Es ist noch nicht lang her, da hieß es, wir lebten in postheroischen Zeiten. Das Attribut glänzte wie andere mit dem Vorsatz ‚post-’ versehene Epochensignaturen nicht durch begriffliche Präzision. Mal bezeichnete es eine Mentalität oder einen Habitus, dann wieder eine Etappe im Modernisierungsprozess oder einen Modus der Kriegführung. ‚Postheroisch’ konnte sich aber ebenso auf eine Regierungskunst beziehen, welche die Hybris technokratischer Kontrolle abgelegt und die Komplexität des Sozialen anerkannt hatte. Darüber hinaus bezeichnete das Adjektiv auch Einstellungen und Gestimmtheiten, die sich nicht mit Pathosformeln vertrugen, für Appelle an Opferbereitschaft unempfänglich waren und zur Verehrung großer Männer und ihrer Taten allenfalls ein ironisches Verhältnis pflegten.
Wie die Rede von der Postmoderne nicht mit einem Abschied von der Moderne gleichzusetzen ist, markierte auch der Topos des postheroischen Zeitalters nicht das Ende, sondern ein Problematisch- und Reflexivwerden heroischer Orientierungen. Das Integrationspotenzial und die Mobilisierungskraft heroischer Anrufungen sind keineswegs erschöpft. Der diagnostizierten Fragwürdigkeit und Antiquiertheit von Heldenfiguren steht vielmehr ein fortdauernder Heldenhunger gegenüber, der reichlich bedient wird. Im Widerstreit disparater Heldenmodelle und mehr noch in der Kollision heroischer und postheroischer Leitbilder zeichnen sich die Konfliktlinien der Gegenwartsgesellschaft ab. Die letzten Monate lieferten dafür reichlich Anschauungsmaterial.
Heldengeschichten

Wie die ikonischen Helden auf Iwo Jima im Februar 1945…: Karikatur vom 1.4.2020; Quelle: mercurynews.com
Einmal mehr zeigte sich, schlechte Zeiten sind gute Zeiten für Heldengeschichten. Sie boomen immer dann, wenn der Alltag außer Kraft gesetzt ist und den Menschen besondere Zumutungen abverlangt werden. Je schriller die Krisensirenen heulen, desto größer der Hunger nach hingebungsvollen Nothelfern, entschiedenen Macherinnen und unbeugsamen Freiheitskämpfern. Ihr selbstloser Einsatz bestätigt den Ernst der Lage, verbürgt aber auch die Zuversicht, dass die Sache am Ende gut ausgehen wird. Sie bedienen gleichermaßen die Sehnsucht, sich im Augenblick der Gefahr an eine Autorität anzulehnen, wie den rebellischen Traum, sich keiner Autorität zu fügen. Heldengeschichten sollen anspornen, es den Vorbildern gleich zu tun; die respektvolle Verneigung vor ihren Großtaten entlastet aber auch davon, selbst die Komfortzone zu verlassen. Und selbstverständlich ist es billiger, Heroen des Alltags zu küren als für ihre angemessene Bezahlung zu sorgen.
Dass die Corona-Pandemie eine Heldenkonjunktur auslösen würde, war also zu erwarten, spätestens als Mitte März die Gesellschaft binnen weniger Tage in den Lockdown versetzt wurde. Den Anfang hatten zuvor schon Berichte über den chinesischen Arzt Li Wenliang gemacht, der früh vor dem Erreger gewarnt hatte, dafür polizeilich gemaßregelt wurde und bald darauf selbst an einer COVID-19-Infektion verstarb. Zunächst in den sozialen Medien als couragierter Whistleblower gegen die Vertuschungspolitik der chinesischen Regierung gefeiert, vereinnahmte diese ihn nach seinem Tod als herausragende Persönlichkeit im Kampf gegen das Virus. Ein anderes Beispiel war die erschöpft über ihrem Schreibtisch zusammengesunkene Krankenschwester aus einer Notaufnahme im norditalienischen Cremona, deren Foto viral ging.
Auch hierzulande stand das medizinische Personal im Mittelpunkt des sich rasch ausbreitenden Corona-Heldenkults. In den Schreckensbildern überfüllter Intensivstationen verdichteten sich die mit der Pandemie verbundenen Ängste, wurde die ansonsten unsichtbare Bedrohung anschaulich. Diejenigen, die an diesen Orten Dienst taten, mussten schon deshalb Heroisches leisten, weil sie unmittelbar in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt waren und sich selbst erhöhtem Infektionsrisiko aussetzten. Dass ihnen vielfach Schutzmasken und Sicherheitskleidung fehlten, bewies nur ihren Mut. Gern wurden militärische Metaphern bemüht: Pflegekräfte und Ärztinnen standen an vorderster Front im Krieg gegen die Seuche; solange sie die Stellung hielten, war die Schlacht nicht verloren. „Ihr seid die Helden dieser Stadt, macht den Virus platt!“, dichteten Fußball-Ultras etwas holprig auf einem riesigen Transparent, das sie gegenüber einem Krankenhaus in meiner Nachbarschaft aufhängten. Andere erwiesen ihnen mit abendlichem Applaus oder Balkonkonzerten ihre Reverenz. Die Erleichterung darüber, selbst in der Etappe bleiben zu können, war den Darbietungen anzuhören.

Quelle: allesdrucker.de
Rasch wurden weitere Berufsgruppen in den Heldenstand erhoben: Die Supermarktmitarbeiterinnen, die Sonderschichten einlegten, um die hamsternde Kundschaft zu bedienen und die leergekauften Regale aufzufüllen, die Müllmänner, die auch im Lockdown dafür sorgten, dass die Abfalltonnen geleert wurden, Paketboten, Polizistinnen, LKW-Fahrer, Altenpflegerinnen, um nur einige zu nennen. Ab dem 19. März stellte Spiegel online täglich einen Helden oder eine Heldin des Corona-Alltags vor, eine Woche später starteten auch die Tagesthemen eine Serie mit Alltagsheldenporträts. Wer auch immer eine als systemrelevant eingestufte Tätigkeit ausübte und sich um Gesundheit, Sicherheit oder die Versorgung mit Lebensmitteln kümmerte, durfte sich für einen Augenblick im Heldenglanz sonnen – rumänische Spargelstecher und Leiharbeiter in der Fleischindustrie ausgenommen.
Ungedeckte Großsprecherei
Die inflationäre Verwendung entwertete den Ehrentitel, dem ohnehin ein schaler Beigeschmack anhaftete. Pflegekräfte erinnerten daran, dass in den Kliniken seit langem chronischer Personalmangel herrschte und sie schon vor der Pandemie für wenig Geld am Limit gearbeitet hatten. Statt wohlfeiler Worte forderten sie Gehaltserhöhungen und Stellenzuwachs. Als ein großer Lebensmittel-Discounter, der wegen unzureichenden Arbeitsschutzes in die Kritik geraten war, kurzerhand sämtliche 83000 Angestellten in ganzseitigen Anzeigen zu Superhelden beförderte, verkam die Alltagsheldengala vollends zur PR-Aktion.
Der Heldenrummel ebbte denn auch bald wieder ab. Je deutlicher sich abzeichnete, dass in Deutschland der befürchtete Kollaps des Gesundheitssystems – vorerst jedenfalls – ausbleiben würde, desto entbehrlicher wurden die Heroinnen am Krankenbett und an der Supermarktkasse wieder. Diese hatten ohnehin längst gemerkt, dass sich für sie nach den fifteen minutes of fame wenig änderte. Rückblickend betrachtet, verschwammen in all den Ihr-seid-unsere-Helden-Kampagnen die Grenzen zwischen cleverem Marketing und dem redlichen Wunsch, endlich jenen die gebührende Anerkennung zuteil werden zu lassen, deren Arbeit normalerweise wenig Beachtung findet. Ob das Heldenlob vergiftet war, weil es Organisationsversagen kaschierte und die Gefeierten mit symbolischen Gratifikationen abspeiste, oder einfach nur eine freundliche Geste, die augenzwinkernd Pathosformeln aufrief, das ließ sich kaum unterscheiden.

Präsident Trump am World Economic Forum in Davos, 21.1.2020; Quelle: cnbc.com
Verkörperten die Alltagsheldinnen und -helden vor allem Einsatz- und Opferbereitschaft, so drehte (und dreht) sich bei den heroischen Selbstinszenierungen des politischen Personals alles um Gesten der Autorität. Ob präsidiale Helden-poser die Gefahr kleinredeten wie Bolsonaro, ob sie mit finsterer Miene „nous sommes en guerre“ verkündeten wie Macron, oder ob sie zuerst das eine und dann das andere Register zogen wie Trump oder Putin, die Botschaft war immer dieselbe: Kein Grund zur Sorge, wir haben alles im Griff!
Lautstark eine Souveränität zu behaupten, über die man offensichtlich nicht verfügt, ist eine riskante Strategie. Ungedeckte Großsprecherei kippt leicht in Selbstdemontage. Helden müssen sich bewähren, sonst erlischt ihr Charisma. Als heroisches Bewährungsfeld ist die Corona-Pandemie allerdings denkbar ungeeignet, von Entschlossenheitsrhetorik lässt sich das Virus nicht beeindrucken. Für die Bewältigung der Krise braucht es keine großen Männer und Frauen, sondern ein robustes Medizinsystem, koordinierte Forschung und wirtschaftliche Auffangprogramme. Vor allem aber ist jede und jeder Einzelne gefragt. Was dabei verlangt wird, ist ganz und gar unspektakulär: Zuhause bleiben, Abstand halten, Hände waschen, Nieshygiene. Heldenepen lassen sich daraus schwerlich destillieren.
Postheroische Politik
In Deutschland verzichteten die Kanzlerin, ihre Minister und die Ministerpräsidenten weitgehend auf Heldengetöse. Statt Feindbilder zu schüren und Durchhalteparolen auszugeben, appellierten sie an die Solidarität. Ihr postheroisches Auftreten trug maßgeblich dazu bei, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionszahlen auf breite Akzeptanz stießen und bald Wirkung zeitigten. Die große Mehrheit der Bevölkerung war bereit, den Verordnungen der politischen Krisenmanager Folge zu leisten, weil diese ihre Beschlüsse auf wissenschaftliche Expertise stützten, die Zumutungen nicht bagatellisierten und umso mehr zu Vorsicht drängten, als schwer absehbar war, wie sich das Pandemiegeschehen entwickeln würde. Markus Söder mochte seine Stirn noch so sehr in Falten legen und auf den Ernst der Lage pochen – selbst er mimte nicht den Retter in der Not, sondern den sorgenden Landesvater. Und wenn der Finanzminister mit der Bazooka Finanzspritzen verteilte und die Konjunktur mit „Wumms!“ wieder in Gang zu setzen versprach, wirkte das albern, aber nicht heroisch: Olaf Scholz goes Comic.
Auch die virologischen Experten, deren mediale Präsenz die der Politiker zeitweise noch übertraf, passten nicht recht ins Heldenschema. Sie gewannen paradoxerweise gerade dadurch Autorität, dass sie nicht alle Fragen beantworten konnten, sondern mitkommunizierten, was sie noch nicht wussten, und auf Grundlage neuer Erkenntnisse frühere Empfehlungen modifizierten. Etwas Postheroisches liegt schon in der präventiven Stoßrichtung virologischer Aufklärung: Weil sie Nichtereignisse herbeiführen will, fehlt ihr die Dramatik der rettenden Tat. Erfolgreich ist sie, wenn das Befürchtete ausbleibt. Der von Christian Drosten in Erinnerung gebrachte Satz, „There is no glory in prevention“, bedeutet auch: Es kann keine Vorbeugehelden geben.
Bleibt der Platz der Corona-Helden also leer? Die Alltagsheldinnen und -helden wollen keine sein; das politische Personal blamiert sich entweder mit seinem Maulheldentum, oder es verlegt sich auf die wenig heldenkompatible Rolle des guten Hirten; wissenschaftliche Expertise schließlich lässt sich ohnehin kaum in heroisches Kapital konvertieren. Ein weißer Kittel taugt nicht als Heldenmontur. Auf den ersten Blick scheint die Corona-Krise die Diagnose der postheroischen Gesellschaft zu bestätigen. Der Heldenboom – bestenfalls ein Strohfeuer.
Zumindest die polarisierende Kraft heroischer Narrative ist allerdings ungebrochen. Denkmalssturz geht auch mit Talkshowsesseln. Politiker und Expert mögen als Helden ausgedient haben, als Sündenböcke funktionieren sie allemal. Der Autorität, die ihnen vor allem zu Beginn der Pandemie zuwuchs, entspricht der Hass, den jetzt notorische Wutbürger und Verschwörungsmythologen über sie ausschütten. Und diejenigen, die sich nun als Heroen des Widerstands gegen die Regierungsmaßnahmen inszenieren, bestätigen einmal mehr: Wo Helden die Bühne betreten, besteht Anlass zur Sorge.