Die Reaktionen auf die Vorfälle der Silvesternacht in Köln haben die Schleusentore des Rassismus und der populistischen Demokratieverachtung weit aufgedrückt. Seither häufen sich die Rufe nach Abschiebung, Ausschaffung und schärferen Gesetzen.

Das Jahr ist erst ein paar Wochen jung, doch es fühlt sich schon alt, grau und bösartig an. Das begann mit der Silves­ter­nacht in Köln. Die Reak­tionen auf die Vorfälle vornehm­lich in den social media und den Kommen­tar­spalten der online-Medien haben in wenigen Tagen die Schleu­sen­tore des Rassismus und der popu­lis­ti­schen Demo­kra­tie­ver­ach­tung gefähr­lich weit aufge­drückt. Und seither häufen sich die Rufe nach Abschie­bung, Ausschaf­fung und schär­feren Gesetzen.

Es war daher umso auffal­lender, dass Weltwoche-Chef Roger Köppel in der ersten Ausgabe des neuen Jahres ein launiges Edito­rial über die Lektüre in seinen Weih­nachts­fe­rien schrieb, ohne mit einem Wort auf #kölnhbf einzu­gehen. Allein, seine Lektüre führte ihn dennoch nach Deutsch­land. Eine von der Forschung längst über­holte Biogra­phie über den Nazi-Reichsmarschall Hermann Göring, verfasst vom engli­schen Jour­na­listen Leonard Mosley 1975 – mate­ri­al­reich, aber analy­tisch schwach, wie die FAZ seiner­zeit notierte –, fand das wort­reiche Wohl­wollen Köppels. Mosley erscheint ihm als Biograph, der „versucht Göring zu verstehen, ohne ihn zu recht­fer­tigen“. Man hält den Atem an: Ist es über­haupt denkbar, dass man in Versu­chung kommen könnte, Göring „zu recht­fer­tigen“? Roger Köppel inter­es­siert sich offen­kundig nicht für den Kriegs­ver­bre­cher Göring, und er will auch nicht den NS verstehen (im Sinne von begreifen, dazu unten mehr), sondern erwärmt sich gera­dezu für Göring als Menschen und will, mit Mosley, „diese[r] verfemte[n] Gestalt in der Viel­falt ihrer Eigen­schaften gerecht“ werden.

Roger Köppel, 2015. Quelle: youtube.com

Das beginnt damit, dass Köppel es zum Beispiel mitteilens- und beschrei­ben­s­wert findet, Göring sei „mit ausser­or­dent­li­chen Frauen verhei­ratet“ gewesen: „Seine erste war eine bestens situ­ierte, nach Bildern zu urteilen wunder­schöne schwe­di­sche Gräfin, die für den damals noch fast mittel­losen und wegen einer Verlet­zung bald morphi­um­süch­tigen deut­schen Ex-Piloten Anfang der zwan­ziger Jahre ihren ange­se­henen Ehemann, einen ehema­ligen Olym­pia­sieger, verliess.“ Abge­sehen davon, dass Görings Verlet­zung nicht etwa von der Kriegs­flie­gerei herrührte, wie man meinen könnte, sondern von seiner uner­wähnten Betei­li­gung am Hitler-Putsch 1923, und auch abge­sehen davon, dass diese „ausser­or­dent­liche“ Frau Hitler von Anfang an glühend verehrte, wäre diese harm­lose Männer­ge­schichte nicht weiter der Rede wert. Aber Köppel insis­tiert, sicht­lich von Göring beein­druckt: „Irgend­etwas muss der noch kaum arri­vierte, blau­äu­gige Göring gehabt haben.“ Man muss es zweimal lesen: „noch kaum arri­viert“… Aber die Görings arbei­teten daran, als engste Vertraute Hitlers. Köppel sagt dazu kein Wort, dafür notiert er, dass Göring seine Gräfin, die „wenige Jahre nach der Eheschlies­sung 1931″ verstarb, „leiden­schaft­lich“ geliebt habe. Das ist sehr schön.

Doch die entschei­denden Züge dieses „blau­äu­gigen“ Verbre­chers bleiben voll­ständig uner­wähnt: Göring der Mitstreiter Hitlers beim Aufbau der NSDAP, Göring der Schlächter der linken Oppo­si­tion in den Wochen und Monaten nach der „Macht­er­grei­fung“, Göring der Gründer der Gestapo, Göring der Initiant der ersten KZs, Göring, der die Arisie­rung jüdi­scher Firmen ebenso wesent­lich voran­trieb wie wenig später die Vernich­tungs­po­litik, u.s.w. u.s.f. – Köppel lässt das alles unter den Tisch fallen, um statt­dessen zu schreiben: „Göring war weder Monster noch Teufel. Sein Trauma war der Absturz Deutsch­lands nach dem Welt­krieg 1918.“ Mitt­ler­weile erklärt sich anschei­nend fast alles durch ein „Trauma“, selbst die Verbre­chen der führenden Nazis. Aber Köppel „versteht“ nicht nur dieses angeb­liche „Trauma“, er „versteht“ nach der Lektüre Mosleys vor allem auch den Zweiten Welt­krieg, zumin­dest als „Vermu­tung“:

Die für mich erstaun­lichste Erkenntnis ist die Vermu­tung, dass der Zweite Welt­krieg von Hitlers Clique gar nicht bewusst begonnen, sondern gleichsam hasar­die­rend und planlos in Kauf genommen wurde. Nicht nur die Deut­schen waren einem Blender auf den Leim gekro­chen. Man darf den Faktor Unfä­hig­keit in der Politik nie unterschätzen.

Keine Frage: Solche „Erkenntnis“ ist nichts anderes als eine die Opfer verhöh­nende und die Täter wieder ins warme Licht des „Verste­hens“ rückende Verharm­lo­sung des Natio­nal­so­zia­lismus und ihrer verbre­che­ri­schen Krieg­füh­rung – und zudem die älteste aller Recht­fer­ti­gungs­lügen, die nach dem Krieg populär wurde: Alle, ange­fangen bei Göring, waren angeb­lich von Hitler verführt worden, und niemand in der NS-Führung wollte „eigent­lich“ den Krieg, alle waren scheinbar „planlos“ rein­ge­rutscht, vom deut­schen „Volk“ gar nicht zu reden. Das ist, wie längs­tens durch ganze Biblio­theken von Forschungs­li­te­ratur erwiesen, einfach falsch: Die von Göring verant­wor­tete Wieder­auf­rüs­tung der Wehr­macht, die Mili­ta­ri­sie­rung und Gleich­schal­tung der Gesell­schaft, der Einmarsch in Polen und die bewusste Inkauf­nahme des Zweiten Welt­krieges, auch die ganze damit verbun­dene biopo­li­ti­sche „Umvol­kungs“- und Vernich­tungs­po­litik, basierten auf sorg­fältig ausge­ar­bei­teten Plänen und unver­hoh­lenen poli­ti­schen Konzepten (was nicht heisst, dass das Herr­schafts­system des NS nicht auch chao­tisch gewesen sei und sich die Ereig­nis­dy­namik des Krieges und der Vernich­tungs­ma­schi­nerie immer an diese Pläne gehalten hätte).

Hermann Goering circa 1935 (Foto von Three Lions/Getty Images)

Hermann Goering, circa 1935 (Foto von Three Lions/Getty Images)

Doch davon spricht Köppel nicht, sondern allein davon, dass Mosley „am Beispiel Görings auch irgendwo der Tragik nach­spürt, von der die Deut­schen, eine der bis dahin zivi­li­sier­testen Nationen Europas, im letzten Jahr­hun­dert befallen wurden“. Statt histo­ri­scher Erklä­rung schick­sal­hafte „Tragik“, die – man scheint nicht zu wissen warum – ganz uner­wartet das zivi­li­sierte Deutsch­land „befällt“. Auch diese Legende ist längst wider­legt: Der NS war nicht einfach ein schick­sal­hafter Zivi­li­sa­ti­ons­bruch, sondern die von vielen gewollte und mitge­tra­gene Radi­ka­li­sie­rung einer bestimmten Form der Moderne. Rassismus, Diktatur und Vernich­tungs­krieg sind nicht uner­klär­liche „Tragik“, sondern auch Teil der Geschichte Europas.

Roger Köppel scheint das anders sehen zu wollen: Hitler allein wäre demnach die Mons­tro­sität, die niemand versteht, und die bedau­er­li­cher Weise von Göring nicht aufge­halten wurde, obwohl dieser das „Verhängnis“ kommen sah. Es gibt für solche Darstel­lungen einen präzisen Begriff: Geschichts­lügen. Nicht dass Köppel leugnen würde, dass Göring zu Hitlers „Clique“ zählte und „an der Spitze eines krimi­nellen Staats stand, der Leichen­berge, ein verwüs­tetes Deutsch­land und einen zerbombten Konti­nent hinter­liess“. Doch er verwe­delt Görings verbre­che­ri­sche Taten und politisch-moralische Verant­wort­lich­keit so sehr zur Unkennt­lich­keit, dass hinter diesem seman­ti­schen Nebel und auf Hitlers „Leim“ auch gleich die gesamte Verant­wor­tung des Nazi-Machtapparates und der ihn stüt­zenden Teile der Bevöl­ke­rung verschwindet. Anstelle dieser Frage nach der poli­ti­schen und mora­li­schen Verant­wor­tung erscheint im Edito­rial viel­mehr „der Mensch“ als das „sich selbst grösste Rätsel“ – und die damit verknüpfte Behaup­tung, dass „niemand sicher sein“ könne, „dass nicht auch er mit den vermeint­lich besten Absichten in der grössten Kata­strophe endet“. Alle, auch die mit den besten Absichten, stehen – wie: ,letzt­lich‘, als „Mensch“? – auf einer Stufe mit Göring? Hatte Göring gar „beste Absichten“…?!

Man kann nur hoffen, dass Köppel das alles ,nicht so gemeint‘ hat. Denn in dem Masse, wie das mora­li­sche Funda­ment Deutsch­lands, ja Europas auf der Aner­ken­nung der Tatsäch­lich­keit und des Ausmasses der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Verbre­chen mit breit­ge­streuter Verant­wort­lich­keit bis in weite Bevöl­ke­rungs­kreise hinein (und dies nicht nur in Deutsch­land) beruht, rüttelt Köppel mit solchen Sätzen an diesem Funda­ment. Es ist leider schwer vorstellbar, dass er das bloss „hasar­die­rend und planlos in Kauf“ nimmt. Damit aber wäre er, im Medium der Geschichts­deu­tung fein­geistig subli­miert, schon dort ange­kommen, wohin die dumpf-dröhnenden online-Kommentare nach #kölnhbf zielen.

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

Zurück in die Schweiz. Wenn man sich an Köppels Auslas­sungen zu Göring hält, dann fürchtet er in der Politik nichts so sehr wie die „Unfä­hig­keit“. Allein, zu was, oder um was genau zu tun – heute? Nach drei Stern­chen, über deren Funk­tion man speku­lieren kann, schreibt Köppel über die Durch­set­zungs­in­itia­tive. Man versteht: es ist die angeb­liche Unfä­hig­keit von Parla­ment und Bundesrat, den Volks­willen zu respek­tieren und einen Auto­ma­tismus so zu instal­lieren, wie „das Volk“ ihn „will“. Fähig hingegen hiesse: Durch­setzen auch gegen rechts­staat­liche Einwände, durch­setzen gegen Grund­lagen des Völker­rechts und durch­setzen gegen unver­äus­ser­liche Indi­vi­du­al­rechte. Hier nicht „konse­quent“ genug zu sein, ist für Köppel fraglos „Unfä­hig­keit“.

Dass er wenige Zeilen zuvor noch um „Verständnis“ für den Kriegs­ver­bre­cher Hermann Göring ringt, dessen angeb­li­ches „Trauma“ der deut­schen Nieder­lage von 1918 entschul­di­gend ins Feld führt und „den Menschen“ über­haupt für „das grösste Rätsel“ hält, hindert ihn nicht daran, zu fordern, dass „auch die hier gebo­renen Secondos“ ohne weitere Prüfung ausge­wiesen werden müssen, was fraglos deren Leben zerstört. Köppel kümmert’s nicht. Bei delin­quie­renden Auslän­dern gibt es für ihn nichts zu „verstehen“. Bei Göring, Karriere- und Macht­mensch, Kriegs­ver­bre­cher und Massen­mörder, indes schon. Hier werden Koor­di­naten verschoben, über den Abstim­mungs­termin vom 28. Februar hinaus.