Es gab Momente in den letzten Tagen, da musste ich mich versichern, dass da draussen eine materielle Welt existiert, in der die Dinge oft langsam vor sich gehen, nur mühsam zu verändern sind und Zeit brauchen. Dass es tatsächlich historische Prozesse gibt, die nicht innerhalb eines news-cycle von 24 Stunden abgeschlossen sind. Oder innert 24 Tagen, wie die Amtszeit von National Security Adviser Michael Flynn – oder in 24 Wochen (so lange noch!), bis die Zustimmungsrate für Donald Trump auf 0% gefallen sein dürfte, wie der New York Times-Kolumnist Nicholas Kristof ironisch kalkulierte.
Beschleunigung
Unser Mediensystem ist so schnell geworden, dass man sich folgende Geschichte kaum noch vorstellen kann: Als sich im sogenannten „Deutschen Herbst“ 1977, nach einer Reihe von tödlichen Attentaten der Roten Armee Fraktion (RAF), die Ereignisse mit der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hans-Martin Schleyer auch medial überschlugen, schrieb die ZEIT-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff, sie sei während ihres Urlaubs in Süditalien darauf angewiesen, „Bruchstücke von Informationen einem klappernden Radio oder hier zufällig hergelangenden Zeitungen zu entnehmen“, weshalb sie „nicht voll im Bilde und überdies total isoliert von der allgemeinen Stimmungslage sei“. Die RAF selbst beherrschte zwar die öffentlichen Kommunikationskanäle perfekt, und hatte sogar die damals noch ganz jungen Medien Polaroid-Fotografie und VHS-Video für ihre „Erklärungen“ an die Regierung eingesetzt. Aber die gewöhnlichen Medienkonsumenten konnten nur Radio hören, auf die Tagesschau warten oder am nächsten Tag die Zeitung kaufen, wenn sie auf dem Laufenden bleiben wollten. Vielleicht schrieben sie dann einen Leserbrief.
Sofortbild-Kameras und VHS sind als nicht-digitale Medien längst wieder verschwunden, der technologische Wandel seither war radikal. Die News-Zyklen haben sich in atemberaubender Weise beschleunigt, und mit der Präsidentschaft eines eifrigen Twitter-Users sind die Neuen Medien endgültig im Zentrum der Macht angekommen. Zwar hatte auch Obama schon einen Twitter-Account, aber erst Trump nutzt den Kurznachrichtendienst ganz unmittelbar als primäres Kommunikations-, ja als Machtinstrument. Was er seiner politischen Umgebung, „den Medien“, Mexiko oder einem CEO zu sagen hat, wissen gleichzeitig auch seine 25 Millionen Followers.
Auffallend ist dabei nicht nur das Tempo. Diese Kommunikationsstrategie zielt offenkundig auf die Umgehung der komplizierten Transmissionsmechaniken zwischen Präsident, Kongress, Behörden und Öffentlichkeit (also das, was Trump im Wahlkampf verächtlich den „swamp“ nannte). Und sie zielt auf die Umgehung der kritischen Funktion der traditionellen, angeblich „dishonest“ und „failing“ Medien. Das ist fraglos eine klassisch populistische Strategie. Sie ist in gefährlicher Weise dazu geeignet, das politische System in den Autoritarismus zu führen.
Kopplungen
Allein, wir leben nicht mehr im 20. Jahrhundert, in dem es zu den weitestgehend „unidirektionalen“ Massenmedien keine Alternative gab. Ein twitternder Präsident ist auch nur einer unter Millionen anderen. Einer, der mit all seinen 140-Zeichen-Peinlichkeiten wie der Kaiser ohne Kleider vor der Weltöffentlichkeit steht und daher nicht nur die Zustimmung der Fans erntet, sondern auch Hohn, Spott und scharfe Kritik der Gegner, die den Präsidenten in Tweets und Facebook-Posts mit jenen Fakten konfrontieren, von denen sie als Zeitungsleser und News-Konsumentinnen aus den ‚alten’ Massenmedien wissen.
Das Neue ist also diese spezifische Koppelung der Medien, wie sie sich hier exemplarisch beobachten lässt: diese vielfältigen, ja millionenfachen, ständig wechselnden, volatilen, dennoch aber ‚strategischen’ Verbindungen von Neuen Medien, insbesondere von Social Media, mit traditionellen Massenmedien. Diese Koppelung – durch likes, favs, sharing, retweets und Kommentare sowie verstärkt durch Blogs und online-Plattformen – hat innert kürzester Zeit eine ganz neue Medienlandschaft und neue Mediennutzungsformen entstehen lassen. Zwar sollen die mitunter existenziellen Gefahren, die kleineren und mittleren Pressehäusern durch die Abwanderung von Werbemilliarden namentlich zu Facebook drohen, nicht schöngeredet und hier auch keine Voraussagen über die Zukunft der Medien gemacht werden. Fakt ist jedoch, dass Social Media gegenwärtig zusammen mit den ‚alten’ Massenmedien ein flexibles, sich ständig neu konfigurierendes Kommunikationsdispositiv bilden. Auf dieses stützen sich diejenigen Teile der Gesellschaft, die diesen Medien nicht mit „Lügenpresse“- und Verschwörungs-Vorwürfen begegnen, sondern die journalistische Kompetenz und die politische Funktion der ‚alten’ Medien grundsätzlich anerkennen. Diese gesellschftlichen Gruppen, und nicht nur die Trolle und FakeNews-Produzenten, haben mit den Social Media ein enorm potentes tool gewonnen: Sie können in einer neuartigen Weise Inhalte und Meinungen verstärken, die durch den redaktionellen Filter der Qualitätsmedien gingen.

Kampf um Qualitätsmedien: Tweet vom 17.2.2017; Quelle: twitter.com
Diese Koppelung muss zwar nicht immer wünschenswerte Effekte haben. So lässt Trump keine Gelegenheit aus, insbesondere CNN und andere Networks zusammen mit den überregionalen Zeitungen als „dishonest“, ja gar, wie jüngst, als „enemy of the American People“ zu geisseln – und dafür das meist ausgesprochen parteiische Netzwerk Fox News zu empfehlen. Britische Boulevard-Zeitungen oder auch ideologisch hochgerüstete Zeitschriften wie die „Weltwoche“ liessen sich ebenfalls als solche Gegenbeispiele nennen. Dennoch sind – Pressefreiheit vorausgesetzt – grosse, unabhängige Medien die beste Garantie für Informationen und Meinungen, die einem professionellen Evaluationsverfahren standgehalten haben. Was postmoderne, d.h. durch Social Media fraktionierte Gesellschaften mithin in existenzieller Weise brauchen, sind unabhängige Qualitätsmedien wie die grossen TV-Networks bzw. -Anstalten sowie Presseorgane wie Washington Post, die New York Times, DIE ZEIT oder Der Spiegel, Le Monde, die FAZ oder die NZZ, La Repubblica oder El País. Trotz der politischen Unterschiede ihrer redaktionellen Linien zeichnen sie sich alle durch die Einhaltung ethischer Standards und die Verteidigung demokratischer Institutionen und Verfahren aus. Sie dienen daher, wie niemand und nichts sonst, als gemeinsame Referenz für den Bezug auf die Welt und die Wirklichkeit. Ob dies öffentlich-rechtliche oder private Medienanbieter sind, ist nicht entscheidend (es sei denn, die Qualität lässt sich, wie nachweislich auf einem so kleinen Fernseh-Markt wie der Schweiz, nur durch öffentliche Medien garantieren). Die Washington Post ist dafür ein aufsehenerregendes Beispiel: 2013 von Amazon-Gründer Jeff Bezos gekauft, wurde die Zeitung nicht etwa ausgeweidet und dann wieder auf der Schlachtbank des Infotainment-Marktes an den Meistbietenden verhökert, sondern von Bezos bewusst als unabhängiges Qualitätsmedium ausgebaut.
Journalismus
Entscheidend ist: Nur eine solche Zeitung ist fähig, Dutzende von Journalistinnen und Journalisten darauf anzusetzen, in kürzester Frist so viele unzufriedene oder besorgte Quellen im Regierungsapparat und in den Geheimdiensten anzuzapfen, um den traditionell mächtigen National Security Adviser des Präsidenten einer Lüge überführen zu können. Das schaffen auch die grössten „crowds“ auf Twitter und Facebook nicht. Aber wenn diese Presseberichte über Social Media „viral gehen“, entfalten sie eine neuartige Durchschlagskraft. Die traditionellen Medien sind daher in der Koppelung mit den mobilen, ja überaus volatilen Usern von Social Media nicht schwächer, sondern eher stärker geworden. Und sicher auch stärker geworden sind jene Teile der Zivilgesellschaft, die den ‚alten’ Medien nicht den Rücken gekehrt haben und journalistischer Recherche weiterhin vertrauen. In den USA führen sie gegenwärtig vor, wie eine kritische, informierte und aktive Öffentlichkeit sich mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg gegen die geballte Macht des Präsidenten, der Republikanischen Partei und ihrer medien- und „Eliten“-feindlichen Basis stellen kann. Es ist kein Zufall, dass die New York Times letzthin innerhalb einer einzigen Woche 41.000 Abonnements hinzugewonnen hat. Man hat zumindest in dieser Hinsicht Grund, ein klein wenig optimistisch zu sein.