Russlands Großinvasion im Februar 2022 hat einen langen Vorlauf, der tief in der russischen Geschichte wurzelt. Der Kreml beruft sich bis heute auf eine historische Vorstellung von Staatlichkeit, die eine echte Souveränität der Ukraine und von Belarus ausschließt.

  • Matthäus Wehowski

    Matthäus Wehowski hat in Tübingen und Moskau Geschichtswissenschaft und Slavistik studiert und in Tübingen promoviert. Von 2018 bis 2023 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU-Dresden. Voraussichtlich Ende 2023 erscheint das gemeinsam mit Steffen Kailitz und Sebastian Ramisch-Paul verfasste Buch „Demokratisierung an den Grenzen der Nation“ über die Staatsbildung in Ostmitteleuropa nach dem Ersten Weltkrieg.

Am 24. Mai 2023 beugten sich der russi­sche Präsi­dent Wladimir Putin und der Präsi­dent des russi­schen Verfas­sungs­ge­richts, Waleri Sorkin, über eine histo­ri­sche Karte aus dem 17. Jahr­hun­dert und disku­tierten öffent­lich über ein Thema, das mit der profes­sio­nellen Kompe­tenz beider Männer nicht viel zu tun hatte – die histo­ri­sche Exis­tenz der Ukraine. Dahinter steht keines­wegs Putins persön­liche „Beses­sen­heit“ von Geschichte, wie es etwa der Berliner Poli­tik­wis­sen­schaftler Alex­ander Libman jüngst ausge­führt hat. Tatsäch­lich gehen die Vorstel­lungen, was einen legi­timen Staat ausmacht, zwischen Russ­land und dem inter­na­tio­nalen Völker­recht bereits seit langer Zeit ausein­ander. Somit ist Russ­lands Inva­sion der Ukraine auch eine Folge histo­risch gewach­sener Gegen­sätze über die Frage von „Volks­wille“ und Nation.

Staat­lich­keiten vor dem Nationalstaat

Nachdem sich das Moskauer Fürs­tentum im Jahr 1547 zum Zaren­reich erklärte, kämpfte es mit der Polnisch-Litauischen Adels­re­pu­blik (Rzecz­pos­po­lita) um das Erbe des mittel­al­ter­li­chen Fürs­ten­tums der Kiewer Rus, das im 13. Jahr­hun­dert von den Mongolen zerschlagen wurde. Das umstrit­tene Gebiet umfasst grob die Terri­to­rien der heutigen Ukraine, Belarus und West­russ­lands. In diesem Konflikt standen sich auch zwei gegen­sätz­liche Formen früh­neu­zeit­li­cher Staat­lich­keit gegen­über. In der Rzecz­pos­po­lita verstand sich nur der versam­melte Adel (Szlachta) als (Standes-)Nation. Idea­ler­weise sprach diese mit einer Stimme, sodass bereits ein einzelner Abge­ord­neter das Parla­ment (Sejm) mit seinem „Liberum Veto“ blockieren konnte. Dagegen dekla­rierte sich der Zar zum Selbst­herr­scher (Auto­krat), der dem Adel (Bojaren), Städten und der Kirche keine eigen­stän­digen Stan­des­rechte gewährte. Zusätz­lich nahm das Moskauer Reich die Idee eines „Dritten Roms“ auf, womit es sich als Nach­fol­ge­staat der beiden unter­ge­gangen west- und oströ­mi­schen Impe­rien verstand und sich eine escha­to­lo­gi­sche, das heißt christ­lich heils­ge­schicht­liche histo­ri­sche Mission verlieh.

Im so genannten „Wilden Feld“ (ukrai­nisch: Dike Pole / russisch: Dikoje pole), einer Konflikt­zone zwischen Zaren­reich, Rzecz­pos­po­lita und dem Krim-Khanat, etablierte sich ab dem 17. Jahr­hun­dert außerdem das Kosaken-Hetmanat, das zwischen den Groß­mächten lavierte und dessen Ziel der Schutz seiner Privi­le­gien („Goldene Frei­heiten“) und seiner ortho­doxen Reli­gion war. Auf der von Putin und Sorkin „begut­ach­teten“ Karte des fran­zö­si­schen Karto­gra­phen Hubert Jaillot ist dieses Hetm­anat zu sehen und wird als „Ukraine – Staat der Kosaken“ bezeichnet. Dessen Beson­der­heit war, dass die Führungs­schicht der Kosaken (Star­schina) ihren Anführer (Hetman) selbst wählte. Im Vertrag von Pere­jaslaw von 1654 bestimmte Hetman Bohdan Chmel’ny­c’kyj (1595-1657) den Zaren als Garanten kosa­ki­scher Frei­heiten – Zar Alexej I. und seine Nach­folger verstanden diesen Vertrag aller­dings als Unter­wer­fung unter seine Selbstherrschaft.

Der Macht­kampf um das Gebiet der heutigen Ukraine endete mit der Nieder­lage der polni­schen Rzecz­pos­po­lita und dem Sieg des auto­kra­ti­schen Zaren­rei­ches im 18. Jahr­hun­dert. Peter I. („der Große“) nutzte die Zerstrit­ten­heit der polni­schen Schlachta aus, um die Adels­re­pu­blik poli­tisch zu para­ly­sieren. Das Hetm­anat verlor eben­falls seine Bedeu­tung, nachdem Hetman Ivan Mazepa (1639-1709) und Teile der Kosaken sich mit den Schweden verbün­deten, von denen sie sich die Wieder­her­stel­lung ihrer Frei­heiten verspra­chen. Peter I. verstand dies als Verrat an seiner Selbst­herr­schaft und besiegte das schwedisch-kosakische Heer im Jahr 1709 bei Poltawa. Katha­rina II. („die Große“) besei­tigte dann beide konkur­rie­renden Staat­lich­keiten endgültig: Sie löste das Hetm­anat 1763 auf, und die Rzecz­pos­po­lita, die durch Russ­land gemeinsam mit Preußen und Öster­reich aufge­teilt wurde, folgte 1795. Der russi­sche Bildungs­mi­nister Sergej S. Uwarow (1786-1855) formu­lierte 1833 erst­mals das theo­re­ti­sche Konzept der sieg­rei­chen auto­kra­ti­schen Ordnung als Triade aus „Ortho­doxie, Auto­kratie und Volks­tüm­lich­keit (narod­nost‘)“.

Nation oder Imperium?

Im Laufe des 19. Jahr­hun­derts nahmen russi­sche Intel­lek­tu­elle romantisch-nationale Ideen aus West­eu­ropa auf, die das „einfache Volk“ und nicht den Adel in den Mittel­punkt rückten. Diese vermischten sich mit den messia­ni­schen Ideen des Zaren­reichs. Der Histo­riker Wassili O. Kljut­schewski (1841-1911) verstand die Expan­sion des Impe­riums in die Terri­to­rien der histo­ri­schen Kiewer Rus als „Wieder­ver­ei­ni­gung“ der „ursprüng­li­chen“ russi­schen Nation. Wie auch in Deutsch­land oder Frank­reich, wo natio­nale Vordenker früh­mit­tel­al­ter­liche oder gar antike Stämme zu den Vorläu­fern der eigenen Nation erklärten, setzte sich auch im Zaren­reich die Vorstel­lung einer natür­li­chen Konti­nuität der russi­schen Nation durch. Alter­na­tive Formen von Staat­lich­keit wurden hingegen als „künst­lich“ verworfen, die ledig­lich eine Erfin­dung kleiner Kreise von Intel­lek­tu­ellen seien. Dies zielte vor allem gegen die aufkei­menden Vorstel­lungen ukrai­ni­scher Natio­na­lität, die sich etwa an der Univer­sität von Charkiv oder im öster­rei­chi­schen Gali­zien heraus­bil­deten. Dabei über­ging die Elite des Zaren­rei­ches geflis­sent­lich, dass ihre Vorstel­lungen (groß)russischer natio­naler Einheit und Geschichte eben­falls dem Diskurs städ­ti­scher Eliten entsprangen.

An Univer­si­täten wie Warschau und Vilnius verstärkte sich dagegen die Erin­ne­rung an die histo­ri­sche Rzecz­pos­po­lita und die Forde­rung nach polni­scher Unab­hän­gig­keit. Das Zaren­reich reagierte mit Unter­drü­ckung und Gewalt. Polens Natio­nal­dichter Adam Mickie­wicz (1798-1855) musste ins Exil fliehen, während sein ukrai­ni­sches Pendant Taras Schewtschenko (1814-1861) verbannt wurde. In Folge des polni­schen Janu­ar­auf­stand von 1863 versuchte das Zaren­reich schließ­lich mit drako­ni­schen Maßnahmen die Entste­hung alter­na­tiver Natio­nal­be­we­gungen zu verhin­dern und die Erin­ne­rung an die nicht-russischen histo­ri­schen Staat­lich­keiten auszu­lö­schen. Das König­reich Polen inner­halb des Zaren­rei­ches wurde zur „Weich­sel­pro­vinz“ degra­diert. Innen­mi­nister Pjotr Walujew (1815-1890) ließ die ukrai­ni­sche („klein­rus­si­sche“) Sprache – die er als „nicht exis­tent“ bezeich­nete – in einem Dekret vom Juli 1863 verbieten. Diese Welle der Russi­fi­zie­rung, die die russi­sche Sprache, Kultur und Lite­ratur als einzige legi­time Hoch­kultur und Stütze des Impe­riums fest­legte, dauerte bis zum Ende des 19. Jahr­hun­derts an.

Krise der Auto­kratie, Revo­lu­tion und Sowjetmacht

Im Jahr 1905 stieß das russi­sche Impe­rium im fernen Osten an seine Grenzen, als es den Krieg um Einfluss­zonen in Nordost-China gegen Japan verlor. Eine Welle von Protesten bedrohte daraufhin die Legi­ti­mität des Zaren. In einer Flucht nach vorn geneh­migte Niko­laus II. erst­mals Verfas­sung und Parla­ment und damit Einschrän­kungen seiner Selbst­herr­schaft. Der Zar war aller­dings davon über­zeugt, dass die Proteste das Werk feind­li­cher Mächte, vor allem der Juden und der „verwest­lichten“ städ­ti­schen Intel­li­gen­zija seien. Daher ließ er das Wahl­recht auf Groß­grund­be­sitzer und das Bauerntum zuschneiden, die er als loyal und zaren­treu einschätzte. Umso scho­ckie­render war das Ergebnis der ersten Wahlen von 1906, in denen sich weit­ge­hend Anhänger der Verfas­sung und viele Abge­ord­nete der natio­nalen Minder­heiten durch­setzen konnten. Trotz der poli­ti­schen, kultu­rellen und sprach­li­chen Repres­sionen kam etwa der „Ukrai­ner­klub“ auf 44 Abge­ord­nete. Dieser forderte zwar keine Eigen­staat­lich­keit, aber mehr Frei­heiten für die ukrai­ni­sche Kultur und Sprache.

Das Verfas­sungs­expe­ri­ment war nur von kurzer Dauer und der Zar entmach­tete das Parla­ment, sobald sich die Lage im Impe­rium wieder beru­higt hatte. Doch die Rück­kehr zur Auto­kratie endete im Februar/März 1917, als die Versor­gungs­krise und die mili­tä­ri­schen Schwie­rig­keiten im Ersten Welt­krieg die Selbst­herr­schaft des Zaren schnell erodieren ließen. Zunächst über­nahm die provi­so­ri­sche Regie­rung unter Alex­ander Kerenski (1881-1970) die Macht, bis sie im Oktober/November 1917 von Lenins Bolsche­wiki gestürzt wurde.

Die polni­sche und ukrai­ni­sche Natio­nal­be­we­gung nutzte das Chaos des russi­schen Bürger­kriegs. Sie riefen eigene Staaten aus, die sich bewusst in die Nach­folge der histo­ri­schen Rzecz­pos­po­lita und des Kosaken-Hetmanats stellten. Am 19. November 1917 erklärte die ukrai­ni­sche Rada (die sich bereits in Folge der Febru­ar­re­vo­lu­tion gebildet hatte) die Unab­hän­gig­keit der Ukraine. Eine nach­hal­tige Staats­bil­dung gelang ihr jedoch nicht, da die Ukraine nach dem Vertrag von Brest-Litowsk im März 1918 in die Abhän­gig­keit der Mittel­mächte, also Deutsch­lands und Österreich-Ungarns, geriet. Nach dem Kriegs­ende Anfang November drangen abwech­selnd die beiden russi­schen Bürger­kriegs­frak­tionen in der Ukraine ein, während jedoch Deutsch­land als Schutz­macht ausfiel. Als Polen Mitte November 1918 seine Unab­hän­gig­keit von Russ­land durch­setzte, brachen in Ostga­li­zien eben­falls Kämpfe zwischen ukrai­ni­schen Milizen und der polni­schen Armee aus.

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

Selbst­be­stim­mung zwischen Wilson und Lenin

Nach 1918 füllten zwei mitein­ander konkur­rie­rende Konzepte die Lücke aus, die der Unter­gang der konti­nen­talen Impe­rien in Europa hinter­lassen hatte: Die Idee einer demo­kra­ti­schen „self gouvern­ment“ des US-amerikanischen Präsi­denten Woodrow Wilson (1856-1924) – und Lenins Idee „natio­naler Selbst­be­stim­mung“, unter Voraus­set­zung einer kommu­nis­ti­schen Revo­lu­tion aller­dings. Polens Staats­chef Marschall Józef Piłsudski berief sich einer­seits auf die modernen demo­kra­ti­schen Vorstel­lungen Wilsons, wollte aber auch die histo­ri­sche Rzecz­pos­po­lita in neuer Form wieder aufleben lassen. Da er jedoch Ukrainer, Bela­russen und Litauer nur als „Juni­or­partner“ akzep­tierte, schei­terte das Konzept einer ostmit­tel­eu­ro­päi­schen Föde­ra­tion unter polni­scher Führung. Statt­dessen gelang es den Bolsche­wiki beinahe, den polni­schen Staat erneut auszu­lö­schen, als die Rote Armee im August 1920 vor Warschau stand. Der Wider­spruch in Lenins Konzept war, dass er einer­seits die natio­nale Selbst­be­stim­mung aller Völker des ehema­ligen Zaren­rei­ches verkün­dete, ande­rer­seits aber die russi­sche Hege­monie unter roter Fahne wieder­her­stellen wollte.

Die Rote Armee erlebte aller­dings eine vernich­tende Nieder­lage gegen Polen, was die Expan­sion des revo­lu­tio­nären Russ­lands zu den west­li­chen Grenzen des alten Impe­riums stoppte und 1922 zur Grün­dung der Sowjet­union führte. Für die Ukraine bedeu­tete das, dass der Groß­teil von ihr nun zwischen Polen und der Sowjet­union, klei­nere Teile zwischen der Tsche­cho­slo­wakei (Trans­kar­pa­tien) und Rumä­nien (je die Hälfte der Buko­vina) geteilt war. In der in dieser Weise verklei­nerten Ukrai­ni­schen Sowjet­re­pu­blik (UkrSSR) förderten Lenins Bolsche­wiki zunächst die ukrai­ni­sche Sprache und Kultur, wobei jedoch die poli­ti­sche Kontrolle stets in der Hand Moskaus blieb und der kommu­nis­ti­schen Partei der UkrSSR über­durch­schnitt­lich viele russisch­spra­chige Funk­tio­näre ange­hörten. Stalin hingegen setzte nach seiner endgül­tigen Macht­über­nahme im Jahr 1929 ganz auf Repres­sion und Massen­mord. Wie die Zaren vor ihm, bekämpfte er jede Idee ukrai­ni­scher und bela­rus­si­scher Eigen­stän­dig­keit und ließ vor allem dieje­nigen Kultur­schaf­fenden als „Faschisten“ verhaften und ermorden, die er als Reprä­sen­tanten einer mögli­chen Eigen­staat­lich­keit ausmachte. Stalins Nach­folger Nikita Chruscht­schow entstammte einer west­rus­si­schen Familie, die zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts in die neuen Indus­trie­ge­biete der östli­chen Ukraine einge­wan­dert war. Er nahm die Vorstel­lungen des 19. Jahr­hun­derts über die „Drei­ei­nige Nation“ aus Russen, Ukrai­nern und Bela­russen wieder auf und gab ihr als „sowje­ti­sche Nation“ einen moder­neren Anstrich. So nutzte er etwa die Feier­lich­keiten zum 300. Jubi­läum des Vertrags von Pera­jaslaw im Jahr 1954, um die „histo­ri­sche Einheit“ der drei „Bruder­völker“ in der Sowjet­union zu zemen­tieren. Die gewal­tigen Indus­trie­pro­jekte in der östli­chen Ukraine sollten die alte „dörf­liche“ ukrai­ni­sche Kultur besei­tigten und den Weg zu einer sowjetisch-russischen Indus­trie­mo­derne öffnen. Die Über­gabe der Krim unter Verwal­tung der ukrai­ni­schen Sowjet­re­pu­blik war somit keines­falls ein „Geschenk“ an die Ukraine, sondern Demons­tra­tion dieser „ewigen Einheit“.

Zerfall der Sowjet­union, neue Staa­ten­bil­dung und der Weg zur Invasion

Wie auch das Zaren­reich, zerfiel auch das sowje­ti­sche Impe­rium plötz­lich. Gorbat­schow machte 1989 einen ähnli­chen Fehler wie Zar Niko­laus II. im Jahr 1905, als er erwar­tete, dass freie Wahlen seinem Impe­rium neue Legi­ti­mität verschaffen würden. Die ersten demo­kra­ti­schen Abstim­mungen zum Kongress der Volks­de­pu­tierten der Sowjet­union im März 1989 und der Russi­schen Sozia­lis­ti­schen Föde­ra­tiven Sowjet­re­pu­blik (RSFSR) im März 1990 beschleu­nigten statt­dessen den Zerfalls­pro­zess. Nicht die Unter­stützer der Pere­strojka, sondern die Anhänger der Natio­nal­be­we­gungen und die Gegner des kommu­nis­ti­schen Macht­mo­no­pols gewannen die Wahl. Unter der Führung Boris Jelzins erklärte die RSFSR am 12. Juni 1990 ihre „Souve­rä­nität“ und schuf damit die Blau­pause für die Unab­hän­gig­keit der übrigen Unions­re­pu­bliken. Gorbat­schow über­stand zwar einen Putsch­ver­such reak­tio­närer Kräfte im August 1991, doch die Legi­ti­mität seines Staates erodierte und die Sowjet­union löste sich zum Jahres­wechsel 1991/1992 auf.

Bereits 1992 kriti­sierte der Poli­tik­wis­sen­schaftler Alek­sandr Tsipko die Souve­rä­ni­täts­er­klä­rung von 1990 als „Russ­lands Tren­nung von sich selbst“. Russi­sche Poli­tiker und Intel­lek­tu­elle beriefen sich erneut auf den Histo­riker Kljut­schewski und seine Ideen der „Drei­ei­nigen Russi­schen Nation“, die eine staat­liche Souve­rä­nität der Ukraine und Belarus negierte. Jelzin gelang es in den 1990er Jahren nicht, die Russi­sche Föde­ra­tion zum allge­mein akzep­tierten russi­schen Natio­nal­staat zu machen. Parteien und Bewe­gungen der extremen Rechten, aber auch die kommu­nis­ti­sche Partei, verstanden Russ­land weiterhin als Gemein­schaft der drei „Bruder­völker“ oder zumin­dest als Einheit aller Russisch­spra­chigen. Prägend war dabei der Demo­graph Wladimir Kabuzan (1932-2008), der weite Teile der östli­chen und südli­chen Ukraine, des Balti­kums und des nörd­li­chen Kasach­stans anhand von Sprach­sta­tis­tiken als „ethnisch russisch“ dekla­rierte. Dass sich die Ukraine in Form eines Refe­ren­dums im Dezember 1991 mit großer Mehr­heit aller Regionen mit insge­samt 90,3 % (und sogar 54 % der Krim­be­wohner) für die Unab­hän­gig­keit ihres Staates ausspra­chen, spielte dabei keine Rolle. Auch dass die in denselben Statis­tiken belegte und in der Ukraine weit­ver­brei­tete Mehr­spra­chig­keit im Alltag und natio­nale Selbst­zu­schrei­bungen nicht deckungs­gleich sind und die Mutter­sprache folg­lich kein ausrei­chender Marker für natio­nale Iden­ti­täten darstellt, igno­riert Russ­land bis heute.

Auch in Deutsch­land diente die Sprache lange als Begrün­dung einer vermeint­lich „geteilten“ Ukraine, zuletzt etwa durch Gregor Gysi in seiner Bundes­tags­rede unmit­telbar vor der russi­schen Groß­in­va­sion. Russ­land – und seine Apologet:innen – stellen damit das vermeint­lich „ethni­sche“ Prinzip vor die Idee einer poli­ti­schen Willens­na­tion, die sich durch den frei­wil­ligen Beschluss ihrer Bürger:innen zu einem Staat formiert. Völker­recht­liche Verträge mit der Ukraine wie das „Buda­pester Memo­randum“ von 1994 standen somit aus Sicht Russ­lands unter Vorbe­halt und hatten nur inso­fern Gültig­keit, als sich die „histo­risch“ russi­schen Länder mit Anteilen „ethnisch“ russi­scher Bevöl­ke­rung im Einfluss­ge­biet („nahes Ausland“) der Russi­schen Föde­ra­tion bewegten. Als Putin am 12. Juli 2021 seinen Essay über die „histo­ri­sche Einheit von Russen und Ukrai­nern“ publi­zierte, waren diese Ideen daher keines­wegs neu, sondern bildeten ein Amalgam bestehender Konzepte, die sich vom Zaren­reich über die Sowjet­union bis ins moderne Russ­land fort­führten und die vom Kreml als Begrün­dung für den völker­rechts­wid­rigen Angriffs­krieg gegen die Ukraine miss­braucht werden.