In der "Kompetenzgesellschaft" wird nicht mehr gestritten, sondern beraten. Anpassung wird als "lebenslanges Lernen" verkauft. Willkommen in der schönen neuen Welt lösbarer Probleme und Aufgaben!

  • Andreas Gelhard

    Andreas Gelhard lehrt seit 2014 Philosophie und Bildungswissenschaft an der Universität Wien. Zuvor arbeitete er als Wissenschaftslektor im Suhrkamp Verlag und als wissenschaftlicher Leiter des Forums interdisziplinäre Forschung der TU Darmstadt. Demnächst erscheint im Diaphanes Verlag die erweitere Neuauflage seines Buches "Kritik der Kompetenz" sowie eine weitere Publikation: "Skeptische Bildung. Prüfungspraktiken als philosophisches Problem".

Die Aufrecht­erhal­tung einer anstän­digen Work Life Balance ist eine diffi­zile Ange­le­gen­heit – für Frauen wie für Männer. Selbst die Profis der Bera­tungs­in­dus­trie bewegen sich wie auf rohen Eiern, wenn sie das Schlag­wort in konkrete Ratschläge umsetzen sollen. Das gilt vor allem, wenn wider­strei­tende Inter­essen zwischen Arbeit­neh­mern und Arbeit­ge­bern im Spiel sind, obwohl man von solchen Konflikten eigent­lich gar nichts wissen will. Die Bera­tung beider Seiten kann dann selbst zum Balan­ceakt werden, der eine sorg­fäl­tige Wahl der Worte verlangt. Die Kommu­ni­ka­ti­ons­agentur Edel­mann versucht es in einer Bera­tungs­bro­schüre des deut­schen Bundes­mi­nis­te­riums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit dem verzagten Titel: „So sag ich’s meinen Vorge­setzten“. Die Kern­bot­schaft der Broschüre lautet, dass Familie zum „Erfolgs­faktor“ werden kann, wenn man nur „offen“ mit seinem Chef kommu­ni­ziert. Zugleich wirbt sie für Verständnis mit Vorge­setzten, die auf den Wunsch nach Eltern­zeit nicht nur begeis­tert reagieren: „Wenn Ihre Chefin oder Ihr Chef von Ihrem Mutter- oder Vater­glück erfährt, wird sich neben Freude voraus­sicht­lich auch ein wenig Unsi­cher­heit einstellen“.

Aus der Broschüre „So sag ich’s meinen Vorge­setzten“; Quelle: bmfsfj.de

Die Adres­saten der Broschüre sind berufs­tä­tige Mütter und Väter, für die ein wenig Unsi­cher­heit zum Alltag gehört. Viele von ihnen kennen die Effekte der neuen Arbeits­welt, die Luc Boltanski und Ève Chia­pello in Der neue Geist des Kapi­ta­lismus analy­sieren. Als Grund für das „Unbe­hagen“ an dieser neuen Arbeits­welt nennen Boltanski und Chia­pello unter anderem die wach­senden Schwie­rig­keiten, die eigene „Zukunft zu planen“. Diesem Problem begegnet die zitierte Broschüre mit der trockenen Auffor­de­rung, es trotzdem zu tun. Natür­lich sind die Bedin­gungen ungünstig; man sollte das Ganze aber als eine „Aufgabe“ betrachten, in die man noch „hinein­wachsen“ muss. Die Verant­wor­tung für den Erfolg wird so, wie es der derzei­tigen Routine entspricht, den einzelnen Betei­ligten zuge­schoben. Um eine „gute Planung“ führt nun einmal kein Weg herum.

Lebens­langes Lernen als Anpassungsprozess

Glaubt man den sozio­lo­gi­schen Unter­su­chungen zum Thema, so ist die Zeit der großen Planungs­eu­phorie in Unter­nehmen und Minis­te­rien seit den 1960er Jahren vorbei. Niemand glaubt mehr ernst­haft, dass man den komplexen Problemen globa­li­sierter Gesell­schaften mit der Planungs­ra­tio­na­lität des Inge­nieurs beikommen könnte. Das hindert aller­dings nicht daran, vom Einzelnen virtuose Planungs­leis­tungen zu verlangen, wenn sich gerade keine andere Lösung anbietet. Die freund­liche Auffor­de­rung an junge Fami­lien, die Anomie-Probleme des kapi­ta­lis­ti­schen Systems durch geschickte Planung der persön­li­chen Lebens­füh­rung aufzu­fangen, ist nur ein eher ober­fläch­li­ches Beispiel für diese Stra­tegie. Eine deut­lich anspruchs­vol­lere Formu­lie­rung findet sie in den derzei­tigen Programmen der Pädago­gi­schen Psycho­logie. Diese Programme geben der beiläu­figen Bemer­kung, man müsse eben in seine Aufgabe „hinein­wachsen“, eine psycho­tech­ni­sche Fundie­rung, indem sie das Ideal des guten Planers mit dem des lebens­langen Lerners verkop­peln. Die Unfä­hig­keit des Einzelnen, System­ver­sagen durch indi­vi­du­elle Planungs­leis­tungen zu kompen­sieren, kann so als ein Problem des persön­li­chen Lern­stands inter­pre­tiert werden, der nach profes­sio­neller Beglei­tung verlangt.

Kenn­zeich­nend für die einschlä­gigen Programme der Pädago­gi­schen Psycho­logie ist die geteilte Über­zeu­gung, dass Lernen als Anpas­sung an gesell­schaft­liche Anfor­de­rungen verstanden werden muss. Marcus Hassel­horn und Andreas Gold eröffnen ihr Hand­buch Pädago­gi­sche Psycho­logie mit der alten Weis­heit, dass Lernen zu den Wesens­zügen des Menschen gehört und präzi­sieren: „Ohne das Erlernen kultu­reller Fertig­keiten, konsens­fä­higer Sach­ver­halte und Über­zeu­gungen wäre es dem Menschen nicht möglich, sich erfolg­reich an die Erfor­der­nisse einer Gesell­schaft oder einer mensch­li­chen Kultur anzu­passen“. Der Held des Hand­buchs Pädago­gi­sche Psycho­logie ist GIV: der gute Infor­ma­ti­ons­ver­ar­beiter. GIV passt sich an die Heraus­for­de­rungen des Lebens an, indem er Lern­stra­te­gien verwendet und deren Einsatz plant. Gute Infor­ma­ti­ons­ver­ar­beiter, so lautet der oberste Eintrag des lern­theo­re­ti­schen Tugend­ka­ta­logs, „planen ihr Lern­ver­halten“. Die psycho­lo­gi­sche Lern­theorie schreibt so das Verhal­tens­schema des Guten Planers, das in den Bera­tungs­an­ge­boten zur Work Life Balance den sozialen Frieden sichern soll, als Kern eines pädago­gi­schen Programms fest. 

Die schöne neue Welt lösbarer Probleme und Aufgaben

Philo­so­phi­sche Lern­theo­rien haben, orien­tiert am sokra­ti­schen Gespräch, immer wieder die Bedeu­tung apore­ti­scher Momente hervor­ge­hoben, in denen der Prozess des Dazu­ler­nens in eine Sack­gasse gerät und die Über­prü­fung der eigenen Maßstäbe verlangt. Die derzei­tige Renais­sance von Günther Bucks philo­so­phi­scher Lern­theorie zeigt, dass in der bildungs­theo­re­ti­schen Theo­rie­bil­dung ein großes Bedürfnis besteht, diese apore­ti­schen Momente des Lern­pro­zesses ernst zu nehmen und Lernen als einen Prozess des Umler­nens zu fassen. Dieses Bedürfnis reagiert auf die Hilf­lo­sig­keit des Guten Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­ters, der auf Miss­erfolge im Planungs­pro­zess nur mit mehr Planung reagieren kann. Das Modell des Good Infor­ma­tion Proces­sing, auf das sich Hassel­horn und Gold in ihrem Hand­buch stützen, beschreibt das wie folgt: „If an impasse is reached, more plan­ning occurs to iden­tify ways to over­come obsta­cles not considered during initial plan­ning“ (Journal of Educa­tional Rese­arch 2/1989).

In der Maschine des lebens­langen Lernens; Quelle: nmbu.no

Solche Figuren der zirku­lären Schlie­ßung sind unver­meid­lich, wenn man Lernen als bloße Anpas­sungs­leis­tung versteht. Man erhält dann einen Begriff des Lernens, der keine Aporien, sondern nur Aufgaben kennt. Es handelt sich um die aktu­elle Vari­ante eines hege­mo­nialen Schemas, das Theodor W. Adorno in den Minima Moralia das „Schema der Aufgabe“ nennt. Adornos Beispiel für die Funk­ti­ons­weise dieses Schemas ist der Intel­li­genz­test, der nicht nur indi­vi­du­elle Leis­tungen misst, sondern auch das Verhalten der Probanden formt, indem er die Über­prü­fung des „eigenen in Form Seins“ habi­tua­li­siert. Wer gelernt hat, dass Intel­li­genz als Anpas­sungs­leis­tung an die Aufgaben des Lebens zu verstehen ist, der „benimmt sich tenden­ziell bereits von sich aus, als ob er unab­lässig seine Taug­lich­keit darzutun hätte“ (§ 126).

Adornos Aufmerk­sam­keit galt Systemen der Indi­vi­dua­tion, die darauf ausge­richtet sind, die indi­vi­du­elle Lebens­füh­rung zum Stütz­punkt gesell­schaft­li­cher Herr­schaft zu machen. Diese Perspek­tive – die er vor allem in Max Webers reli­gi­ons­so­zio­lo­gi­schen Studien fand und die deut­lich auf Michel Foucaults Analysen indi­vi­dua­li­sie­render Macht voraus­weist – schärft den Blick für eine neue Forma­tion syste­ma­ti­scher Menschen­len­kung, die sich zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts als Nach­folger der christ­li­chen Seelen­lei­tung abzeichnet. Adorno bezeich­nete sie, mit einem Begriff der aufkom­menden ange­wandten Psycho­logie, als „Psycho­technik“ (§ 39). 

Unheim­lich erfolg­reich: Psycho­technik heute

Der Begriff der Psycho­technik hat sich im Feld der ange­wandten Psycho­logie nicht durch­ge­setzt und wird heute oft nur noch in psycho­lo­gie­ge­schicht­li­cher Perspek­tive verwendet. Es gibt aber kaum einen tref­fen­deren Begriff, um die derzei­tigen Tech­niken psycho­lo­gi­scher Menschen­len­kung zu bezeichnen. Hugo Müns­ter­berg bestimmte die Psycho­technik als denje­nigen Teil der ange­wandten Psycho­logie, der nicht „rück­bli­ckend“ psychi­sche Phäno­mene erklären, sondern „vorwärts­bli­ckend das prak­ti­sche Leben im Dienste der Kultur­auf­gaben gestalten“ soll (Grund­züge der Psycho­technik, Leipzig 1914). Dieser Gestal­tungs­wille hat auch nach dem Ende der klas­si­schen Psycho­technik nie nach­ge­lassen. Im Gegen­teil. Vieles spricht dafür, dass die eigent­liche Erfolgs­ge­schichte der Psycho­technik erst in dem Moment beginnt, als sie aus dem aktiven Wort­schatz der psycho­lo­gi­schen Forschung verschwindet. 

Probleme sind zum Lösen da… – Quelle: buzzfeed.com

Entschei­dend für den Schritt von der klas­si­schen zur neuen Psycho­technik war die Inte­gra­tion von ‚weichen‘ Themen wie Moti­va­tion und Emotion in ein ‚hartes‘ psycho­lo­gi­sches Forschungs­pro­gramm, das konse­quent an der expe­ri­men­tellen Erhe­bung quan­ti­fi­zier­barer Ergeb­nisse fest­hält. David C. McClel­land entwi­ckelte, dieser Maxime folgend, das heute gängige Konzept der Kompe­tenz. Zugleich markierte er mit dem Titel Die Leis­tungs­ge­sell­schaft (1966) den Beginn eines hege­mo­nialen Projekts, das derzeit unter dem Titel der „Kompe­tenz­ge­sell­schaft“ fort­ge­setzt wird (vgl. Erpenbeck/Rosenstiel, Hand­buch Kompe­tenz­mes­sung, Stutt­gart 2007). Die Kompe­tenz­ge­sell­schaft ist offen­kundig eine Nach­fol­gerin der Leis­tungs­ge­sell­schaft, bringt deren psycho­tech­ni­sche Herkunft aber genauer zum Ausdruck, indem sie die Zustän­dig­keit der Psycho­logie für unser wirt­schaft­li­ches Wohl­ergehen fest­schreibt. Schon McClel­land war Psycho­loge; schon er behaup­tete, dass ein enger Zusam­men­hang zwischen dem wirt­schaft­li­chen Wohl­stand eines Landes und den psychi­schen Dispo­si­tionen seiner Bewohner besteht. Das sieht man dem Begriff der Leis­tungs­ge­sell­schaft aber nicht an. Wer „Leis­tungs­ge­sell­schaft“ sagt, lässt offen, wie man erfolg­reich mit der Fiktion umgeht, in einer solchen Gesell­schaft zu leben. Wer „Kompe­tenz­ge­sell­schaft“ sagt, der sagt zugleich: „Wir brau­chen psycho­lo­gi­sche Expertise.“

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Statt Streit Bera­tung – Herr­schaft durch Service

McClel­lands Konzept der Kompe­tenz lieferte bereits alle wesent­li­chen Bestand­teile für das heute gängige Ideal des lebens­lang lernenden Problem­lö­sers. Dieses Ideal steht nicht nur im Hinter­grund, wenn junge Eltern aufge­for­dert werden, den Inter­es­sen­kon­flikt mit ihrem Arbeit­geber als eine persön­liche Heraus­for­de­rung zu betrachten, in die man mit der Zeit „hinein­wächst“. Es bestimmt auch die OECD-Programme zum Umbau des Bildungs­sys­tems, die in den letzten Jahr­zehnten umge­setzt wurden. Franz E. Weinert, der den Schul­re­formen im deutsch­spra­chigen Raum das passende Kompe­tenz­kon­zept lieferte, bestimmt nicht nur Kompe­tenzen als die Fähig­keit, „Probleme zu lösen“ (Leis­tungs­mes­sung in Schulen, Weinheim/Basel 2002); er ist auch exem­pla­risch für ein Verständnis von Politik, das grund­sätz­lich keine Konflikte, sondern nur zu lösende Aufgaben kennt. Der Anspruch auf eine hege­mo­niale Bestim­mung poli­ti­scher Prozesse lässt sich so als die einzig vernünf­tige Verhal­tens­weise ausgeben, die den Streit beendet und dazu über­geht, ihre „Aufgabe“ zu erfüllen: „Auf poli­ti­scher Ebene ist damit begonnen worden, Gräben einzu­ebnen und sich gemeinsam der Aufgabe der Quali­täts­ent­wick­lung und Quali­täts­si­che­rung an Schulen zu widmen“.

Weinert schreibt hier als typi­scher Vertreter einer neuen Psycho­technik, die in Debatten keine Argu­mente, sondern nur „Sorgen“ und „Befürch­tungen“ wahr­nimmt. Die neuen Psycho­tech­niker und Psycho­tech­ni­ke­rinnen kennen keinen Streit, sie beraten alle Seiten und verwan­deln Antago­nismen in Aufgaben. Sie stellen die Psycho­logie in den Dienst der Kultur­auf­gaben und folgen dabei einer alten Stra­tegie, die schon Kant bei den Seel­sor­gern seiner Zeit fest­stellte: „Sie verwan­deln den Dienst der Kirche (minis­te­rium) in eine Beherr­schung der Glieder derselben (impe­rium)“. Die Stra­tegie der Seelen­lei­tung lautet, damals wie heute: Herr­schaft durch Service.