Das vergangene Jahr endete für die deutschnationalistischen Parteien und Aktivisten Südtirols mit einer verheißungsvollen Nachricht von jenseits des Brenners: In Wien verkündete die neue Regierung um den ÖVP-Jungkanzler Sebastian Kurz Mitte Dezember, dass sie in den Koalitionsverhandlungen mit der FPÖ die Aushandlung einer doppelten Staatsbürgerschaft für alle deutsch- sowie ladinischsprachigen SüdtirolerInnen in das schwarz-blaue Regierungsprogramm aufgenommen habe. Davon betroffen wären ungefähr drei Viertel Prozent der dortigen Bevölkerung, die zu rund siebzig Prozent der deutschen- sowie zu rund vier Prozent der ladinischen Sprachgruppe angehören.
Seit der Angliederung Südtirols an Italien nach 1918 zählen diese zu den zahlreichen kulturellen Minderheiten der an der nördlichen Peripherie der Apenninhalbinsel gelegen Landesprovinzen. Europaweit ist die Idee nicht neu: Das provokante Spiel mit dem Doppelpass wird ebenso von der Orbán-Regierung mit den ungarisch-sprachigen Minderheiten in Rumänien, Serbien sowie jüngst in der Ukraine betrieben. Und auch in Moskau ist vom Putin-Regime schon seit längerem von einer vereinten „russischen Welt“ die Rede, in deren Sicht die Einbindung ehemaliger Sowjetrepubliken mitsamt der Wiedereinbürgerung eine logische Konsequenz darstellt. Kurz weiß sich mit seinen Plänen also schon jetzt in bester Gesellschaft mit bereits etablierten, autoritären Machtregimes.
Obwohl der Doppelpass nur in Absprache mit Rom eingeführt werden soll, verfügt die Ansage bereits jetzt über einiges Konfliktpotential. Schon allein die Frage der Umsetzung einer solchen zweifachen Staatsbürgerschaft erscheint nämlich äußerst fragwürdig. Zwar ist beispielsweise der Umstand, dass nur die beiden Sprachminderheiten Südtirols Anspruch auf eine doppelte Staatsbürgerschaft erheben dürfen, während dieser für die Trentiner Bevölkerung nicht bestehe, mit dem deutschvölkischen Denken der FPÖ durchaus vereinbar. Historisch betrachtet geht die Rechnung allerdings nicht auf: Schließlich gehörte die italienischsprachige Region um Trient vor 1918 ebenfalls zum österreichischen Kaiserreich. Die versuchte Eingrenzung eines staatsbürgerlichen Wahlrechts für die deutsche und die ladinische Sprachminderheit ist zudem ebenfalls kaum realisierbar – handelt es sich bei der entsprechenden Zugehörigkeit doch nicht um eine verbindliche Rechtskategorie, sondern in erster Linie um eine kulturelle Selbstwahrnehmung.
Weshalb versuchen nun österreichische Rechtspopulisten wie der zum Vizekanzler erhobene Heinz-Christian Strache von ihrem Amt aus Einfluss auf die nördlichste Alpenprovinz Italiens zu nehmen? Während es höchst fraglich erscheint, inwiefern die SüdtirolerInnen vom zweiten Pass in einem Europa der freien Grenzen tatsächlich profitieren werden, ist das politische Kapital, welches sich daraus gewinnen lässt, mehr als offensichtlich. Nicht umsonst melden sich altgediente „Freiheitskämpfer“ wie der ehemalige Landeshauptmann der Südtiroler Volkspartei (SVP), Luis Durnwalder, zurück aus dem Ruhestand, um zusammen mit einer Mehrheit des Südtiroler Landtages die Entscheidung der Koalitionsverhandlungen in Wien für den Doppelpass öffentlich zu bewerben. Voten solch prominenter Wortführer der SVP stoßen gerade im rechtskonservativ regierten Südtirol auf eine breite Zustimmung. Zusammen mit einer versprochenen Schutzmachtfunktion Österreichs über Deutschsüdtirol, fungiert der angekündigte Doppelpass mithin vor allem als Lockmittel für eine potentielle Wählerschaft über die südlichen Landesgrenzen hinaus – mehrere zehntausend Stimmen sind damit zu gewinnen.
Das Problem mit den Nationalismen in Südtirol
Ein derartiges politisches Kalkül mag sich zwar durchaus als lukrativ erweisen, im Licht der konfliktreichen Geschichte Südtirols erscheinen solch nationalistische Interventionen allerdings als fahrlässig und gefährlich. Eine der wesentlichen Triebfedern des nach 1918 ausgebrochenen Streits um die staatsrechtliche sowie kulturelle Zugehörigkeit Südtirols bestand in der Rivalität des vom Süden herkommenden, italienischen sowie des besonders von Innsbruck ausgehenden, deutschen Nationalismus. Seit nunmehr hundert Jahren versuchen diese beiden Nationalismen ihren Herrschaftsanspruch über die Region am Fuße des Brenners zu behaupten. Gerade die Auffassung, inwiefern die Bergtäler rund um Bozen „deutsch“ sein sollten, variierte dabei historisch jeweils stark: War damit vor 1933 grundsätzlich Österreich gemeint, so verschob sich die Bedeutung spätestens nach dem „Anschluss“ von 1938 in Richtung Berlin. In der Nachkriegszeit wurde sodann vor allem die Zugehörigkeit Südtirols zum Bundesland Tirol behauptet. Damit einhergehend postulieren rechtsextreme Kreise in Österreich und Südtirol bis heute die Zusammengehörigkeit eines grenzüberschreitenden – quasi „pangermanischen“ – Kulturraumes.
In einem der bis heute wichtigsten Romane über Südtirol, „Schöne Welt, böse Leut“ (1969) von Claus Gatterer, kann nachvollzogen werden, dass die ganze mit dem Raum „Südtirol“ verbundene Problematik überhaupt erst nach 1918 entstanden ist. Damals versuchten italienische Irredentisten im Dienste des faschistischen Regimes fieberhaft, die neue Landesregion mit allen erdenklichen Mitteln zu „italianisieren“. In Abgrenzung zu diesen kultur- und sprachpolitischen Zwangsmaßnahmen – den sog. „Provvedimenti per l’Alto Adige“ von 1923 – bildete sich unter der deutsch- und ladinisch-sprachigen Bevölkerung dann rasch eine vordergründig verbindende Identität heraus, die sich unter dem Sammelbegriff der „Südtiroler“ zusammenfand. Schon damals handelte es sich aber bei langem nicht um eine homogene Volksgruppe, die sich gemeinsam im Kampf gegen die Schwarzhemden vereint hatte. Wie so oft, gab es auch unter den DeutschsüdtirolerInnen erhebliche Spannungen zwischen Kollaborateuren, Profiteuren, Gleichgültigen oder kleineren, versprengten Widerstandszellen.

Tag der Tricolore am Siegesdenkmal in Bozen, ohne Jahr; Quelle: schuetzen.com
Genau hier griffen wiederum die Identifizierungsangebote der beiden Nationalismen, vor deren Hintergrund sich tieferliegende, soziale Konflikte entluden. Der an sich erfolglose, dennoch aber folgenreichste dieser Versuche gipfelte 1939 in der sogenannten „Option“: Ein Abkommen zwischen Mussolini und Hitler, mit welchem das „Südtirolproblem“ ein für alle Mal „gelöst“ werden sollte. Diese Scheinwahl – sich entweder in Südtirol verbleibend als „Volkstumsverräter“ mit der italienischen faschistischen Ordnung abzufinden, oder in einem von den Nationalsozialisten verheißenen „Siedlungsgebiet“ auf eine neue Existenz zu hoffen – spaltete die damalige Gesellschaft in sogenannte „Dableiber“ und „Optanten“. Daraus resultierte ein tiefer gesellschaftlicher Graben, über welchen nach 1945 öffentlich grundsätzlich nicht gesprochen wurde; erst eine allmähliche Aufarbeitung in den achtziger Jahren vermochte sich diesem historischen Trauma langsam anzunähern. Die nun vorgeschlagene, wiederum nationalistisch aufgeladene „Wahl“ einer doppelten Staatsbürgerschaft droht die kaum verheilten Wunden nationalsozialistischer Volkstumspolitik erneut aufzureißen; eine wiederholte gesellschaftliche Aufspaltung in „volkstreue“ und „volksferne“ DeutschsüdtirolerInnen wäre nicht mehr fern.
Eine Geschichte politischer Gewalt
Doch Südtirol wird nicht nur durch Volkstumspolitik belastet. Denn im Namen des deutschen Nationalismus wurden in dieser Region zwischen 1943 und 1945 besonders unmenschliche Verbrechen verübt. Die während der nationalsozialistischen Besatzungszeit stattgefundene Kollaboration mit dem NS-Regime brachte Angst, Schrecken und Gewalt in die entlegensten Bergdörfer; zudem starben in dem bei Bozen gelegenen „Durchgangslager“ Sigmundskron 1944-1945 rund dreihundert Menschen; mehrere Tausend wurden von hier aus in Konzentrationslager verschickt und kamen dort ums Leben. Über dieses düstere Kapitel der Südtiroler Geschichte herrscht bis heute ein schamvolles Schweigen.
Die Jahrzehnte der Nachkriegszeit, als es darum ging, die Nachkriegsordnung für Südtirol innerhalb der Ersten Italienischen Republik auszuhandeln, waren danach von deutlich weniger Opfern und Gewalt gezeichnet. Dennoch blieben die Spannungen zwischen dem italienischen und dem deutsch-österreichischen Nationalismus erhalten. Zwar verliefen die Autonomieverhandlungen bis hin zum Abschluss des sog. Pakets von 1972 durchaus erfolgreich, was wesentlich den Boden für die Streitbeilegung zwischen Rom und der Südtiroler Volkspartei von 1992 bereitete. Parallel dazu kamen die Rivalitäten zwischen Deutschtums-Aktivisten und dem italienischen Staat aber immer wieder zum Vorschein: Besonders verheerend während den „Südtiroler Bombenjahren“ von 1956 bis 1969, als Angehörige des „Befreiungsausschuss Südtirols“ im Kampf um politische und kulturelle Selbstbestimmung Sprengstoffanschläge auf staatliche Gebäude, Denkmäler und Stromleitungen verübten.
Zwischen 1965 und 1967 beteiligten sich zudem auch neonazistische Aktivisten aus Westdeutschland und Österreich an einzelnen Attentaten, bei denen insgesamt vierzehn Menschen getötet wurden. Nicht zuletzt sind hier aber auch die alljährlichen Kranzniederlegungen am Andreas-Hofer-Denkmal am Bergisel bei Innsbruck seitens der Südtiroler Schützen oder diejenigen italienisch-nationalistischer Organisationen – u.a. der Movimento Sociale Italiano oder der Nationalen Alpini Vereinigung – am Siegesdenkmal in Bozen sowie am Alpinidenkmal in Bruneck zu nennen. In ihrem militaristischen Gebaren stehen solche Aufmärsche gewiss für alles andere als für eine friedliche Koexistenz der beiden Sprachgruppen.
Auf der Suche nach einer eigenen Südtiroler Identität
Der jetzt in Wien erwogene Plan einer Doppelbürgerschaft vernachlässigt all dies vollkommen und riskiert damit einen erneuten Ausbruch alter Rivalitäten. Aber mehr noch: Der Beschluss setzt sich über die Bemühungen zahlreicher Kulturschaffender hinweg, die explizit jenseits festgefahrener Nationalismen nach einer selbstständigen Südtiroler Identität fragen. Solche Stimmen machten sich erstmals in den sechziger Jahren bemerkbar. Schon 1968 protestierte der Brunecker Schriftsteller Norbert Kaser „gegen den nationalistischen Geist, der […] das politische Klima der Stadt nur noch mehr verschlechtert.“ Nach dem frühen Tod Kasers wurden seine Ansichten besonders prominent von Claus Gatterer oder etwas später von Leopold Steurer weitergetragen. In den Achtzigern und Neunzigern bemühte sich anschließend eine junge Generation kritischer HistorikerInnen erstmals um die Aufarbeitung der bis dahin noch stark ideologisch verzerrten Geschichtsschreibung.
Diesen selbstkritischen Versuchen gemeinsam ist es, die Vielfalt und die zahlreichen internen Spannungen und Differenzen der Südtiroler „Identität“ zu betonen. Sie zeugen von einer pluralistischen Gesellschaft, auf die die SüdtirolerInnen eigentlich stolz sein können. Anstatt sich auf eine engstirnige Segregation der beiden Sprachgruppen zu beschränken, ließe sich daraus das zeitgemäßen Bild einer selbstbewussten Kulturregion Südtirol gewinnen – eine Region, in der es unerheblich ist, wer genau über welchen Pass verfügt. Es ist wirklich zu bedauern, dass die nationalistisch motivierte Einmischung aus Wien diese sorgfältige Kulturarbeit für den bloßen Gewinn neuer Wählerstimmen dermaßen leichtfertig aufs Spiel setzt.