Die Linke habe die „einfachen Menschen“ im Stich gelassen, behauptet die Rechte, und setzt sich als wahre Vertretung der „kleinen Leute“ in Szene. Ist es wirklich das historische Erbe der Linken, das sie anzutreten glaubt? Gedanken über den Antipopulismus der Arbeiterbewegung.

  • Gleb Albert

    Gleb Albert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Histo­ri­schen Seminar der Univer­sität Zürich. Aus der Historischen Kommunismusforschung kommend, arbeitet er nun als Mitglied der Forscher­gruppe «Medien und Mimesis» an einem Projekt zur Geschichte der Softwarepiraterie. Er ist Mitherausgeber des International Newsletter of Communist Studies und Herausgeber von Geschichte der Gegenwart.

Die Rede vom Verrat der „einfa­chen Menschen“ durch die Linke ist seit geraumer Zeit ein fester Bestand­teil des poli­ti­schen Diskurses. Dieser Rede bediente sich jüngst etwa Jörg Babe­rowski: „Vor Jahr­zehnten galt als links, wer in der sozialen Frage als Anwalt der Schwa­chen auftrat. Heute gilt als links, was eine Wohl­stand­se­lite der Gesell­schaft verordnet“. Diese eigen­ar­tige Nost­algie nach einer „authen­ti­schen“ Linken äußert sich auch darin, dass Prot­ago­nisten einer solchen imagi­nierten Linken von rechten Publi­zisten gegen die gegen­wär­tige Linke (oder das, was sie darunter verstehen) in Stel­lung gebracht werden. So veröf­fent­lichte Markus Somm vor einiger Zeit eine Eloge auf den 1991 verstor­benen Zürcher kommu­nis­ti­schen Buch­händler Theo Pinkus. Dies über­rascht nur im ersten Moment: Pinkus wird bloß in Stel­lung gebracht, um die „kleinen Leute“ vor dem Diktat der poli­tisch korrekten „Eliten“ in Schutz zu nehmen: „Nie wäre es ihm einge­fallen, die Arbeiter und kleinen Ange­stellten von Wollis­hofen als Sexisten und Rassisten zu beschimpfen. Sie waren seine Helden.“

Hier soll es nicht darum gehen, Pinkus gegen die Verein­nah­mung von rechts zu vertei­digen – dies hat Erich Keller bereits mit viel Verve getan. Auch die jüngst durch Didier Eribon wieder­be­feu­erte Diskus­sion, ob die Linke im Verlauf der neoli­be­ralen Trans­for­ma­tion der letzten Jahr­zehnte tatsäch­lich die „Schwa­chen“ im Stich gelassen habe, soll hier außen vor bleiben – wie über­haupt die Frage, ob die Linke (wenn es sie denn je als bruch­loses Konti­nuum gegeben hat) histo­risch „recht“ hatte oder nicht. Viel­mehr soll hier durch einen Blick auf die histo­ri­sche Praxis der sozia­lis­ti­schen Arbei­ter­be­we­gung die Rede von der Abkehr der Linken von ihrer angeb­lich ursprüng­li­chen Rolle als Sprach­rohr der „kleinen Leute“ als das ausge­macht werden, was sie ist: ein Taschen­spie­ler­trick, bei dem nach Belieben mit Begriffen hantiert wird, während ihre histo­ri­schen Kontexte unter­schlagen werden. Denn das Verhältnis der Arbei­ter­be­we­gungs­linken, in deren Tradi­ti­ons­linie Pinkus sich zwei­fellos veror­tete, zum Arbeiter war gänz­lich anders geartet, als Somm & Co. es gerne hätten.

Während die Rechte in den „kleinen Leuten“ stets bloß eine Masse sah, deren Funk­tion nicht über das bloße Beju­beln ihrer Politik hinaus­zu­gehen hatte, fokus­sierte die Linke den Arbeiter zunächst einmal als Indi­vi­duum – und das ist ein nur auf den ersten Blick über­ra­schender Befund. Denn auch wenn für die sozia­lis­ti­sche Bewe­gung die Arbeiterklasse als Kollektiv das trei­bende Subjekt der Geschichte war, musste sich diese Klasse erst einmal ihrer Lage bewusst werden – und diese Bewusst­wer­dung hatte notwen­di­ger­weise beim Indi­vi­duum anzu­fangen. Die histo­ri­sche Linke machte sich dabei nicht bloß zum Sprach­rohr der Instinkte und Begehr­lich­keiten des „Volkes“, sondern suchte Indi­vi­duen mithilfe von Bildung und Aufklä­rung zu errei­chen. Dabei hatte sie keine Bedenken, diese auch mit „schwie­rigen“ und nicht konsens­fä­higen Anliegen zu konfrontieren.

Durch Bildung zum „Neuen Menschen“

Die sich ab Mitte des 19. Jahr­hun­derts formie­rende Arbei­ter­be­we­gung war, entgegen den späteren sozia­lis­ti­schen Helden­er­zäh­lungen, keine Bewe­gung der diffusen Unter­drückten, entstanden „von unten“ aus Wut gegen „die da oben“. Genauso wenig war sie, entgegen den libe­ralen und konser­va­tiven Gegen­nar­ra­tiven, das Hirn­ge­spinst einiger weniger intel­lek­tu­eller Träumer. Die Keim­zellen der Bewe­gung bestanden aus wandernden Hand­wer­kern, die sich mit im Vormärz radi­ka­li­sierten Intel­lek­tu­ellen zusam­men­taten. Letz­tere, nicht zuletzt Marx selbst, wurden zwar zu zentralen Theo­re­ti­kern der Bewe­gung, aber viele der Führungs­ge­stalten, die sich durch poli­ti­schen Akti­vismus einen Namen machten, entsprangen eben­jenem Hand­wer­ker­mi­lieu: Der Schneider Wilhelm Weit­ling, der Buch­binder Hermann Greu­lich, der Drechsler August Bebel und viele andere.

„Arbeiter-Jugend! Wissen ist Macht!“ –
Der Ausflug einer Jugend­gruppe und eine Lehr­ver­an­stal­tung werden um 1905 auf dieser Post­karte mit dem Eichen­kranz und Schleife verbunden. Quelle: ADS; www.fes.de

Die gerade aufkom­mende Indus­trie­ar­bei­ter­schaft war zunächst weniger Subjekt der Bewe­gung als viel­mehr Objekt ihrer Fürsorge. Der „Arbeiter“ war – als Indi­vi­duum – Gegen­stand einer soli­da­ri­schen Pädagogik. Soli­da­risch deswegen (und dies wider­spricht dem gern von rechts bemühten Bild einer bevor­mun­denden Linken), weil Bildung der Selbst­er­mäch­ti­gung diente. Bildung sollte es Arbei­tern ermög­li­chen, sowohl Anschluss an die bürger­liche Gesell­schaft zu finden als auch eine eigene Kultur aufzu­bauen, die der bürger­li­chen über­legen sein sollte. Die Arbei­ter­be­we­gung bot sowohl eine Gegen­kultur als auch ein Vehikel zum sozialen Aufstieg – ein Doppel­cha­rakter, in dem die gesamte Diskus­sion um „Radi­ka­lismus“ und „Refor­mismus“ ange­legt war.

Die Utopien, von denen sich die unter­schied­li­chen Frak­tionen der Arbei­ter­be­we­gung leiten ließen, konnten stark diver­gieren. Was sie in ihrer poli­ti­schen Praxis aber einte, war das Streben nach Bildung und Selbst­bil­dung. Nicht umsonst waren die Arbei­ter­ver­eine, die deut­sche Hand­werks­ge­sellen ab den 1840er Jahren in ganz Europa etablierten, in erster Linie Arbeiterbildungsvereine, in denen, wie im Zürcher Arbei­ter­verein „Eintracht“, der Schwer­punkt weniger auf ideo­lo­gi­scher Schu­lung denn auf allge­meiner Bildung bzw. zunächst einmal auf Alpha­be­ti­sie­rung lag. Und wenn auch solche Vereine Horte der Männer­ge­sel­lig­keit darstellten, in denen geschlechts­exklusiv dem Bier­konsum gefrönt wurde, so war es trotzdem das Streben nach Bildung, das diese Gesel­lig­keit rahmte.

Wer sich die histo­ri­sche Linke in der longue durée anschaut, wird vermut­lich fest­stellen, dass die mit Bildung verbun­denen Prak­tiken in einem solchen Längs­schnitt mindes­tens genauso viel Platz einnehmen wie unmit­telbar poli­ti­sche Akti­vi­täten. Dies zieht sich durch alle Länder und Frak­tionen der Bewe­gung. Spani­sche Anar­chisten etablierten reform­päd­ago­gi­sche Schulen in den Dörfern; der Jüdi­sche Arbei­ter­bund spannte überall da, wo seine Akti­visten wirkten, von Polen bis Argen­ti­nien, Netze von säkular-jüdischen Schulen mit sozi­al­de­mo­kra­ti­schem Bildungs­pro­gramm auf; und die deut­schen und öster­rei­chi­schen Sozi­al­de­mo­kra­tien kreierten ein ganzes Organisationen-Universum, das dem Partei­gänger eine bildungs­zen­trierte Lebens­welt „von der Wiege bis zur Bahre“ bot.

Warum ist dies rele­vant? Es zeigt, dass die histo­ri­sche Linke „den Arbeiter“ nicht so genommen hat, wie er ist, nicht bloß seine Wut kana­li­sierte, sich nicht zum Sprach­rohr der „kleinen Leute“ machte. Im Gegen­teil ging es stets darum, den Arbeiter über seine Lage hinaus empor­zu­heben, ihn zu einer bewussten, die Welt nach­voll­zie­henden Persön­lich­keit zu machen. Der „Neue Mensch“, der in der Arbei­ter­be­we­gung immer wieder zur Sprache kam, sollte nicht durch Zucht und Auslese entstehen, sondern durch Arbeit am Selbst und aneinander.

Tafel am ehema­ligen Haus des deut­schen Arbei­ter­bil­dungs­ver­eins Eintracht in Zürich, Neumarkt 5. Heute befindet sich das Theater am Neumarkt in diesem Haus., Quelle: Wikipedia

Ausge­hend von diesem Fokus auf die Indi­vi­duen, aus denen sich erst das kämp­fende Kollek­tiv­sub­jekt formen sollte, ergab sich für die Arbei­ter­be­we­gungs­linke eine grund­sätz­liche stra­te­gi­sche Prämisse: Das „Volk“ hatte nicht als Legi­ti­ma­ti­ons­ob­jekt für die eigene Politik zu dienen, sondern es sollte im Gegen­teil die ganze Politik darauf ausge­richtet sein, jenem „Volk“ zur poli­ti­schen Mündig­keit zu verhelfen. Erst wenn die Mehr­heit „bewusst“ sei, könne sie auch zur domi­nanten schöp­fe­ri­schen Kraft in einem Staats­wesen werden. Zwar hatte diese Prämisse auch die Schat­ten­seite des Atten­tismus der euro­päi­schen Sozi­al­de­mo­kratie, ihres Selbst­ver­ständ­nisses als „eine revo­lu­tio­näre, nicht aber eine Revo­lu­tionen machende Partei“, wie Karl Kautsky formu­lierte. Doch auch der linke Flügel, der sehr wohl „Revo­lu­tion machen“ wollte, pochte wie Rosa Luxem­burg darauf, man werde „nie anders die Regie­rungs­ge­walt über­nehmen als durch den klaren, unzwei­deu­tigen Willen der großen Mehr­heit der prole­ta­ri­schen Masse in Deutsch­land, nie anders als kraft ihrer bewussten Zustim­mung zu [unseren] Ansichten, Zielen und Kampf­me­thoden“. Die „bewusste Zustim­mung“ ist hier das Schlüs­sel­wort, denn diese konnte nicht anders zustande kommen als durch die Über­zeu­gung zahl­loser Indi­vi­duen von der Rich­tig­keit der eigenen Politik.

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Anti­po­pu­lis­ti­sche Avantgarde

Dass die „einfa­chen Leute“ als vermeint­liche „Helden“ der Linken von ihnen niemals als „Rassisten und Sexisten beschimpft“ worden wären, ist umso entschie­dener zurück­zu­weisen. Eben weil die Linke den Arbeiter nicht einfach so, mit all seinen Vorur­teilen, hinnahm, war der Kampf gegen solche Vorur­teile ein zentrales Anliegen. Dabei setzte sich die Linke auch für Anliegen ein, die keines­wegs populär waren. Die Linke trat damit dezi­diert anti­po­pu­lis­tisch auf, d.h. sie schöpfte die Begrün­dung für ihre Posi­tio­nie­rungen und Aktionen nicht aus der Imagi­na­tion einer stati­schen und homo­genen „Volks­masse“, sondern posi­tio­nierte sich aus Über­zeu­gung für mitunter nicht mehr­heits­fä­hige Anliegen – auch unter der Gefahr, ihre eigenen Partei­gänger vor den Kopf zu stoßen.

Besuch des Partei­vor­standes im Jahr 1907 bei der Reichs­par­tei­schule der SPD. Dozentin Rosa Luxem­burg (stehend vierte von links). August Bebel (stehend fünfter von links), Fried­rich Ebert (links in der 3. Bank der rechten Bank­reihe), Quelle: Wikipedia

Ein bekanntes Beispiel ist der Einsatz der Arbei­ter­be­we­gung für Frau­en­rechte; keines­wegs vorbe­haltlos und von Anfang an, jedoch lange vor dem Konsens der bürger­li­chen Gesell­schaft in dieser Frage. Als Bebel 1879 „Die Frau und der Sozia­lismus“ publi­zierte, war die darin gefor­derte Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlechter im Arbei­ter­mi­lieu alles andere als veran­kert – dennoch wurde das Buch, auch kraft der Auto­rität des Verfas­sers in der Bewe­gung, euro­pa­weit zur Stan­dard­lek­türe der Akti­visten an der Basis. Weniger bekannt ist, dass Bebel 1898 öffent­lich für die Abschaf­fung des § 175 eintrat, der homo­se­xu­elle Bezie­hungen krimi­na­li­sierte. Mit diesem abso­luten Tabu­thema, auch (und gerade) in der Arbei­ter­schaft, hatte Bebel nichts zu gewinnen. Im Gegen­teil rückte er das Anliegen einer gesell­schaft­li­chen Minder­heit ins Licht der Öffent­lich­keit, auch auf die Gefahr hin, die Klientel seiner Partei zu brüs­kieren. Ein anderes Beispiel für das Aufgreifen „unpo­pu­lärer“ Themen durch die Linke ist der Anti­se­mi­tismus in der russi­schen Revo­lu­tion: Es waren v.a. Arbei­ter­be­we­gungs­or­ga­ni­sa­tionen, die zwischen Februar und Oktober 1917 Anti­se­mi­tismus und Pogrome bekämpften und sich nicht davor scheuten, Juden­feind­schaft auch in den „breiten Massen“ zu thematisieren.

Linker Popu­lismus

Bereits 1914 hatte der Erste Welt­krieg die Verhält­nisse in der Sozi­al­de­mo­kratie neu gemischt. In der Frage, ob man sich als Bewe­gung dem „Volk“ fügt oder es im Namen der für richtig gehal­tenen Politik vor den Kopf zu stoßen traut, hatte die Mehr­heit der euro­päi­schen Sozi­al­de­mo­kratie mit ihrer Zustim­mung zu den Kriegs­kre­diten und zur Landes­ver­tei­di­gung eine de facto popu­lis­ti­sche Posi­tion einge­nommen. Die linke Minder­heit hingegen blieb anti­po­pu­lis­tisch – und nahm ihre eigene Margi­na­li­sie­rung in Kauf, zumin­dest bis sich die breite Stim­mung zuun­gunsten des Krieges drehen sollte.

Entwurf eines Gebäudes für eine Lese­hütte, izba-chital’nja von 1925, Zeich­nung von A. Lavin­skij (Vchu­temas), Quelle: tehne.com

Dann wiederum waren es jedoch die Bolsche­wiki als Anti-Kriegs-Fraktion der russi­schen Sozi­al­de­mo­kratie, die im November 1917 für einen linken Popu­lismus optierten, indem sie sich entschieden, die Macht der Räte auszu­rufen, um sie realiter durch die Macht der Partei zu ersetzen. Wenn­gleich die Bolsche­wiki im Verlauf des Revo­lu­ti­ons­jahres zu einer mäch­tigen Bewe­gung ange­wachsen waren, wussten sie keines­wegs die „bewusste Zustim­mung“ der Mehr­heit auf ihrer Seite. Doch erfolgte ihr Griff zur Macht genauso wie das Ausein­an­der­jagen der Konsti­tu­ie­renden Versamm­lung mit der Begrün­dung, den Willen jener Mehr­heit umzu­setzen. Die im sowje­ti­schen Diskurs kano­ni­sierte Szene, in der ein Matrose die disku­tie­renden, mehr­heit­lich dem linken Partei­en­spek­trum zuge­hö­rigen Abge­ord­neten mit den Worten „Die Wache ist müde“ barsch zum Nach-Hause-Gehen auffor­dert, weist eine gewisse Nähe zum aktu­ellen rechts­po­pu­lis­ti­schen Diskurs vom „einfa­chen Volk“ auf, das der „linken Eliten“ über­drüssig sei. Es ist auch bezeich­nend, dass die bolsche­wi­ki­sche Führung im ersten Jahr des Bürger­kriegs von jüdi­schen Genossen dazu ange­halten werden musste, gegen den Anti­se­mi­tismus inner­halb der eigenen Armee vorzu­gehen – ihr war es zunächst, wie dem von Somm imagi­nierten Pinkus, in der Tat „nicht einge­fallen“, die „kleinen Leute“ unter ihren Partei­gän­gern „als Rassisten … zu beschimpfen“, da Anti­se­mi­tismus in den Augen der Bolsche­wiki primär in den Reihen der Konter­re­vo­lu­tion existierte.

Dennoch verab­schie­deten sich die Kommu­nisten nicht sofort vom ‚Neuen Menschen‘ als indi­vi­du­ellem Bildungs­pro­jekt – ganz im Gegen­teil. Bis in die zweite Hälfte der 1920er Jahre unter­nahm die Partei gewal­tige Anstren­gungen, um ihre keines­wegs popu­la­ri­täts­hei­schenden Maßnahmen, etwa die Auswei­tung der Frau­en­rechte, aber auch die Soli­da­rität mit den Revo­lu­tionen im Ausland, für die Bevöl­ke­rung rational nach­voll­ziehbar zu machen. Die Agitprop-Apparate hämmerten nicht bloß Parolen in die Köpfe der Menschen, sondern versuchten sie auch mithilfe von Logik und Fakten davon zu über­zeugen, warum man die Ehefrau nicht mehr schlagen solle oder sich für einen Arbei­ter­streik in Wales zu inter­es­sieren habe.

Plakat von A. Radakov (1920) im Stil des russi­schen Lubok: „Der Analphabet ist wie der Blinde: Überall erwartet ihn Miss­erfolg und Unglück“, Quelle: redavantgarde.com

Die endgül­tige Wende hin zum Popu­lismus fand unter Stalin statt, als zum einen der Diskurs von „Klasse“ auf „(Sowjet-)Volk“ umschwenkte, zum anderen die früh­so­wje­ti­schen minder­hei­ten­po­li­ti­schen Errun­gen­schaften mit dem Argu­ment des „gesunden Volks­emp­fin­dens“ rück­gängig gemacht wurden, und schließ­lich die Mehr­heit der Bildungs­pro­jekte der 1920er Jahre einge­rollt wurden. Das Bild von der Selbst­trans­for­ma­tion zum „Neuen Menschen“ wurde weiterhin von der Propa­ganda aufrecht­erhalten, doch ging es dabei noch weniger als vorher um eine umfas­sende Persön­lich­keits­ent­wick­lung, sondern um die bedin­gungs­lose Einord­nung ins mono­li­thi­sche Projekt des Stali­nismus. Die „Massen“ verkamen dabei zu mobi­li­sier­baren Statisten, die ihre Stimmen jedem Unter­fangen des Regimes zu leihen hatten – bis hin zur Beju­be­lung der Schau­pro­zesse im Großen Terror, die bekannt­lich mit Appellen „einfa­cher“ Arbeiter und Bäue­rinnen medial unter­legt wurden, mit den (zumeist intel­lek­tu­ellen) „Verrä­tern“ kurzen Prozess zu machen.

Gegen das Verste­cken hinter dem Rücken der „kleinen Leute“

Es ist genau jene Eigen­schaft, in der die Rechte die „kleinen Leute“ benö­tigt – als Mobilisierungs- und Akkla­ma­ti­ons­masse, deren Ressen­ti­ments nicht etwa durch Aufklä­rung und Bildung ausge­räumt, sondern im Gegen­teil gepflegt und verstärkt werden sollen. So konnte selbst Donald Trump seine Präsi­dent­schafts­kan­di­datur im Namen der „Arbei­ter­klasse“ anpreisen und zugleich keinen Hehl aus seiner Aver­sion gegen Bildung und Intel­lek­tu­elle machen. Denn diese von der Rechten für sich bean­spruchte „Arbei­ter­klasse“ soll nicht durch Bildung zur Selbst­re­fle­xion gelangen, da sie dann womög­lich nicht mehr als Jubel­masse zur Verfü­gung stünde. Der „kleine Mann“ soll sich bloß nicht in einen fragen­stel­lenden „lesenden Arbeiter“ im Brecht­schen Sinne verwandeln.

Es sind also die Rechten, denen es nicht „einfällt, die Arbeiter und kleinen Ange­stellten von Wollis­hofen als Sexisten und Rassisten zu beschimpfen“ – aber nicht etwa, weil diese „ihre Helden“ sind, sondern weil sie aus Unwissen und Ressen­ti­ment poli­ti­sches Kapital schlagen. Pinkus sah sich als Verfechter von Wissen und Bildung kaum in der Tradi­tion des stali­nis­ti­schen Popu­lismus, sondern der soli­da­ri­schen Pädagogik der Arbei­ter­be­we­gung: Er hätte die „Arbeiter“ viel­leicht nicht „beschimpft“, aber alles dafür getan, dass sie aufhören mögen, Sexisten und Rassisten zu sein – was allemal schwerer ist, als den eigenen Rassismus und Sexismus hinter demje­nigen der „einfa­chen Menschen“ zu verste­cken. Dass die heutige Linke sich dieser Heraus­for­de­rung nicht mehr in gebüh­rendem Umfang zu stellen bereit ist, steht frei­lich auf einem anderen Blatt.