Um die Klimakatastrophe abzuwenden, braucht es politische Maßnahmen – und darüber hinaus ein grundlegend anderes Verhältnis der Menschen zu den nicht-menschlichen Wesen, mit denen sie zusammenleben. Im Genre des Nature Writing entfaltet sich im besten Fall eine vielschichtige Perspektive auf die Wirklichkeit.

  • Christine Lötscher

    Christine Lötscher lehrt Populäre Literaturen und Medien mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien am ISEK - Populäre Kulturen der Universität Zürich und ist Herausgeberin von Geschichte der Gegenwart.
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Nature Writing. Wie Lite­ratur die Augen für die Welt der Tiere öffnet
/

In Brian Carters Roman A Black Fox Running (1981) voll­zieht sich das, was das Genre des Nature Writing poli­tisch macht, auf fast magi­sche Weise. Die Land­schaft des Dart­moors im südeng­li­schen Devon faltet sich langsam, von Seite zu Seite, immer mehr auf. Und dies, obwohl der Roman in medias res beginnt. Wie ein Fanta­sy­roman für Kinder setzt der Text mit einem Gespräch zwischen zwei Füchsen ein: „‚Yes, I can smell him‘, said Star­grief. The old dog fox raised his muzzle. ‚And the lurcher‘, Wulfgar said.“ Damit sind schon in den ersten kurzen Sätzen die drei radikal unter­schied­li­chen Perspek­tiven benannt, aus denen die Erfah­rung der Land­schaft für die Leser:innen im Folgenden konstru­iert wird, ohne jemals ein Ganzes zu ergeben: Fuchs, Jäger, Hund. Der Roman ermög­licht so die Erkenntnis, dass Funk­tion und Bedeu­tung der Land­schaft mit ihren Bäumen und Bächen und Höhlen für die unter­schied­li­chen Spezies unver­einbar sind, dass sie in ihrer Alltags­praxis in unter­schied­li­chen Welten leben, auch wenn ihre Fuchs- oder Jagd­hun­de­pfoten und ihre Stiefel im selben Sumpf einsinken und dieselben Steine berühren. 

Dart­moor; Quelle: moosearoundtheworld.de

Die Dartmoor-Landschaft erscheint also immer wieder anders, je nachdem, ob sie sinn­lich durch die Nase, die Ohren, die Augen und die Pfoten eines Fuchses geschil­dert wird, den Schau­platz für die Pläne eines Jägers oder für den Blut­rausch eines seiner­seits getrie­benen Jagd­hundes bildet. Der Erzähler hat glei­cher­maßen Zugang zu den Gedanken der drei Figuren, und er macht keinen Hehl daraus, dass seine Sympa­thien ganz auf der Seite der Füchse liegen. Wulfgar, so heißt der Prot­ago­nist, ist denn auch die am wenigsten beschä­digte der drei Figuren. Der Jäger war als Soldat im Krieg in Frank­reich und ist trau­ma­ti­siert; seinem Hund ist die Behand­lung durch den zornigen Meister nicht gut bekommen, und er tötet alles, was er zwischen die Zähne bekommt. Wulfgar dagegen setzt seine ganze sprich­wört­liche Intel­li­genz ein, damit die Füchse, darunter auch seine Part­nerin mit den Welpen, die Fuchs­jagden über­leben, die gera­dezu obsessiv betrieben werden. 

Dabei gelingt es Brian Carter (1937–2015), der als Natur­for­scher und Umwelt­ak­ti­vist in Devon wirkte, den Fuchs, den Jäger und den Hund mehr als Erkennt­nis­fi­guren in die Erzäh­lung zu inte­grieren als herkömm­liche Romanheld:innen. Im Vorder­grund ist immer die Land­schaft, die sich mit Licht und Wetter perma­nent ändert und auf die immer reagiert werden muss. Doch niemals erscheint sie als archai­sche Wildnis; viel­mehr entsteht sie als viel­schich­tiger Hand­lungs­raum immer wieder neu. Die einzelnen Tiere, Pflanzen, Bäche und Menschen sind nicht so wichtig, und gleich­zeitig bringt ihnen der Erzähler unend­lich viel Empa­thie entgegen. Das zeigt sich in zärt­li­chen Szenen. Etwa als Wulfgar seine ganze Kraft zusam­men­nimmt, um seiner Part­nerin den Fuß abzu­beißen, um sie aus einer Falle zu befreien. Damit verweist der Erzähler auf einen Wider­spruch im Zusam­men­leben unter­schied­lichster Wesen, der nicht aufge­löst werden kann, sondern ausge­halten werden muss. 

 Soziale Impli­ka­tionen

Dart­moor; Quelle: moosearoundtheworld.de

Das Faszi­nie­rende an Carters Roman ist nicht etwa, dass die Füchse spre­chen und sich als kluge, teil­weise sogar spiri­tu­elle Wesen erweisen – sie machen sich Gedanken über den Sinn des Lebens, über Gott und das Leben nach dem Tod. Diese Fantasy-Elemente irri­tieren eher. Doch es braucht sie, damit sich im Roman die vermeint­liche Grenze zwischen Natur und Kultur auflösen kann: die Füchse sind viel kulti­vierter als die Jäger, die gern zu tief in ihre Guinness-Gläser schauen. Solche Zuschrei­bungen sind aber nicht als Ausdruck der Verach­tung gegen­über den working class-Figuren zu verstehen, sondern viel­mehr als Kritik an der mensch­li­chen Klas­sen­ge­sell­schaft, die aus dem Krieg zurück­ge­kehrten Soldaten keine andere Option lässt, als ihre Aggres­sionen an Schwä­cheren auszu­lassen. Dass die Tiere so hemmungslos anthro­po­mor­phi­siert sind, wirkt im Roman als Verfrem­dungs­ef­fekt und betont immer wieder, dass ein nicht-menschlicher Blick nichts anderes als eine Konstruk­tion sein kann; Menschen können sich nicht in andere Wesen einfühlen. Aber dass sie sich vorstellen, wie es sein könnte, etwas anderes als ein Mensch zu sein, bringt sie dazu, genau hinzu­schauen, mehr wissen zu wollen über all das, was unter Tieren und Pflanzen geschieht. Sich darin zu üben, betont die briti­sche Autorin Helen Macdo­nald in ihrem aktu­ellen Essay­band Abend­flüge, sei eine Möglich­keit, etwas beizu­tragen zu einer der wich­tigsten Aufgaben, die im Moment anstehen: „[…] zum Finden von Möglich­keiten, Verschie­den­heit anzu­er­kennen und lieben zu lernen. Zum Versuch, die Welt mit den Augen anderer zu sehen, damit uns klar wird, dass unsere Art zu sehen nicht die einzige ist. Darüber nach­zu­denken, was es bedeuten könnte, dieje­nigen, die nicht wie wir sind, zu lieben. Sich an der Komple­xität der Dinge zu erfreuen.“

Mehr als Achtsamkeitsprosa

Wenn man Carters Roman zusammen mit Helen Macdo­nalds Essays liest, kris­tal­li­siert sich die Rele­vanz des Genres Nature Writing deut­lich heraus. Wenn wir nicht lernen, uns als Teil eines viel­fäl­tigen Ganzen zu begreifen, kann sich auch nichts an der Tren­nung von „Natur“ und „Kultur“ ändern, die letzt­lich legi­ti­miert, dass mensch­liche Gesell­schaften alles Nicht-Menschliche als verfüg­bare Rohmasse für ihre eigenen Bedürf­nisse behan­deln. Die Lite­ratur hat mit Nature Writing ein eigenes Genre hervor­ge­bracht, das sich ganz der Sensi­bi­li­sie­rung für das untrenn­bare Verfloch­ten­sein alles Leben­digen verschrieben hat. Wer Nature Writing betreibt, bildet sich keines­wegs ein, die mensch­liche Perspek­tive hinter sich lassen zu können, wie Carters Roman deut­lich zeigt. Ganz im Gegen­teil: Im Zentrum steht gerade der mensch­liche Blick auf einsame Land­schaften, aber auch auf bevöl­kerte, subur­bane oder urbane Räume, der aufmerksam wird für das Leben, das sich außer­halb der alltäg­li­chen Wahr­neh­mung abspielt. Autor:innen, die Nature Writing prak­ti­zieren, erschreiben einen Zugang zur Welt, der sich von den mensch­li­chen Alltags­prak­tiken löst und den Fokus auf alles richtet, was da auch noch ist, ohne dass ihm Bedeu­tung oder Hand­lungs­macht zuge­schrieben wird: Stadt­bäume, Schne­cken, die bei Regen über die Straße krie­chen, der Fuchs, der jede Nacht durch den Garten schnürt. 

Dart­moor; Quelle: moosearoundtheworld.de

Im deutsch­spra­chigen Raum hat Nature Writing erst in den letzten Jahren Fahrt aufge­nommen, mit Marion Posch­mann als promi­nenter Stimme; aber auch dank dem Enga­ge­ment des Verlags Matthes & Seitz, der Klas­siker und Neuerschei­nungen aus dem angel­säch­si­schen Bereich über­setzt vorlegt und mit der von Judith Schal­ansky heraus­ge­ge­benen Reihe „Natur­kunden“ einen eigenen Zugang entwi­ckelt hat. Obwohl die Texte durchaus poli­tisch sind, werden sie, in der Tradi­tion von Natur­lyrik, eher als harm­lose Acht­sam­keits­li­te­ratur rezi­piert. In Groß­bri­tan­nien dagegen, wo das Genre unter dem Label New Nature Writing schon länger äußerst erfolg­reich ist, entzünden sich daran immer wieder Debatten rund um die gesell­schaft­liche Aufgabe von Lite­ratur. Zurzeit wird darüber gestritten, inwie­fern sich das Genre aktiv gegen die Zerstö­rung des Klimas enga­gieren müsse und was es zu bedeuten habe, dass die kano­ni­schen Texte mehr­heit­lich von gut situ­ierten weißen Männern stammten – zu den Urvä­tern gehört Henry David Thoreau, der Autor von Walden (1854) – die sich das Terri­to­rium bei aller Fein­füh­lig­keit für die Schnecke am Wegrand eben doch in einem impe­ria­lis­ti­schen Aben­teu­rer­modus erschließen. 

Dabei findet gerade in den letzten Jahren eine Aneig­nung der männ­lich geprägten Aussteiger-, Wander- und Schreib­praxis durch weib­liche und nicht-weiße Autor:innen statt. Helen Macdo­nald zeigt über­zeu­gend, wie poli­tisch ein Wald­spa­zier­gang ist: je nachdem, ob wir den Wald als Well­ness­zone betrachten, die zu unserer Erho­lung da ist, oder als einen Ort mit einem Eigen­leben und einer eigenen Zeit­lich­keit. Und Mya-Rose Craig, die schon als kleines Mädchen ihre Leiden­schaft für Vögel entdeckte, stellte als Jugend­liche plötz­lich fest, dass sie als PoC (Person of Color), oder genauer und ihrer Selbst­be­zeich­nung entspre­chend, VME (visible mino­rity ethnic), unter den Naturbeobachter:innen nicht vorge­sehen war. Heute, als 19jährige, enga­giert sie sich als Klima- und Antirassismus-Aktivistin und hat sich zum Ziel gesetzt, den der Natur­lieb­ha­ber­szene inhä­renten Rassismus zu bekämpfen.

Tradi­tion der Vielfalt

Dart­moor; Quelle: moosearoundtheworld.de

Nur auf den ersten Blick erstaunt an den Texten Macdo­nalds oder Craigs, dass sie so gar keine Kampf­spuren einer Dekon­struk­tion des männ­lich geprägten Genres aufweisen. Ganz im Gegen­teil hat man als Leser:in das Gefühl, dass Nature Writing in diesen suchenden, die eigene Perspek­tive und Wahr­neh­mung ständig und lust­voll in Frage stel­lenden Texten zu sich selbst gekommen sei. Sie haben das, was Donna Haraway tenta­ku­läres Denken nennt: Es braucht unzäh­lige Tentakel, um alle Geschichten zu erzählen, die die Gegen­wart ausma­chen. Dieses Tenta­ku­läre gehört ebenso zur Tradi­tion des Nature Writing wie die Erzäh­lung vom einsamen Wanderer, der sich von der Welt zurück­zieht, um Teil der Wildnis zu werden, nur war sie bisher weniger promi­nent. Auch, weil Romane wie A Black Fox Running als Kinder­li­te­ratur behan­delt wurden. Das führte zwar dazu, dass sie nicht ernst­ge­nommen wurden (bisher gibt es keine deut­sche Über­set­zung des Romans); umge­kehrt prägte der Text eine ganze Gene­ra­tion, die jetzt selbst schreibt. Man könnte diese Tradi­ti­ons­linie imagi­na­tives Nature Writing nennen, denn anstatt auto­fik­tional von den eigenen Aben­teuern und Erfah­rungen auszu­gehen, werden Geschichten von tier­li­chen Figuren und ihrem Alltag erzählt. 

Ob diese Lite­ratur die Welt verän­dern kann? Lange glaubte niemand so recht daran. Doch nun scheint die Über­zeu­gung an Schwung zu gewinnen, dass das Erzählen die Wirk­lich­keit nicht nur hinter­fragen, anders beleuchten und reflek­tieren, sondern auch entschei­dend mitge­stalten kann. Nature Writing, vor allem in seiner imagi­na­tiven Ausprä­gung, bietet sich mit seinen viel­schichten Erzähl­weisen als ein Genre an, in dem Viel­falt gedacht werden kann. 

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

 

Brian Carter: A Black Fox Running. London: Bloomsbury 2018 [1981].

Helen Macdo­nald: Abend­flüge. Aus dem Engli­schen von Ulrike Kret­schmer, München: Hanser 2021.