Wie lässt sich die Geschichte einer multiethnischen, schon von unzähligen vergangenen Grausamkeiten gezeichneten Nation erzählen – und wie lassen sich die Schrecken des jüngsten Krieges in Worte fassen? Zeitgenössische ukrainische Lyriker*innen glauben, dass ihre Sprache dafür das richtige Gefäß ist.

  • Amelia Glaser

    Amelia Glaser ist Professorin für Literatur an der UC San Diego. Sie ist die Autorin von „Jews and Ukrainians in Russia's Literary Borderlands“ (Northwestern UP, 2012) und “Songs in Dark Times: Yiddish Poetry of Struggle from Scottsboro to Palestine” (Harvard UP, 2020). Derzeit schreibt sie an einem Buch über zeitgenössische ukrainische Lyrik.

Im April 2022 schickte mir die Dich­terin Iya Kiva ein Gedicht über ein huma­ni­täres „Hilfs­paket“; sie hatte es einen Monat nach dem Beginn der russi­schen Inva­sion in die Ukraine geschrieben:

aus Kriegs­lie­dern packten wir ein geheimes Hilfspaket
schickten es nach Europa Amerika Indien und China
und pflas­tern die Seiden­straße mit großer ukrai­ni­scher Literatur

Das Gedicht traf etwas im Kern, das auch ich zu spüren begann, wenn ich voller Sorgen die Nach­richten aus diesem Land verfolgte, welches mir Nikolaj Gogol’, Lesja Ukrainka, Isaak Babel und Sholem Alei­chem beschert hatte, das Land, wo ich vor fast zwei Jahr­zehnten meine Disser­ta­tion geschrieben hatte, wo ich ukrai­ni­schen, russi­schen und jiddi­schen Muttersprachler*innen nahe­ge­kommen war. Die Ukraine – nicht nur ihre Dichter*innen, sondern das ganze Land – hatte mit ihrem unwahr­schein­li­chen Kampf um die Vertei­di­gung ihrer Demo­kratie in diesem neuen, verschärften Kriegs­zu­stand der Welt ein huma­ni­täres Hilfs­paket geschickt. Im Früh­jahr 2022 blickte die ganze Welt auf die Ukraine, während sie bewies, worauf es ankommt: Auf die Fähig­keit, die eigene poli­ti­sche Führung zu wählen, die histo­ri­sche Wahr­heit zu vertei­digen, auf eine Zivil­ge­sell­schaft, die mehrere Spra­chen, Geschichten und Reli­gionen in sich aufzu­nehmen vermag. Die ukrai­ni­schen Frei­wil­ligen vertei­digten das Land gegen die größte Armee Europas, und ihre Dichter*innen fassten diesen Kampf in Worte.

Ein Café in Kyiv

Ich hatte Iya Kiva im September 2019 in einem Café in Kyiv getroffen. Fünf Jahre zuvor hatte sie ihre Heimat Donezk verlassen, als der Krieg gegen die von Russ­land unter­stützten Sepa­ra­tisten ausbrach. Meine Freundin Yulija und ich hatten begonnen, gemeinsam ukrai­ni­sche Gedichte zu über­setzen und hatten mehrere Dichter*innen einge­laden, uns eines Morgens in diesem hellen, mehr­stö­ckigen Café zu treffen, das von Cappuc­cino über Cognac bis zu Gemüse-Smoothies einfach alles servierte. Iya schlüpfte in unsere Sitz­ecke. Sie war groß und schlank, hatte riesige braune Augen und wirkte in ihrem über­großen Pull­over und dem Trapez­rock unglaub­lich elegant. Sie schenkte uns Exem­plare ihres zweiten Gedicht­bandes, „Perša storynka zymy“ („Die erste Seite des Winters“), des ersten in ukrai­ni­scher Sprache – früher dich­tete sie in ihrer russi­schen Mutter­sprache. Iyas Gedichte entfalten sich manchmal in Alle­go­rien. Wie eine Land­karte legen sie die Schichten der kollek­tiven Tragö­dien frei, aus denen die Geschichte der Ukraine besteht. In einem Gedicht schreibt sie:

ich lebe zwischen Babyn Yar und dem Konzen­tra­ti­ons­lager Syrec
täglich gehe ich auf dieser Straße des Todes nach Hause
und lande im Berdyčiv der Vorkriegszeit

Iya hat sich mit ihrem fami­liären Hinter­grund – jüdisch, russisch und ukrai­nisch – ausein­an­der­ge­setzt. Sie habe Hebräisch­kurse besucht, erzählte sie mir, und inter­es­siere sich für Jiddisch. In manchen Gedichten schreibt sie über die Miss­ge­schicke der Geschichte, die im Zweiten Welt­krieg einen Teil ihrer Vorfahren in Berdyčiv in den Tod trieben, während andere im Donbas Zuflucht suchten.

Nach und nach stießen weitere Dichter zu uns: Natalia Belt­chenko, die gerade einen bedeu­tenden Preis beim Lemberger Buch­forum gewonnen hatte, war wie Iya dazu über­ge­gangen, nicht mehr in ihrer Mutter­sprache Russisch, sondern auf Ukrai­nisch zu schreiben. Belt­chenko, deren dunkle Augen von einer großen Plas­tik­brille umrahmt waren, foto­gra­fierte, wie ich bald erfuhr, gerne Vögel und Tiere in den Parks von Kyiv und postete sie auf Social Media. Vor ein paar Jahren war sie in Tscher­nobyl gewesen und hatte einen Zyklus über diese post­apo­ka­lyp­ti­sche Land­schaft ­– diese nukleare Zeit­kapsel aus Natur und Acker­land – nur 60 Meilen nörd­lich von Kyiv geschrieben.

in Lubjanka
Pole­sien, bewaldet
stol­perte ich durchs Gestrüpp
in die Zone
durch die schau­rige Schrift
und dort in den Wipfeln
der Wind des Vergangenen

Dann kamen Anton Polunin, er hatte einen langen Bart und Eyeliner wie ein Rock­star, und Slanislav Belsky, der Gedichte auf Russisch schrieb und ukrai­ni­sche Dichter ins Russi­sche über­setzte. Wir spra­chen über Oleh Sentsov, den Filme­ma­cher von der Krym, der kürz­lich im Rahmen eines Gefan­ge­nen­aus­tauschs mit Russ­land aus der Haft entlassen worden war, über den andau­ernden Krieg und darüber, wie die russi­sche und ukrai­ni­sche Gram­matik nicht-binäre Geschlech­ter­ka­te­go­rien berücksichtigt.

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Autor*innen der zivilen Wende

Die ukrai­ni­schen Dich­te­rinnen und Dichter haben seit 2014 gemeinsam eine Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte einer Gene­ra­tion, die darum kämpft, eine Iden­tität zu entwerfen, die sich sowohl von den zuneh­mend auto­ri­tären Strö­mungen im benach­barten Russ­land als auch vom pola­ri­sie­renden Natio­na­lismus Osteu­ropas in den 1990er Jahren absetzt. Sie sind die Autor*innen dessen, was oftmals als „zivile Wende“ in der Ukraine bezeichnet wird, eines Konzepts, das Volo­dymyr Kulyk, Karina Karus­te­lina und andere als Abkehr von einer ethnisch defi­nierten Vorstel­lung von Nation und als Hinwen­dung zu einer durch Staats­bür­ger­schaft defi­nierten Iden­tität defi­niert haben.

Nicht lange nach meiner Verab­re­dung zum Kaffee­trinken in Kyiv traf ich mich mit den Dich­tern Boris und Ljud­mila Cher­sonskij in ihrem Haus in Odessa auf einen Tee. Ljud­mila formu­lierte etwas, das mir auch in den Gedichten aufge­fallen war, die ihren Weg aus der Ukraine zu mir nach Kali­for­nien gefunden hatten: „Wir befinden uns seit fünf Jahren im Krieg“, erin­nerte mich Ljud­mila, „und doch haben wir in diesen fünf Jahren eine Frei­heit erlebt wie nie zuvor.“ Die Geschichte der ukrai­ni­schen Kultur mag bis in die Zeit der Kosaken zurück­rei­chen, doch sie ist auch eine Geschichte, die sich verän­dert und entfaltet. Es ist die Geschichte des Willens der Dichter*innen, ein Land zu entwerfen, das ihren Werten und ihrer Geschichte entspricht. Über viele Jahre hinweg haben sie das Terri­to­rium der Ukraine defi­niert, ein Land mit Grenzen, die im Laufe der Geschichte mehr in den kollek­tiven Erzäh­lungen der Ukrainer*innen als inner­halb der mili­tä­risch gesetzten Grenzen bestanden. „Wenn ich sterbe, lasst mich in einem Grab ruhen“, schrieb der roman­ti­sche Barde Taras Schewtschenko 1845, „in der weiten Steppe, in meiner geliebten Ukraine“. Als die ukrai­nisch­spra­chige Lite­ratur im 19. Jahr­hun­dert im Zaren­reich verboten wurde, begannen die Schrift­steller im Westen, in den habs­bur­gi­schen Ländern zu veröf­fent­li­chen und ihre Werke heim­lich in den Osten zu schmuggeln.

Boris Cher­sonskij, der in Odessa auf Russisch schreibt, hat diese poeti­sche Karto­gra­phie explizit gezeigt:

Kinder, das ist eine Geografiestunde.
Hier ist eine Karte. Lasst sie uns auswendig lernen.
Es gibt kein Sibi­rien oder Kolyma in der Ukraine.
Und hier ist die Vladi­mirka, ganz am Rande,
Ganz am Rande, da bin ich mir sicher, wenn auch nicht ganz.
Das ist eine Geografiestunde.
Dieses Land wird nicht verloren gehen.

Seit 2014 hat die Ukraine eine Art poeti­sche Explo­sion erlebt. Online-Zeitschriften und Lyrik­fes­ti­vals verviel­fachten sich. Die ukrai­ni­schen Dich­te­rinnen und Dichter benutzten die sozialen Medien, um diese Foren zu erwei­tern – um ihre Werke vorab zu veröf­fent­li­chen, ihre Gedichte gegen­seitig zu kommen­tieren und zu über­setzen. Eine Woche nach der russi­schen Inva­sion in die Ukraine im Jahr 2022 veröf­fent­lichte Kateryna Kalytko ein Gedicht auf Face­book, das die Macht der Sprache bekräftigt:

Am siebten Tag unun­ter­bro­chener Beobachtung
der zerstö­re­ri­schen Kraft der Waffen
begann ich wieder über unsere Sprache zu staunen.

Die Kraft der Sprache

Am Tag darauf postete Stanislav Belsky seine russi­sche Über­set­zung des Texts, ein Akt des Wider­stands gegen die Behaup­tung des Kremls, die russisch­spra­chigen Menschen in der Ukraine müssten vor den ukrai­ni­schen Natio­na­listen gerettet werden. Kalytko, Belsky und ihre Kolleg*innen versuchten mit ihren Worten, die Bedeu­tung der Iden­tität ihrer Nation neu zu beleuchten, indem sie die vergan­genen Trau­mata der Geschichte ihres Landes, die Konflikte zwischen den vielen Regionen und Subkul­turen der Ukraine und die Art und Weise, wie der Krieg die Poesie verän­dert, erkun­deten. Sie haben sich auch einge­hend mit der Frage beschäf­tigt, wie sich die Sprache in Zeiten des Krieges verän­dert. Der Dichter Ostap Slyvynsky hat sich dies zu Herzen genommen und damit begonnen, eine Reihe über­hörter Aussagen zusam­men­zu­stellen, die diese neue Verwen­dung gewöhn­li­cher Begriffe umreißen. „Worte sind nicht unschuldig“, schreibt er im Vorwort zu einem seiner Facebook-Posts unter „#Slov­nykVijny“ („Kriegs­le­xikon“). Alltäg­liche Wörter wie „Pflaume“ und „Dusche“ werden mit der gewalt­samen Inva­sion asso­zi­iert. „Ich kann nicht empfehlen, während schweren Beschusses zu duschen“, beginnt ein Beitrag, den Alek­sander aus Butscha erzählt.

Das zerstörte Drama Theater in Mariupol; Quelle: cbc.ca

Die zeit­ge­nös­si­schen ukrai­ni­schen Dichter*innen befinden sich an vorderster Front des Kampfs zwischen Russ­lands Ideo­logie der Macht und der vergan­genen Größe und der Möglich­keit einer bürger­li­chen Demo­kratie, die sich in dem noch jungen ukrai­ni­schen Staat abzeichnet. Ihre Worte sind ein Doku­ment der Schre­cken des Krieges im 21. Jahr­hun­dert. Doch ihre Geschichte ist auch ein Beweis dafür, warum wir Lyrik im 21. Jahr­hun­dert brau­chen – einem Jahr­hun­dert, das als Zeit der zuneh­menden Pola­ri­sie­rung, des Auto­ri­ta­rismus, schneller globaler Medien und der Umwelt­ka­ta­stro­phen begonnen hat. Gemeinsam haben sie mir, einer Komparatistik-Professorin an einer kali­for­ni­schen Univer­sität, einen weiteren Anlass geschenkt, im Zeit­alter der globalen Kommu­ni­ka­tion die Lite­ratur zu schätzen. Wie der Arabi­sche Früh­ling hat auch der ukrai­ni­sche Maidan 2013/14 der kurzen poeti­schen Form eine neue Bedeu­tung als Mittel zur Arti­ku­la­tion des Kampfes gegen den Auto­ri­ta­rismus verliehen. Unmit­telbar nach dem Einmarsch Russ­lands in die Ukraine im Jahr 2022 veröf­fent­lichten diese Dichter weiterhin Gedichte, und viele ihrer Werke wurden schnell in andere Spra­chen über­setzt und verbreitet. Ljubljana Jakumčuk wurde einge­laden, bei den Grammys 2022 ein Gedicht vorzu­tragen, begleitet von dem US-amerikanischen Pianisten John Legend; Serhij Zhadan begann, auf seinen Social-Media-Seiten regel­mäßig Inter­views mit ukrai­ni­schen Dichterkolleg*innen sowie mit Soldat*innen und einfa­chen ukrai­ni­schen Zivilist*innen zu veröf­fent­li­chen, während er daran arbei­tete, den frei­wil­ligen Wider­stand zu koor­di­nieren. Im Laufe des letzten Jahr­zehnts, einer Zeit zuneh­mender Tyrannei, hat sich die Poesie als Mittel zur Arti­ku­la­tion kollek­tiver Werte entwi­ckelt. Inmitten der uner­bitt­li­chen Luft­an­griffe, inmitten der schreck­li­chen Angriffe auf die Städte Mariupol, Butscha und Irpin packten die ukrai­ni­schen Dichter*innen ihre eigenen huma­ni­tären Hilfs­pa­kete: mit Sprache – dem ulti­ma­tiven Gefäß der Hoff­nung. Sie schickten sie nicht nur einander, sondern auch den Leser*innen jenseits der Grenze.

Über­set­zung aus dem Engli­schen und Ukrai­ni­schen: Anne Krier