
Als Michael Rothbergs Buch Multidirektionale Erinnerung: Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung mit einem einführenden Interview und einem ausgezeichneten Nachwort von Felix Axter und Jana König auf Deutsch erschien, begann eine erstaunliche Diskussion. Der Text, der in der englischen Fassung als Beitrag zur „dritten Phase“ (Astrid Erll) der Gedächtnisforschung rezipiert worden ist, wurde als postkolonialer Angriff auf eine schwer errungene deutsche Erinnerungskultur verstanden: als Relativierung des Holocaust durch den Vergleich mit anderen Menschheitsverbrechen und nicht zuletzt als Rückweisung der Singularität der Shoah. In den Reaktionen auf das Buch, mit ihrem tatsächlichen oder taktischen Missverstehen, klangen die „Mbembe-Debatte“ und der sogenannte Historikerstreit 2.0 nach. Um diese Debatten soll es hier nicht gehen, sondern vielmehr um das Buch selbst: Was bedeutet eigentlich „multidirektionale Erinnerung“? Und warum lohnt es, darüber nachzudenken? Denn dem Buch ist ein großes Publikum zu wünschen, das sich neugierig und unvoreingenommen in das von Rothberg aufgeschlossene „Archiv der multidirektionalen Erinnerung“ begibt, und auf seine kaleidoskopartige Zusammenstellung und Diskussion politischer Ereignisse und intellektueller Positionen, dokumentarischer, journalistischer und literarischer Texte sowie Filme und Bilder einlässt.
Ausgangslage

Deutsche Übersetzung, Metropol-Verlag (2021)
Die Ausgangsfrage von Michael Rothberg, Professor für Komparatistik und Englische Literatur an der Universität Kalifornien (UCLA) und zugleich Samuel Goetz Chair in Holocaust Studies, lautet: Was passiert, wenn Erinnerungen an unterschiedliche Gewaltverbrechen innerhalb einer Gesellschaft aufeinandertreffen? Ausgehend von der These, dass Erinnerung keine begrenzte Ressource ist, und im Rückgriff auf seine eigenen literaturwissenschaftlichen Forschungen zu Holocaust, Rassismus und Schwarzer Geschichte, entwickelte er das sowohl retrospektive als auch zukunftsbezogene Konzept der multidirektionalen Erinnerung. Retrospektiv, denn es ist ihm aufgefallen, dass schon lange vor 1960, also einer Zeit, die zumindest in Deutschland als „bleierne Zeit“ des Schweigens bezeichnet wurde, wichtige wechselseitige Bezüge zwischen Holocaust und Kolonialismus, zwischen Rassismus und Antisemitismus in Europa und den USA, in der Karibik und Afrika hergestellt worden sind, auf die sich eine künftige Erinnerungskultur berufen kann, indem sie an diese „produktive Interaktion disparater Gedenkakte“ anknüpft. So ist sein Buch zugleich ein erhellender Beitrag zu einem wenig bekannten Aspekt der Nachkriegsgeschichte bis etwa 1961, dem Jahr des Eichmannprozesses und des Massakers von Paris.
Das weit aufgespannte literarische und kulturhistorische Panorama der vier Teile des Buches kann hier nur in groben Zügen angedeutet werden. Im Mittelpunkt stehen jeweils zentrale Texte, die Rothberg sowohl historisch als auch erinnerungstheoretisch untersucht, und um die er weiteres Material gruppiert. So entstehen Konstellationen, anhand derer er sein Modell entwickelt und diskutiert, beginnend mit Hannah Arendt und Aimé Césaire, die aus entgegengesetzten Richtungen über den Zusammenhang von Imperialismus, Totalitarismus und die Vernichtung der europäischen Juden als Bumerang-Effekt (Arendt) bzw. choc en retour (Césaire) nachgedacht haben.

Englische Ausgabe von 2009 bei Stanford University Press.
Im zweiten Teil zu „Räumen und Orten der Erinnerungsverschiebung“ besucht der amerikanische Bürgerrechtler und Soziologe W.E.B. Du Bois, der übrigens in engem Austausch mit Max Weber unter anderem über koloniale Arbeiterfragen stand, die Ruinen des Warschauer Ghettos. Ein Besuch, der sein Nachdenken über „Rassenfragen“ nachhaltig veränderte und laut Rothberg „zum Anlass der Modellierung Multidirektionaler Erinnerung“ wurde. Sein Text von 1952 wird zusammen mit Texten von André Schwarz-Bart und Caryl Phillips gelesen, die ebenfalls „zusammenführen, was es angeblich auseinanderzuhalten gilt.“
Der dritte Teil widmet sich dem Aufkommen der Zeugenschaft in einem multidirektionalen Netzwerk der Erinnerung, das von Überlebenden des Holocaust und von Überlebenden der Gewalt der Dekolonisierung, insbesondere des Algerienkrieges, geschaffen wurde. Am Beginn steht mit Chronik eines Sommers (1961) ein Dokumentarfilm als „radikales ästhetisches und soziologisches Experiment“, dessen Zentrum der Zeitzeugenbericht einer Holocaustüberlebenden ist. Gegengelesen wird der Film von Jean Rouch und Edgar Morin mit den ebenfalls experimentellen Les Belles Lettres von 1961, einer Zusammenstellung von Briefen zum Algerienkrieg, versehen mit Kommentaren von Charlotte Delbo, die drei Konzentrationslager überlebt hatte. Es geht um unterschiedliche Formen von Zeugnissen in einer Zeit, in der der Kolonialismus an sein Ende kam und zugleich die Bedeutung des Holocaust im öffentlichen Bewusstsein in Europa, Israel und den USA zentraler wurde.
Der vierte Teil geht anhand von einem wenig bekannten Text von Marguerite Duras und einem wiederentdeckten Roman von William Gardner Smith der Frage nach einer möglichen oder unmöglichen Universalisierung des Holocaust nach, und thematisiert schließlich die Figur des Kindes als „Träger einer unbehaglichen multidirektionalen Erinnerung“ sowie die Möglichkeit einer Ethik multigenerationeller Erinnerung, u.a. im Film Caché (2005) von Michael Haneke und dem Jugendroman La Seine était rouge (1961) von Leïla Sebbar.
Erinnerung, so Rothberg, findet nicht im Singular statt, „Vergleich, Analogie, Aneignung und Nachhall sind unvermeidliche Bestandteile aller Artikulationen von Erinnerung“. Dabei differenziert er allerdings zwischen Vergleichen, die Unterschiede anerkennen und bewahren, und solchen, die Unterschiede nivellieren. Er widmet sich seinen Lektüren mit großer Sorgfalt, fast liebevoll, aber niemals affirmativ oder unkritisch. Denn es ist ihm wichtig, dass der Holocaust, ganz im Sinne Dan Diners, nicht zu einer historisch und politisch entleerten Chiffre für das größte denkbare Unrecht wird – eine Tendenz, die er in manchen der von ihm untersuchten Texten durchaus feststellt.
Barbaren an der Grenze des Eurozentrismus
Wenn am Beginn von Rothbergs Untersuchung Hannah Arendts Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft steht, trägt dies zunächst einmal ihrer großen Bedeutung Rechnung. Es handelt sich bei dem komplexen und sehr viel diskutierten Buch zudem um einen frühen Versuch der Erforschung des Zusammenhangs von Imperialismus, Kolonialismus und Totalitarismus. Hannah Arendt liefert in gewisser Weise mit ihrer Vorgehensweise ein Modell für Rothberg: So wie sie nicht stringent „Stufen der Barbarei“ als historischen Ablauf entwickelt, sondern Konstellationen (bzw. im Sinne Walter Benjamins Kristallisationen) untersucht, entwickelt auch er keine stringente Theorie der multidirektionalen Erinnerung. Er geht verschiedenen Konstellationen des In-Beziehung-Setzens von Holocaust und Kolonialismus nach – auch am Beispiel von Hannah Arendt.
Arendt hat sich zentral und immer wieder mit dem Thema „Rasse“ und Rassismus auseinandergesetzt und versucht zu erklären – das kann hier nur angedeutet werden –, dass die koloniale Erfahrung entscheidend für den Rassebegriff des 20. Jahrhunderts war. Hier verlor „die Idee der Menschheit und des gemeinsamen Ursprungs des Menschengeschlechts“ zum ersten Mal ihre Überzeugungskraft, wie sie in Elemente und Ursprünge schrieb. Dabei greift sie im Kapitel zur „Gespensterwelt des schwarzen Erdteils“ unter anderem auf Joseph Conrads Schilderungen der Barbaren zurück, um den Schock der Kolonisatoren angesichts der Kolonisierten zu erklären, die sie als geschichts- und kulturlos aus der Menschheit ausschlossen und vor deren Übermacht sie sich gleichzeitig fürchteten. Diese Wahnvorstellung von den „wilden Horden“ und der „überwältigenden Ungeheuerlichkeit Afrikas“ hat allerdings wenig mit der Geschichte Afrikas zu tun. Und sogar der Schock der Kolonialherren resultierte aus etwas anderem, als es Conrad und mit ihm Arendt beschrieben. Nicht vor Kriegerhorden fürchteten sich die Buren in Südafrika, sondern vor schwarzen Farmern, die erfolgreich für den Markt der entstehenden Minenindustrie produzierten. Aus diesem Grund entmachteten sie ihre Konkurrenten mit Hilfe von Rassengesetzen politisch und ökonomisch. Rassengesetze und genozidale Kriege hatten im südlichen Afrika, der Rassengesellschaft par excellence, viel mehr mit kapitalistischen Interessen denn mit Urängsten der Europäer vor dem afrikanischen Herz der Finsternis zu tun. Verstörend ist nun allerdings Arendts „Zweiteilung des Menschlichen“, die Afrikaner:innen zumindest historisch vom „Projekt der Errichtung einer gemeinsamen Welt“ ausschließt. Sie referiert nicht einfach Ideen zur Geschichts- und Kulturlosigkeit Afrikas, sondern sie hatte, wie es Iris Därmann im Gespräch mit René Aguigah treffend formulierte, keinerlei Zugang zur politischen Subjekthaftigkeit des Kontinents. Dabei hat sie zugleich Rassismus – zum Beispiel in ihrem Aufsatz Race-Thinking Before Racism von 1944 – als hauptsächliche Waffe des Imperialismus bezeichnet und Rassendenken als Zerstörung von Gleichheit und Solidarität aller Menschen betrachtet.
Rothberg geht es nicht darum, Verblendungen und blinde Flecken anzuprangern, sondern mit seiner Rekonstruktion etwas zu erschließen und aufzuschließen, indem er danach fragt, aus welchem Grund Arendt ausgerechnet Conrad bemüht, und er zeigt, dass es ihr mit dem Zusammendenken von Imperialismus und Antisemitismus gelingt, etwas Spezifisches herauszuarbeiten: Die Figur des Barbaren wird bei ihr nämlich Voraussetzung dafür, etwas Neues zu denken: nicht den in der menschheitsgeschichtlichen Vergangenheit positionierten Wilden, sondern den in der Gegenwart der KZs geschaffenen, aller Rechte und jeglicher Geschichte entkleideten Menschen.
„Der imaginierte kulturlose Wilde – der imaginierte Barbar – liefert den metaphorischen Hintergrund für zwei zentrale ‚Charaktere‘ von Arendts Analyse: den nackten, der Kultur beraubten Menschen, und den staatenlosen Lagerhäftling, der des Rechtes beraubt ist, über Rechte zu verfügen.“
Wenn Hannah Arendt allerdings die Imaginationen weißer, in die Defensive gedrängter Buren oder britischer Kolonialherren zitiert, ob zustimmend oder nur referierend, wobei zweiteres angesichts ihrer Ausführungen zur kolonialen Realität eher unwahrscheinlich ist, und aus bloßer Unkenntnis – so darf man unterstellen – Afrika als geschichts- und gesetzlos phantasiert, kann eine multidirektional verstandene Geschichte dabei helfen, Arendts bahnrechende Erkenntnisse stehen zu lassen und mit der Kritik ihrer blinden Flecken zugleich eine andere Geschichte zu reaktivieren: die der Schwarzen südafrikanischen Intellektuellen und der kommerziellen Farmerinnen, der Gewerkschaften und literarischen Projekte.
Erinnerungspolitik
Rothberg sagt nicht, es ist viel oder gar genug erreicht, was die Erinnerung an den Holocaust und die Forschung dazu betrifft, und nun sollten wir uns den Themen Rassismus und Kolonialismus zuwenden, im Gegenteil. Er spricht davon,
„wie sehr eines der bedeutendsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts bei der Ausarbeitung einer politisch und historisch sensiblen Kulturwissenschaft übergangen worden ist. Die Kulturwissenschaft im Allgemeinen und die Postcolonial Studies im Besonderen haben dazu tendiert, Fragen extremer Gewalt wie die, über die Du Bois nach seinem Besuch in Warschau nachgedacht hat, zu meiden …“
An diese frühe Auseinandersetzung eines Schwarzen Intellektuellen mit der Shoah knüpft Rothberg an und zeigt nicht nur, wie früh, sondern auch wie dicht die gegenseitigen Bezüge in den Texten jüdischer und schwarzer Autor:innen waren. Diese Geschichte gilt es zu erzählen anhand konkreter Beispiele, die das Konzept der multidirektionalen Erinnerung skizzieren, formen, erläutern, zur Diskussion stellen.
Die Idee der multidirektionalen Erinnerung ist insofern sehr wohl ein erinnerungstheoretischer Beitrag zu einer aktuellen Debatte, als er danach fragt, wie in einer globalen und globalisierten Welt die Erinnerung an die Shoah nicht zu einer Metapher verkommt, nicht allein in Staatsakten beschworen, sondern in der Zivilgesellschaft wachgehalten werden kann, und wie sie zum Ausgangspunkt für eine noch weiter gespannte Frage werden kann, wie nämlich Eurozentrismus überwunden werden kann, ohne zentrale Werte der Aufklärung und Emanzipation zur Disposition zu stellen.
Bezüge zwischen Kolonialismus und Holocaust sind dabei geradezu zwingend, und zwar nicht, weil es historische Verbindungslinien gibt, sondern weil die Auseinandersetzung mit dem Holocaust nicht nur Vorbild für Erinnerungskultur, Public History, die Aufarbeitung anderer Völkermorde, ethnischer Säuberungen und Verbrechen war und ist, sondern weil sie überhaupt erst die Voraussetzung für die Möglichkeit eines neuen Umgangs mit Geschichte war. Nach dem Zweiten Weltkrieg, dies drang in der von Rothberg untersuchten Periode ins Bewusstsein einer weltweiten Öffentlichkeit, ließ sich nicht einfach ein neues Kapitel im Buch der Geschichte aufschlagen, wie nach den Kriegen der Vergangenheit. Dass Geschichte aufgearbeitet werden muss, ist keine Selbstverständlichkeit.
Rothberg soll widersprochen werden, im Einzelnen und selbst, was das gesamte Konzept der multidirektionalen Erinnerung betrifft; das ist der Sinn wissenschaftlicher Debatten. Natürlich kann „Erinnerung“ zur knappen Ressource werden, es gibt Konflikte und konkurrierende Interessen hinsichtlich begrenzter Geldmittel und sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Politik begrenzte Aufmerksamkeitskapazitäten. Wer das Buch gelesen hat, kann sich über den Vorwurf, Rothberg würde die Singularität der Shoah in Frage stellen und ihn in die Nähe einer „Schlussstrichdebatte“ rückt, allerdings nur wundern, schrieb Urs Lindner ganz zu Recht im Tagesspiegel. Es geht auch nicht um eine „Normalisierung“ von Geschichte durch Vergleiche, sondern ganz im Gegenteil darum, wie das schwer errungene Gedenken an die Shoah in einer zunehmend globalisierten Welt sinnvoll und sinnstiftend bleiben kann, ja muss. Bei der Suche danach kann der Rückgriff auf das von Rothberg aufgeschlossene solidarische Archiv inspirieren und Wege weisen, denn in den von ihm diskutierten Erinnerungstexten jener, die mehrfach Zeugen geworden sind und Erfahrungen in unterschiedlichen Regimen gemacht haben, werden Verbindungen, Vergleiche, Unterschiede und Möglichkeiten der Solidarität diskutiert.