Die Meldungen waren aufsehenerregend: Sowohl die Financial Times wie auch der Gründer des Davoser Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, sprachen neben vielen anderen davon, dass die Tage des Neoliberalismus als große wirtschafts- und gesellschaftspolitische Leitlinie mit weltweiter Wirkung gezählt seien. Die Corona-Krise, aber auch die drohende Klimakatastrophe hätten gezeigt, dass „die Märkte“ nicht alle Probleme das Planeten und der auf ihm lebenden Gesellschaften lösen können. Das Corona-Virus führe gerade drastisch vor Augen, dass ein auf Effizienz und Profitabilität getrimmtes Gesundheitswesen zu wenig Ressourcen, Personal und Redundanzen bereithält, um im Fall einer Pandemie nicht an den Rand des Zusammenbruchs oder darüber hinaus gedrängt zu werden. Zudem habe die neoliberale Globalisierung nicht nur das Migrationsproblem verschärft, sondern auch die gefährliche Verletzlichkeit zu langer, weltumspannender Lieferketten gezeigt. Mehr Regionalismus tue not. Aber auch im Innern der Gesellschaften habe die neoliberale Reduktion von staatlichen Transferleistungen und Regulierungen und die damit verbundene Explosion des Reichtums einiger Weniger zulasten der Vielen populistische Gegenreaktionen provoziert, die nichts weniger als die Demokratie als Staatsform gefährden.
Ist der Neoliberalismus am Ende?
Ist der Neoliberalismus also am Ende? Man wird sehen. Denn ganz abgesehen davon, dass mit all diesen vielen Meldungen und Stellungnahmen noch kaum klar wird, was „der Neoliberalismus“ genau sei, ist immerhin gewiss, dass man ihn wohl nicht so einfach wieder abschalten könnte wie einen Kühlschrank, der sich nicht mehr regulieren lässt. Denn erstens zeigten die Wahlen in den USA gerade, dass sich dort fast die Hälfte der Wählenden, darunter auch Millionen von Benachteiligten, für eine Politik gewinnen lassen, deren wichtigste Errungenschaft eine massive Steuerreduktion für die Reichen und Superreichen war, und die den Abbau staatlicher Leistungen und Regulierungen zum Schutz der Schwachen und der Natur laufend vorantrieb. Mit anderen Worten – und abgesehen davon, dass es „den“ Neoliberalismus nicht gibt, wie die anti-globalistische Politik Trumps zeigte –: Neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik wird durch mächtige Interessengruppen gestützt, die jetzt nicht einfach ein Einsehen haben.
Zweitens sind viele Elemente des Neoliberalismus auch ein akzeptierter, ja selbstverständlicher Teil unserer Realität geworden. Es gibt keine grundsätzliche Alternative mehr zu Gesellschaften, die in überwiegender Weise als Marktgesellschaften funktionieren. Es gibt vor allem seit den 1970er Jahren eine zumindest teilweise inhaltliche Kongruenz in der Freiheitsrhetorik der neoliberalen Theoretiker (es waren weit überwiegend Männer) beziehungsweise Politiker:innen (die Rede ist von Margaret Thatcher) auf der einen Seite und vieler linker, autonomer und queerer Gruppen und Bewegungen auf der anderen. Der Feind beider war der mächtige Staat, das bürokratische Monster, der kalte Apparat. Das Ziel beider war ein selbstbestimmtes Leben ohne allzu viel Rücksicht auf Normen, Zwänge und Konventionen der Massen- und Sozialstaatsgesellschaften, wie sie in zumindest ähnlicher Weise von beiden Seiten für ihren Konformitätsdruck kritisiert wurden.
Und drittens haben die Neoliberalen, wie insbesondere der amerikanische Wirtschaftshistoriker Quinn Slobodian jüngst in einer beeindruckenden Studie gezeigt hat, als „Globalisten“ – so auch der Titel des Buches – seit dem Ende des Ersten (!) Weltkriegs an einem Rahmen für den Welthandel gearbeitet, der sich bis heute in Tausenden von Verträgen und rechtlichen Regelungen verdichtet und konkretisiert hat. Lange Jahrzehnte eher als Theoretiker, ab den 1970er Jahren aber auch als einflussreiche wirtschaftspolitische Berater und Experten auf der Ebene internationaler Organisationen tätig, propagierten die Globalisten eine juridische Struktur für die Weltwirtschaft, in der das Privatkapital barrierefrei zirkulieren können sollte. Das heißt, das Kapital sollte sich auf der Suche nach profitablen Investitionsmöglichkeiten ebenso ungehindert international bewegen können wie in den Kolonialreichen und Imperien des 19. Jahrhunderts, die mit dem Ersten Weltkrieg entweder schon zusammengebrochen waren oder sich mit ihrem unvermeidlichen Ende konfrontiert sahen. Das zu diesem Zweck schrittweise dichte Geflecht von Verträgen und Regelungen, die ab dann etwa den 1980er Jahren nicht nur die Liberalisierung des Kapitalverkehrs ermöglichten, sondern auch den Aufbau globaler Lieferketten für alles und jedes, wird kaum so schnell einer gesellschaftlichen Stimmungsschwankung weichen.
Die paradoxe Rolle des Staates
Dennoch ist es notwendig, sich in dieser Situation, in der immerhin ein Stück weit ein wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Strategiewechsel möglich und auch nötig scheint, genauer zu verstehen, was „Neoliberalismus“ jenseits des allzu beliebig gewordenen Schlagwortes bedeutet. Die erste Beobachtung kann vom eben erwähnten Buch von Quinn Slobodian ausgehen: Neoliberalismus ist nicht die Abwesenheit von Regelungen und bedeutet auch nicht die Abwesenheit des Staates. Die Ökonomen, die sich seit einem einflussreichen Kolloquium 1938 in Paris auf eine Reform des damals von links wie von rechts geschmähten Laissez faire-Liberalismus des 19. Jahrhunderts verständigten und nun eben von „Neoliberalismus“ sprachen, konstruierten ihr Programm grob gesagt über zwei Problemwahrnehmungen: Zum einen sahen sie das Problem des „alten“ Liberalismus darin, dass der Staat zu wenig regulierte – und zum andern das Problem des Sozialismus, dass der Staat alles regulieren wolle. Ihnen ging es darum, dass der Staat den Markt „einhegen“, das heißt durch Regeln und Gesetze schützen und so das gleichsam natürliche Funktionieren des Preismechanismus, des freien Spiels von Angebot und Nachfrage, sicherstellen soll. Keinesfalls aber solle der Staat in politischer, etwa verteilungspolitischer Absicht oder gar, um die Produktion zu steuern, selbst in den Markt eingreifen.
Was das bedeutet und warum die Neoliberalen diese paradoxe Rolle für den Staat entwarfen, lässt sich sehr gut an der wirtschaftspolitischen oder auch, wenn man so will, wirtschaftsphilosophischen Theorie des überaus einflussreichen österreichisch-britischen Neoliberalen und Nobelpreisträgers von 1974, Friedrich August von Hayek, zeigen. Hayeks Hauptargument lautete: Der zentrale (staatliche) Planer kann gar nicht wissen, was er wissen müsste, um planen zu können. Es war ein klassisches Argument, das schon die liberalen Ökonomen des 18. und 19. Jahrhunderts vorgebracht haben: Der Staat kann gar nicht genug Wissen über die Wirtschaft, über die vielen Produzenten und Konsumenten und alle verwickelten Bedingungen ihrer Aktivitäten haben, um zum Beispiel die Kornpreise so festzusetzen, dass genügen Korn produziert wird, es in den Handel kommt und die Konsument:innen auch günstiges Brot kaufen können. Das könne allein der Markt regeln.
Hayek hat diesen grundsätzlichen Vorbehalt gegen die staatliche „Prätention zu wissen“ – so der Titel seiner Nobelpreisrede – im Stil der Zeit kybernetisch gefasst: Der Markt sei ein großer Computer, der eine unüberschaubare Zahl von Einzelinformationen verarbeite und den einzelnen wirtschaftlichen Akteuren, ob Produzenten oder Konsumenten, allein über das „Preissignal“ anzeige, was sie zu tun haben. Alles, was der Staat daher tun müsse, sei, wie gesagt, sicherzustellen, dass der „Computer“ funktioniert, dass der Markt die richtigen Preissignale produzieren kann.
Die mit diesem an sich gut nachvollziehbaren Argument verbundenen Probleme zumindest der Hayekschen Vision einer vollständig „liberalen“ Gesellschaft sind allerdings unübersehbar. Denn Hayek leitete aus seiner Beschreibung des Preismechanismus ab, dass dieser und damit der freie wirtschaftliche Austausch im Wesentlichen die einzige Form sei, wie moderne „Großgesellschaften“ zusammengehalten werden: als ein Resultat der Vernetzungseffekte des Marktes – und nicht etwa durch einen gemeinsam formulierten politischen Willen, der sich zum Beispiel vom Gedanken der Verteilungsgerechtigkeit leiten lässt. Das ist ein zentraler Punkt. Das Politische durfte laut Hayek auf keinen Fall über den Schutz des Marktes hinaus Gestaltungskraft erlangen, denn über den Hebel der politischen Partizipation würden sich Sonderinteressen und Gruppenegoismen ungerechtfertigte, das heißt nicht über den Markt geregelte Anteile am Sozialprodukt aneignen. Es gab für Hayek neben dem alles bestimmenden Preismechanismus daher nur eine einzige Rahmenbedingung, die nicht marktförmig war, nämlich die „rule of law“, das heißt die gemeinsame Anerkennung der Herrschaft des Rechts, der basalen rechtlichen Grundsätze und Regeln, auf deren Basis ein Staat auch Gesetze zum Schutz des Marktes und des Privateigentums erlassen könne.
Die „rule of law“
Diese „rule of law“ als solche müsse allerdings ebenfalls dem politischen Willen, dem politischen Gestalten entzogen bleiben: Hayek verstand sie als einen Traditionsbestand, der spätestens seit dem 17. Jahrhundert das Rechtsgefühl steuert, das heißt den fundamentalen Wert der persönlichen Freiheit und des Privateigentums garantiere. Diese grundlegenden Werte – die Neoliberalen sprechen gerne von „Menschenrechten“, von „human rights“, wie die Philosophin Jessica White gezeigt hat – könnten nun, so Hayek, nicht durch eine moderne Verfassung „konstruiert“ werden, sondern sie seien als Tradition das, was als unveränderliche „rule of law“ eine Marktgesellschaft erst ermögliche.
Abgesehen davon, dass mit dieser Idee einer selbstverständlichen Anerkennung der traditionellen „rule of law“ de facto immer schon ein über Besitz, Geschlecht und Hautfarbe homogenisiertes „Wir“ derjenigen vorausgesetzt wurde, die diese Anerkennung teilen, bestand die unmittelbare politische Konsequenz dieser Konstruktion darin, dass Hayek die Demokratie als Regierungsform weitgehend ablehnte. Sein Neoliberalismus konnte unverhüllt autoritär werden. So schrieb er 1977, kurz vor seinem Besuch im Chile Pinochets, „dass ich eine beschränkt nicht-demokratische Regierung einer unbeschränkten demokratischen […] vorziehe“. Denn letztere, konkret die parlamentarische Demokratie, würde, getrieben von den Umverteilungsgelüsten all jener, denen sie Mitsprache ermöglichte, „jede beliebige Frage zum Gegenstand von Regierungsmaßnahmen machen“ – das heißt die ökonomischen Aktivitäten und Interessen der Einzelnen in grenzenloser Weise dem Regieren unterwerfen. Sie würde dadurch „totalitär“, was Hayek gleichermaßen der Sowjetunion, der Regierung Allende in Chile wie auch, in der Tendenz, der europäischen Sozialdemokratie vorwarf. „Linksextrem“ begann in dieser Logik schon bei Willy Brandt.
Die Unverzichtbarkeit des Politischen
Die Lehre, die sich aus einem solchen hier nur äußerst knapp und bruchstückhaft skizzierten Rückblick ziehen lässt, ist im Grunde einfach: Ja, Märkte sind oft die effizientesten Allokationsmechanismen knapper Güter, und ja, man hat allen Grund, allzu viel staatliche Macht zurückzuweisen. 1978 nannte Michel Foucault „Kritik“ an der zu großen Macht des Staates die Haltung zu fordern, „dass man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird – dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird“. Wir möchten tatsächlich nicht in einem zentralisierten Planungsstaat leben – wir müssen einer Regierung gegenüber „nein“ sagen können und wünschen uns rechtliche Strukturen, die ihre Macht in Schranken halten.
Aber die These Hayeks und der Neoliberalen, dass es über die Sicherung der persönlichen Freiheit und des Privateigentums hinaus keine weiteren Ziele und Werte geben könne, die eine Gesellschaft in der Regelung ihrer Angelegenheiten verfolgen kann, ohne dadurch den Markt und damit die Grundlage des Wohlstandes zu zerstören, ist ebenso falsch wie unplausibel. Denn offensichtlich ist der Markt keine unberührte Natur, die, unter Schutz gestellt, ihre Früchte freigiebig an die Tüchtigsten verteilt, sondern eine sehr menschliche, nur durch Gesetze und Regelungen zum Funktionieren zu bringende Einrichtung. Wenn „rule of law“ heißt, dass z.B. Regeln für alle gelten sollen, können auch Umweltschutzmaßnahmen oder Sozialstandards für alle gelten, ohne den Markt zu „verzerren“. Das heißt, man kann die Existenz von Märkten dort, wo sie produktiv sind, mit der politisch ausgehandelten Orientierung an Zielen und Werten verbinden, die dem Markt als solchem nicht inhärent sind und die auch nicht per se mit dem Eigeninteresse aller Marktteilnehmer kongruent sind. Aus der Perspektive einer strikt marktwirtschaftlichen Logik kann es zwar tatsächlich kostspielig und geradezu ärgerlich ineffizient sein, im Gesundheitswesen zu große Kapazitäten sowie mehr als genug – und überdies gut bezahltes – Personal zu finanzieren. Aber wenn „der Markt“ nicht mit einer Pandemie rechnen kann, ist er offenbar doch nicht die beste aller informationsverarbeitenden Maschinen, die die Menschheit ersonnen hat.