Auf dem 4. Kongress des „Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes von Litauen, Polen und Russland“ (kurz: „Bund“) – der größten jüdischen Arbeiterorganisation im Zarenreich und der stärksten Sektion der Russländischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei – im Jahre 1901 ließ der Delegierte Mark Liber eine sonderbare Bemerkung fallen. „Wir müssen national sein“, erklärte er. „Man braucht dieses Wort nicht zu fürchten. National bedeutet nicht Nationalismus.“ Die Formulierung scheint uns heute befremdlich, doch den Kongressteilnehmer:innen leuchtete sie ein. Als sozialistische Partei, die Fragen nationaler Identität ins Zentrum ihres Programms stellte, ohne von einer Klassenpolitik abzurücken, brachte der Bund seinerzeit eine neue Note in die marxistische Parteilandschaft ihrer Zeit. Zugleich griff sie Fragen von Intersektionalität und Identitätspolitik auf, die die Linke nach wie vor umtreiben.
Trotz Lippenbekenntnissen zu Diversität war und ist ein großer Teil moderner politischer Praxis auf monolithische Institutionen fokussiert. Eine zentrale Rolle spielte hierbei sicherlich der Nationalstaat, der die ahistorische Vorstellung homogener Gesellschaften vorantrieb und in der Politik festschrieb. Doch letztendlich ist jede Politik an bestimmte Communities oder Milieus gebunden. Auch wenn es beispielsweise die US-amerikanischen Parteien gerne abstreiten, sind die Demokraten die Partei der nichtweißen Bevölkerung mit Hochschulabschluss, während die Republikaner Weiße mit Sekundärschulbildung repräsentieren. Diese Differenzierungen formal anzuerkennen grenzt jedoch an ein Tabu und wird als Verrat an der Idee gesehen, in einer modernen Demokratie habe eine Partei alle Bürger:innen zu repräsentieren. Und doch existieren diese Differenzierungen, und die Unfähigkeit, sie anzuerkennen, führt zu nur noch stärkerer gesellschaftlicher Spaltung. Ein Beispiel, das zeigt, dass solche kognitiven Dissonanzen nicht schicksalhaft zu modernen Parteien dazugehören, ist der Bund: eine Partei, die sich voll und ganz sowohl der internationalen Solidarität als auch der nationalen Identität verschrieb.
Die Revolution und die nationalen Minderheiten
In der Frühzeit des Marxismus standen revolutionäre Denker einer Politik der nationalen Identität skeptisch gegenüber. In den Augen der meisten Marxisten war die Nation bestenfalls ein Schritt hin zur Entwicklung von Klassenbewusstsein, viel eher stand sie jedoch in Verdacht, von Letzterem wegzuführen. So blieben Sozialist:innen der Klassensolidarität verhaftet. Ihr Ziel war die Vereinigung von Arbeiter:innen in ihrer Eigenschaft als Arbeiter:innen, und entsprechend scheuten sie sich davor, andere konkurrierende Identitäten zu kultivieren.

Wahlplakat des Bunds in Kyiv, 1917. Losung oben: „Dortn, vu mir lebn, dort is undzer land!“, Quelle Wikipedia
Die meisten Anhänger:innen der Sozialdemokratie, die sich im frühen zwanzigsten Jahrhundert in weiten Teilen Europas zu einer führenden politischen Kraft entwickelte, sahen darin kein Problem. Sie gingen vom Primat der Klassenidentität über das Nationale aus und nahmen an, dass die unterschiedlichen Kulturen im Prozess der Geschichte allmählich miteinander verschmelzen würden. Die nationalen Minderheiten in den europäischen Ländern sah dies jedoch anders. Assimilation war für sie nicht erstrebenswert, da diese nur den großen Nationen zum Vorteil gereichte. Eine kleinere Nation würde leicht in einer größeren aufgehen, das Gegenteil jedoch wäre unwahrscheinlich. Auch für eine postnationale Zukunft war ein Weiterleben etwa der deutschen oder russischen Kultur in irgendeiner Form abzunehmen; auch kleinere Nationen, die in einem klar abgegrenzten Territorium die Mehrheit stellten, etwa die Tschechen oder die Finnen, konnten in einer Welt, in der Nationalität durch Klasse abgelöst werden würde, ihres Fortbestehens sicher sein. Für nationale Minderheiten jedoch, denen ein eigenes Territorium fehlte – wofür die Juden ein Paradebeispiel waren –, waren die Aussichten düster. Über Jahrhunderte hinweg hatten sie trotz der Abwesenheit eines zusammenhängenden eigenen Territoriums eine distinkte Kultur bewahrt, indem sie alternative Strukturen der Vergemeinschaftung schufen, oftmals in Form von Selbstverwaltungsorganen. Das Aufkommen des Liberalismus und des Kapitalismus hatte diese Strukturen bereits viel von ihrer Autorität einbüßen lassen, doch nun drohte die von Sozialisten anvisierte Revolution, diese komplett abzuschaffen.
Jüd:innen und Arbeiter:innen
Die Jüd:innen im Russischen Reich lebten keineswegs hermetisch abgeschirmt von ihren Nachbar:innen. Im späten 19. Jahrhundert waren sie jedoch eine klar abgegrenzte Gemeinschaft. Nicht nur hatten sie ihre eigene Religion, sondern mit dem Jiddischen auch eine eigene Sprache. Auch in geographischer und ökonomischer Hinsicht unterschieden sie sich von der Mehrheitsbevölkerung: Während die Bevölkerung des Russischen Reichs mehrheitlich ländlich und bäuerlich war, waren Jüd:innen überwiegend urban und im Kleinhandel und in der Heimindustrie tätig. Auch dort, wo die Städte durchmischt waren, waren es die Stadtviertel in der Regel weniger. Zudem lebten sie im Russischen Reich nicht in einem klar definierten, kompakten Gebiet. Zwar beschränkte die zarische Gesetzgebung ihren Lebensraum auf den sogenannten Ansiedlungsrayon – ein Gebiet, das ungefähr das heutige Belarus, Litauen und große Teile der Ukraine und Polens umfasste und knapp über 1,200,000 km² maß. Doch auch dort stellten Jüd:innen lediglich ca. 10% der Bevölkerung. Auch wenn sie in vielen Stadtvierteln, Kleinstädten und der einen oder anderen Metropole die Mehrheit stellten, so gab es doch keinen Teil des Riesenreiches, den sie als ihr Territorium hätten ansehen können.

Bundist:innen im sibirischen Exil, 1904, Quelle: www.macaulay.cuny.edu
Hinzu kam, dass Jüd:innen zu dem Zeitpunkt insgesamt einem gesellschaftlichen Abstieg entgegensahen. Vor 1861 hatten sie in Polen und im Russischen Reich eine Nischenposition zwischen dem Landadel und dem Bauerntum eingenommen – als Handwerker, Kaufleute, Verwalter. Doch die Abschaffung der Leibeigenschaft machte die Existenz einer Zwischenschicht zwischen der Aristokratie und den Bäuer:innen entbehrlich, und die voranschreitende Industrialisierung Russlands reduzierte erheblich den Bedarf an lokalen Handwerkern. In anderen europäischen Staaten reagierten Juden auf das Ende des Feudalismus und den Anbruch der Industrialisierung, indem sie in akademische Berufe, den Finanzsektor und ähnliche Tätigkeitsfelder der postfeudalen Ära auswichen. Die Zarenherrschaft jedoch verhinderte solche Aufstiege gezielt, indem sie für Jüd:innen den Zugang zu höherer Bildung wie auch zu Berufspatenten in entsprechenden Feldern stark begrenzten. Wenn auch die russländische Judenheit die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hindurch kulturell florierte, tat sie es vor dem Hintergrund fundamentaler Unsicherheit.
So ist es kein Wunder, dass viele Jüd:innen den Glauben an eine Zukunft in Russland verloren. Zwischen 1880 und 1920 war fast ein Drittel der jüdischen Bevölkerung emigriert. Die bekannteste politische Kraft, die aus dieser Stimmung hervorging, waren die Zionisten, die – entgegen anderslautender Behauptung der Bundist:innen nach dem Zweiten Weltkrieg – von ihren Anfängen in den 1880er Jahre bis zur Shoah eine dominierende Kraft in der jüdischen politischen Landschaft in Osteuropa darstellten. Doch eine Monopolstellung hatten sie dort nicht. Ihre größte Konkurrenz war die lebhafte revolutionäre Bewegung, die die Zukunft der Judenheit in Russland sah, die Voraussetzung dafür jedoch in einer revolutionären Transformation des Landes sah.
Der 1897 gegründete Bund war die größte Partei innerhalb dieser Bewegung. Dabei war er zuerst gar nicht so sehr an jüdischer nationaler Kultur interessiert, viele seiner Führungspersönlichkeiten stammten aus russischsprachigen, kulturell assimilierten Familien. Doch sie waren sensibilisiert für die speziellen Bedürfnisse der jüdische Arbeiter:innen, die zum einen nur über jiddischsprachige Agitation zu erreichen waren, und zum anderen überwiegend in kleinen Werkstätten und nicht in großen Fabriken schufteten. Vor allem jedoch verstand der Bund, dass jüdische Arbeiter:innen im Russischen Reich doppelter Unterdrückung ausgesetzt waren: Als Arbeiter:innen und als Jüd:innen. Lediglich auf ihre Befreiung als Arbeiter:innen hinzuarbeiten würde sie weiterhin dem Antisemitismus ausliefern. Davon zeugten Pogrome wie 1902 in Częstochowa und 1903 in Kischinew, die zu Dutzenden jüdischen Todesopfern führten. Dass diese Pogrome zu großen Teilen von Arbeiter:innen mitgetragen wurden, bestärkte den Bund in seiner Einsicht, dass das russische Proletariat – und damit auch ein künftiger proletarischer Staat – dem Antisemitismus nicht ein Ende setzen, sondern vielmehr dessen Fortbestehen mit sich bringen würde. Umso wichtiger war folglich die Existenz einer Organisation, die jüdische Arbeiter:innen als Arbeiter:innen gegen kapitalistische Ausbeutung und als Jüd:innen gegen die Zumutungen des Antisemitismus verteidigen würde.

Bund-Demonstration in Russland, 1917, Quelle: Wikipedia
Der Weg zu einer nationale Identitäten anerkennenden Politik war für den Bund nicht einfach. Als treue Marxist:innen hatten vielen Bundist:innen kein gutes Gefühl dabei gegenüber einer Politik, die von Klassenbewusstsein ablenken könnte. Vor allem befürchteten sie angesichts der bereits stark ausgeprägten nationalen Identität der jüdischen Arbeiter:innen in Russland, sie letztendlich in die Arme der Zionist:innen zu treiben. Doch schließlich überwogen die Einflüsse von außen diese Bedenken – so etwa Karl Kautskys Konzeption geographisch definierter kultureller Zonen für das Habsburgerreich, die als Beleg dafür gesehen wurde, dass nationale Kultur und revolutionäre Bewegung sich in der Revolutionstheorie nicht gegenseitig ausschließen mussten. Der Bund ging jedoch darüber hinaus – denn für ihn waren nationale Rechte nicht von geographischen Begebenheiten abhängig. Viel stärker als auf territoriale Faktoren setzten die Bundist:innen auf Kultur. Nicht nur bestanden sie auf Jiddisch als der jüdischen Nationalsprache, sondern sie sahen auch den Staat in der Pflicht, die Arbeit jiddischer Schulen und Kulturinstitutionen wie auch den Gebrauch des Jiddischen in der Öffentlichkeit zu gewährleisten.

Mitgliederausweis des Bund in russischer und jiddischer Sprache, frühes 20. Jh., Quelle : www.rusacademfilately.ru
Vor diesem Hintergrund wird Mark Libers Ausspruch nachvollziehbarer. Seine Partei hatte kein Interesse daran, Nationalismus – im Sinne einer nationalen Dominanz oder eines Separatismus – zu fördern, sondern sie verfocht die Idee, dass die Revolution die Frage nationaler Identität zu berücksichtigen hatte, und dass Arbeiter:innen unterschiedlicher Nationalitäten unterschiedliche Bedürfnisse besäßen, denen Rechnung zu tragen war, wenn man sie für eine größere Bewegung mobilisieren wollte. Der Fokus des Bundes lag auf einer Art Föderalismus, der nicht nur auf territorialen Fragen, sondern auch auf solchen der nationalen Identität und Kultur basierte. Es war kein Kompromiss zwischen Klassen- und Nationalbewusstsein mit dem Ziel, nationale Identität in einer transnationalen Bewegung aufzulösen. Anstatt Nationen (und Nationalitäten) auszuradieren, suchte der Bund ein brüderliches Band zwischen ihnen zu knüpfen. Der Vorschlag des Bundes belief sich darauf, das Zarenreich – und in Folge auch andere Staaten – zu einer Föderation nationaler Arbeiterrepubliken umzubauen, in denen Nationalitäten ohne eigenes Territorium (wie die Jüd:innen) wie auch Vertreter:innen von Nationalitäten, deren angestammtes Territorium jenseits ihres Siedlungsraumes lag (Pol:innen in Belarus, Russ:innen in der Ukraine) eine weitgehende kulturelle Autonomie genießen würden.
Die Forderungen der Bundist:innen hatten jedoch Grenzen – schließlich gaben sie als Marxist:innen keineswegs die Zentralität der Klassensolidarität preis. Der Bund bestand immer wieder darauf, seine nationalen Forderungen auf die kulturelle Sphäre zu beschränken – Schulen, Zeitungen, Theater -, lehnte jedoch politischen und ökonomischen Separatismus strikt ab. Er hatte keine jüdische staatliche Souveränität zum Ziel, sondern wollte Jüd:innen als Nationalität in die revolutionäre Bewegung bringen, und sah entsprechend nationale Identität als Vehikel und nicht als Hindernis für die Revolution.
Identitätspolitik avant la lettre
Der Bund kam nie dazu, seine Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Eine sozialistische Föderation von Nationalitäten – das, was dem historisch am nächsten kam, war die Sowjetunion, die wohl kaum als erfolgreiche Lösung der nationalen Frage gelten kann. Doch der Bund hatte insofern Erfolg, als dass er für viele Jahre die stärkste jüdische revolutionäre Bewegung im Russischen Reich wurde. Der Bund verstand, dass Nationen und Nationalitäten existieren und in absehbarer Zukunft nicht verschwinden werden. Doch deren Existenz war für den Bund kein Hindernis für Zusammenarbeit und Solidarität zwischen ihnen. Gesellschaften sind Mosaike, aus unzähligen Communities zusammengesetzt – nationale, ethnische, religiöse, sexuelle und so weiter –, die ihre jeweiligen legitimen Bedürfnisse haben. Die Bedürfnisse nationaler Communities – und auch solcher, die etwa auf Sexualität basieren – sind nicht Zeugnisse falschen Bewusstseins, sondern reale Anliegen, denen Rechnung getragen werden muss. In den heutigen Debatten um Identitätspolitik werden immer wieder Bedenken geäußert, die Rücksichtnahme auf Bedürfnisse von LGBT- oder migrantischen Communities würde innerhalb progressiver Bewegungen auf Kosten der Einheit gehen. Dabei ist es jedoch nicht notwendig, in ein „Entweder-Oder“-Denken zu verfallen – ebenso wenig wie es der Bund getan hat, der über weite Strecken als Teil der russländischen Sozialdemokratie für einer Überwindung des Zarenregimes gekämpft hat und zugleich die Bedürfnisse der jüdischen Arbeiter:innen im Fokus hatte. Es ist lohnend, sich in den gegenwärtigen Debatten dieses Beispiel vor Augen zu führen.
Übersetzung aus dem Englischen: Gleb J. Albert