmfsfj.de
Die Adressaten der Broschüre sind berufstätige Mütter und Väter, für die ein wenig Unsicherheit zum Alltag gehört. Viele von ihnen kennen die Effekte der neuen Arbeitswelt, die Luc Boltanski und Ève Chiapello in Der neue Geist des Kapitalismus analysieren. Als Grund für das „Unbehagen“ an dieser neuen Arbeitswelt nennen Boltanski und Chiapello unter anderem die wachsenden Schwierigkeiten, die eigene „Zukunft zu planen“. Diesem Problem begegnet die zitierte Broschüre mit der trockenen Aufforderung, es trotzdem zu tun. Natürlich sind die Bedingungen ungünstig; man sollte das Ganze aber als eine „Aufgabe“ betrachten, in die man noch „hineinwachsen“ muss. Die Verantwortung für den Erfolg wird so, wie es der derzeitigen Routine entspricht, den einzelnen Beteiligten zugeschoben. Um eine „gute Planung“ führt nun einmal kein Weg herum.
Lebenslanges Lernen als Anpassungsprozess
Glaubt man den soziologischen Untersuchungen zum Thema, so ist die Zeit der großen Planungseuphorie in Unternehmen und Ministerien seit den 1960er Jahren vorbei. Niemand glaubt mehr ernsthaft, dass man den komplexen Problemen globalisierter Gesellschaften mit der Planungsrationalität des Ingenieurs beikommen könnte. Das hindert allerdings nicht daran, vom Einzelnen virtuose Planungsleistungen zu verlangen, wenn sich gerade keine andere Lösung anbietet. Die freundliche Aufforderung an junge Familien, die Anomie-Probleme des kapitalistischen Systems durch geschickte Planung der persönlichen Lebensführung aufzufangen, ist nur ein eher oberflächliches Beispiel für diese Strategie. Eine deutlich anspruchsvollere Formulierung findet sie in den derzeitigen Programmen der Pädagogischen Psychologie. Diese Programme geben der beiläufigen Bemerkung, man müsse eben in seine Aufgabe „hineinwachsen“, eine psychotechnische Fundierung, indem sie das Ideal des guten Planers mit dem des lebenslangen Lerners verkoppeln. Die Unfähigkeit des Einzelnen, Systemversagen durch individuelle Planungsleistungen zu kompensieren, kann so als ein Problem des persönlichen Lernstands interpretiert werden, der nach professioneller Begleitung verlangt.
Kennzeichnend für die einschlägigen Programme der Pädagogischen Psychologie ist die geteilte Überzeugung, dass Lernen als Anpassung an gesellschaftliche Anforderungen verstanden werden muss. Marcus Hasselhorn und Andreas Gold eröffnen ihr Handbuch Pädagogische Psychologie mit der alten Weisheit, dass Lernen zu den Wesenszügen des Menschen gehört und präzisieren: „Ohne das Erlernen kultureller Fertigkeiten, konsensfähiger Sachverhalte und Überzeugungen wäre es dem Menschen nicht möglich, sich erfolgreich an die Erfordernisse einer Gesellschaft oder einer menschlichen Kultur anzupassen“. Der Held des Handbuchs Pädagogische Psychologie ist GIV: der gute Informationsverarbeiter. GIV passt sich an die Herausforderungen des Lebens an, indem er Lernstrategien verwendet und deren Einsatz plant. Gute Informationsverarbeiter, so lautet der oberste Eintrag des lerntheoretischen Tugendkatalogs, „planen ihr Lernverhalten“. Die psychologische Lerntheorie schreibt so das Verhaltensschema des Guten Planers, das in den Beratungsangeboten zur Work Life Balance den sozialen Frieden sichern soll, als Kern eines pädagogischen Programms fest.
Die schöne neue Welt lösbarer Probleme und Aufgaben
Philosophische Lerntheorien haben, orientiert am sokratischen Gespräch, immer wieder die Bedeutung aporetischer Momente hervorgehoben, in denen der Prozess des Dazulernens in eine Sackgasse gerät und die Überprüfung der eigenen Maßstäbe verlangt. Die derzeitige Renaissance von Günther Bucks philosophischer Lerntheorie zeigt, dass in der bildungstheoretischen Theoriebildung ein großes Bedürfnis besteht, diese aporetischen Momente des Lernprozesses ernst zu nehmen und Lernen als einen Prozess des Umlernens zu fassen. Dieses Bedürfnis reagiert auf die Hilflosigkeit des Guten Informationsverarbeiters, der auf Misserfolge im Planungsprozess nur mit mehr Planung reagieren kann. Das Modell des Good Information Processing, auf das sich Hasselhorn und Gold in ihrem Handbuch stützen, beschreibt das wie folgt: „If an impasse is reached, more planning occurs to identify ways to overcome obstacles not considered during initial planning“ (Journal of Educational Research 2/1989).

In der Maschine des lebenslangen Lernens; Quelle: nmbu.no
Solche Figuren der zirkulären Schließung sind unvermeidlich, wenn man Lernen als bloße Anpassungsleistung versteht. Man erhält dann einen Begriff des Lernens, der keine Aporien, sondern nur Aufgaben kennt. Es handelt sich um die aktuelle Variante eines hegemonialen Schemas, das Theodor W. Adorno in den Minima Moralia das „Schema der Aufgabe“ nennt. Adornos Beispiel für die Funktionsweise dieses Schemas ist der Intelligenztest, der nicht nur individuelle Leistungen misst, sondern auch das Verhalten der Probanden formt, indem er die Überprüfung des „eigenen in Form Seins“ habitualisiert. Wer gelernt hat, dass Intelligenz als Anpassungsleistung an die Aufgaben des Lebens zu verstehen ist, der „benimmt sich tendenziell bereits von sich aus, als ob er unablässig seine Tauglichkeit darzutun hätte“ (§ 126).
Adornos Aufmerksamkeit galt Systemen der Individuation, die darauf ausgerichtet sind, die individuelle Lebensführung zum Stützpunkt gesellschaftlicher Herrschaft zu machen. Diese Perspektive – die er vor allem in Max Webers religionssoziologischen Studien fand und die deutlich auf Michel Foucaults Analysen individualisierender Macht vorausweist – schärft den Blick für eine neue Formation systematischer Menschenlenkung, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Nachfolger der christlichen Seelenleitung abzeichnet. Adorno bezeichnete sie, mit einem Begriff der aufkommenden angewandten Psychologie, als „Psychotechnik“ (§ 39).
Unheimlich erfolgreich: Psychotechnik heute
Der Begriff der Psychotechnik hat sich im Feld der angewandten Psychologie nicht durchgesetzt und wird heute oft nur noch in psychologiegeschichtlicher Perspektive verwendet. Es gibt aber kaum einen treffenderen Begriff, um die derzeitigen Techniken psychologischer Menschenlenkung zu bezeichnen. Hugo Münsterberg bestimmte die Psychotechnik als denjenigen Teil der angewandten Psychologie, der nicht „rückblickend“ psychische Phänomene erklären, sondern „vorwärtsblickend das praktische Leben im Dienste der Kulturaufgaben gestalten“ soll (Grundzüge der Psychotechnik, Leipzig 1914). Dieser Gestaltungswille hat auch nach dem Ende der klassischen Psychotechnik nie nachgelassen. Im Gegenteil. Vieles spricht dafür, dass die eigentliche Erfolgsgeschichte der Psychotechnik erst in dem Moment beginnt, als sie aus dem aktiven Wortschatz der psychologischen Forschung verschwindet.

Probleme sind zum Lösen da… – Quelle: buzzfeed.com
Entscheidend für den Schritt von der klassischen zur neuen Psychotechnik war die Integration von ‚weichen‘ Themen wie Motivation und Emotion in ein ‚hartes‘ psychologisches Forschungsprogramm, das konsequent an der experimentellen Erhebung quantifizierbarer Ergebnisse festhält. David C. McClelland entwickelte, dieser Maxime folgend, das heute gängige Konzept der Kompetenz. Zugleich markierte er mit dem Titel Die Leistungsgesellschaft (1966) den Beginn eines hegemonialen Projekts, das derzeit unter dem Titel der „Kompetenzgesellschaft“ fortgesetzt wird (vgl. Erpenbeck/Rosenstiel, Handbuch Kompetenzmessung, Stuttgart 2007). Die Kompetenzgesellschaft ist offenkundig eine Nachfolgerin der Leistungsgesellschaft, bringt deren psychotechnische Herkunft aber genauer zum Ausdruck, indem sie die Zuständigkeit der Psychologie für unser wirtschaftliches Wohlergehen festschreibt. Schon McClelland war Psychologe; schon er behauptete, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Wohlstand eines Landes und den psychischen Dispositionen seiner Bewohner besteht. Das sieht man dem Begriff der Leistungsgesellschaft aber nicht an. Wer „Leistungsgesellschaft“ sagt, lässt offen, wie man erfolgreich mit der Fiktion umgeht, in einer solchen Gesellschaft zu leben. Wer „Kompetenzgesellschaft“ sagt, der sagt zugleich: „Wir brauchen psychologische Expertise.“
Statt Streit Beratung – Herrschaft durch Service
McClellands Konzept der Kompetenz lieferte bereits alle wesentlichen Bestandteile für das heute gängige Ideal des lebenslang lernenden Problemlösers. Dieses Ideal steht nicht nur im Hintergrund, wenn junge Eltern aufgefordert werden, den Interessenkonflikt mit ihrem Arbeitgeber als eine persönliche Herausforderung zu betrachten, in die man mit der Zeit „hineinwächst“. Es bestimmt auch die OECD-Programme zum Umbau des Bildungssystems, die in den letzten Jahrzehnten umgesetzt wurden. Franz E. Weinert, der den Schulreformen im deutschsprachigen Raum das passende Kompetenzkonzept lieferte, bestimmt nicht nur Kompetenzen als die Fähigkeit, „Probleme zu lösen“ (Leistungsmessung in Schulen, Weinheim/Basel 2002); er ist auch exemplarisch für ein Verständnis von Politik, das grundsätzlich keine Konflikte, sondern nur zu lösende Aufgaben kennt. Der Anspruch auf eine hegemoniale Bestimmung politischer Prozesse lässt sich so als die einzig vernünftige Verhaltensweise ausgeben, die den Streit beendet und dazu übergeht, ihre „Aufgabe“ zu erfüllen: „Auf politischer Ebene ist damit begonnen worden, Gräben einzuebnen und sich gemeinsam der Aufgabe der Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung an Schulen zu widmen“.
Weinert schreibt hier als typischer Vertreter einer neuen Psychotechnik, die in Debatten keine Argumente, sondern nur „Sorgen“ und „Befürchtungen“ wahrnimmt. Die neuen Psychotechniker und Psychotechnikerinnen kennen keinen Streit, sie beraten alle Seiten und verwandeln Antagonismen in Aufgaben. Sie stellen die Psychologie in den Dienst der Kulturaufgaben und folgen dabei einer alten Strategie, die schon Kant bei den Seelsorgern seiner Zeit feststellte: „Sie verwandeln den Dienst der Kirche (ministerium) in eine Beherrschung der Glieder derselben (imperium)“. Die Strategie der Seelenleitung lautet, damals wie heute: Herrschaft durch Service.