„Vielfalt“ und „Ausgewogenheit“ werden von einigen Medien neuerdings als hohes Qualitätsmerkmal eingestuft. Das ist eigentlich toll. Aber was bedeutet es konkret? Sind Medien, die keine „rechten“ oder „populistischen“ Meinungen bringen, „einseitig“? Über „Vielfalt“ als Legitimation für Propaganda.

Es war sicher­lich kein Zufall, dass ausge­rechnet Ende der 1920er Jahre in der zuneh­mend tota­li­tärer werdenden Sowjet­union über Viel­stim­mig­keit nach­ge­dacht wurde. Der berühm­teste, aber nicht der einzige Denker des Viel­stim­migen war der Philo­soph Michail Bachtin. Er hatte 1929, kurz bevor er wegen angeb­li­cher konter­re­vo­lu­tio­närer Tätig­keit an die kasa­chi­sche Grenze verbannt worden war, ein Buch über Fedor Dostoevskij veröf­fent­licht. Darin las er Dostoevskij als einen Denker, der in seinen Romanen erzäh­le­risch etwas radikal Neues entwi­ckelt habe: eine agonale Struktur gleich­wer­tiger Stimmen. Bachtin nannte es die „Viel­falt selb­stän­diger und unver­mischter Stimmen und Bewußts­eine, die echte Poly­phonie voll­wer­tiger Stimmen.“

Was Bachtin damit meinte, war zunächst etwas Einfa­ches. Er stellte fest, dass Dostoevskij den Figuren im Roman nicht seine oder die Welt­sicht des Erzäh­lers aufzwingt. Viel­mehr gebe es keine Hier­ar­chie, alle kommen zu Wort und streiten mitein­ander – das sei das Prinzip des viel­stim­migen Romans. Der Ortho­doxe rede wie ein Ortho­doxer, der Slawo­phile wie ein Slawo­philer, der Sozia­list wie ein Sozia­list und der Erzähler redet mit ihnen und nicht über sie. Dostoevskij führte so auch vor, wie Welt­an­schau­ungen funk­tio­nieren, welche rheto­ri­schen Tricks sie nutzen, worin sich ihre Argu­mente und Narra­tive unter­scheiden und wie man mit Ideo­logen reden oder nicht reden kann.

Viel­stim­mig­keit gegen Ideologie

Poli­tisch betrachtet sah Bachtin in Dostoevs­kijs Romanen so etwas wie ein demo­kra­ti­sches, hier­ar­chie­freies Sprech­prinzip am Werk. Und auch Sergej Eisen­stein schrieb Ende der 1920er Jahre von Poly­phonie als Demo­kratie. Eine poly­phone Montage beim Film, so Eisen­stein, verkör­pere das Prinzip der sinn­li­chen Demo­kratie, während z.B. die soge­nannte Domi­nan­ten­mon­tage, die immer einem Reiz oder einer Perspek­tive den Vorrang verleiht, dem Prinzip der Aris­to­kratie entspreche. Sowohl Bachtin als auch Eisen­stein hätten mit dieser Idee von Poly­phonie eigent­lich zu Ikonen einer prole­ta­ri­schen Kunst werden müssen, wenn nicht gerade deren poli­ti­sche Vertreter statt einer Demo­kratie eine – mit Bachtins Begriffen – mono­lo­gi­sche Gesell­schaft im Auge gehabt hätten.

Mono­lo­gisch galt Bachtin als das Gegen­teil von poly­phon und dialo­gisch. Mono­lo­gisch meint dabei nicht, in Mono­logen zu spre­chen, sondern bedeutet, dem anderen seine Perspek­tive aufzu­zwingen und diese für einzig gültig zu erklären. Mache man dies, so Bachtin, versetze man den anderen in die Posi­tion eines bloßen Objekts, man redet über ihn, nicht mit ihm. Diese Rede­po­si­tion schließt immer die Illu­sion der eigenen Allmacht ein und ist ein Spre­chen als Gott oder als Stalin oder im Namen des Volkes, also im Grunde Reli­gion, Ideo­logie oder Popu­lismus. Und in der Lite­ratur ist es die Posi­tion des allmäch­tigen Erzäh­lers, den Bachtin für einen ethi­schen Irrtum hielt – weil man den anderen, mit dem man spricht, nie voll­ständig erfassen kann.

Mono­lo­gi­sche Vielfalt

Wenn heute „Viel­falt“ in und von Medien einge­for­dert wird, dann könnte man meinen, es gehe um eine ähnliche Situa­tion wie die in den 1920er Jahren in der Sowjet­union: um Kritik an ideo­lo­gi­schen, demago­gi­schen Posi­tionen. Zumin­dest stellen einige Medien und einige Poli­tiker die heutige Situa­tion so dar, so als stünden wir kurz vor der Gleich­schal­tung der Presse und der Gleich­schal­tung all unserer Bewußts­eine. Der Jour­na­lismus der anderen, so heißt es dann, ist „Staats­fern­sehen“, „Einheits­brei“ und „Main­stream“, während man selbst die „zweite“, „andere Meinung“ als „Alter­na­tive“ ins Spiel bringt und die eigene „Viel­falt“ lobt.

Die neuen Beschwörer der Viel­falt kommen aller­dings alle aus der glei­chen poli­ti­schen Ecke. Die Welt­woche titelt beispiels­weise „Mut zur Viel­falt“, und in Leit­ar­ti­keln heißt es: „Die rot-grünen Mora­li­sierer reden von Viel­falt, aber wenn die Viel­falt da ist, würgen sie sie gewaltsam ab.“ Gemeint ist damit natür­lich nicht die kultu­relle oder die sexu­elle Viel­falt, sondern – auf den ersten Blick – so etwas wie eine poli­ti­sche Viel­falt: die Publi­ka­tion von rechten Meinungen.

Es sind genau diese poli­ti­schen Posi­tionen, die dazu geführt haben, dass einige Schweizer Pres­se­titel, allen voran die Welt­woche, die BaZ und inzwi­schen auch die NZZ, von der AfD und ihren Anhän­gern liebe­voll „West­fern­sehen“ genannt werden. Damit soll ange­deutet werden, dass diese drei Schweizer Zeitungen in Deutsch­land die gleiche Funk­tion erfüllen wie ehemals die Sender ARD und ZDF in der DDR, also im Unter­schied zum DDR-Staatsfernsehen nicht ausschließ­lich Propa­ganda zeigen. Dabei ging es damals nicht darum, andere Propa­ganda zu sehen, sondern möglichst keine.

Zudem schei­tert der Vergleich auch schon an der Himmels­rich­tung, denn beim heutigen „West­fern­sehen“ werden vor allem Aussagen des russi­schen staat­li­chen Propa­gan­da­ka­nals RT wieder­holt, der seit Jahren versucht, die deut­sche Presse zu diskre­di­tieren und dabei auch die – scheinbar posi­tive – Mär vom West­fern­sehen aufgreift. Bei RT heißt es z.B.:

In der frei­heit­li­chen Schweiz, deren Medien als das neue West­fern­sehen gelten, schaut man seit Jahren besorgt auf die zuneh­mende Gleich­schal­tung aller Lebens­be­reiche im System Merkel, die auch mit einer Einschrän­kung wich­tiger Menschen­rechte in Deutsch­land einher­geht. Allen voran jenem auf Meinungsfreiheit.

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Bei RT werden genau jene Medien, die seriösen Jour­na­lismus machen und eine andere poli­ti­sche Meinung vertreten, als „Meinungs­po­lizei“ und „Volks­u­mer­zie­hungs­pro­gramm“ bezeichnet, um von der eigenen Propa­ganda abzu­lenken.

Deshalb sind die Artikel in den drei genannten Schweizer Medien auch keines­wegs „West­fern­sehen“, sondern wohl eher „Ostfern­sehen“. Sie passen aber auch prima zur eigenen tradi­tio­nellen Forde­rung der „Ausge­wo­gen­heit“. Denn gerade in der Schweiz kann man schon seit langer Zeit beob­achten, wie die poli­ti­sche Forde­rung nach „Ausge­wo­gen­heit“ nicht einfach „andere“ Meinungen, sondern popu­lis­ti­sche Stra­te­gien in der Presse beför­dert hat.

Dass jetzt auch in Deutsch­land im Namen der Ausge­wo­gen­heit Posi­tionen und Thesen disku­tiert werden, die demo­kra­tie­feind­lich sind, hat jüngst auch der Kultur­theo­re­tiker Klaus Thewe­leit in einem Inter­view scharf kriti­siert. Statt das Hirn­ge­spinst von der „Lügen­presse“ und der Ausge­wo­gen­heit zu kriti­sieren bzw. als Stra­tegie zu analy­sieren, werden nun genau jene Leute einge­laden, die diese Propa­ganda bedienen.

„Ostfern­sehen“

Noch einmal zurück zu Bachtin. Sind Zeitungen, in denen „Linke“ und „Rechte“, „Liber­täre“, „Links­li­be­rale“ oder „Rechts­li­be­rale“, „Verschwö­rungs­theo­re­tiker“ und „Männer­rechtler“, „Iden­ti­täre“, „Fundis“ und „Impf­gegner“ alle gemeinsam in einem Blatt publi­zieren, in ihrer „Viel­falt“ auch viel­stimmig? Nein, würde Bachtin wohl sagen, denn eine Zeitung ist kein Roman. In ihnen werden Welt­an­schau­ungen nicht darge­stellt oder vorge­führt, um in ihrem Funk­tio­nieren durch­schaut zu werden. Der Chor der Meinungen kann den einzelnen Text nicht davor bewahren, selbst Propa­ganda oder Ideo­logie zu sein.

Auf diese Weise wird auch nicht poli­ti­sche Viel­falt abge­bildet, sondern schlicht jour­na­lis­ti­sche Qualität vernach­läs­sigt, denn ausge­rechnet die Rede von der „Viel­falt“ wird so zum Einfallstor für Popu­lismus und Propa­ganda. Diese „Viel­falt“ hat aber nicht nur die Funk­tion, popu­lis­ti­sche Texte einzu­schleusen, sondern auch den Effekt, alle anderen Texte, also auch solche, die jour­na­lis­tisch gut recher­chiert sind, die konkretes Mate­rial analy­sieren oder auf wissen­schaft­lich über­prüf­baren Fakten beruhen, eben­falls als bloße Meinungen erscheinen zu lassen. Oder wie der Jour­na­list Daniel Bins­wanger dazu kürz­lich tref­fend bemerkte:

Es sind ja nur Meinungen. Man kann sie aufnehmen, zur Diskus­sion stellen, im Namen der ‚Ausge­wo­gen­heit‘ ernst­haft, breit und täglich in der Prime­time debat­tieren, ohne je die Frage zu beant­worten, ob diese Theo­rien nun stimmen oder nicht.

Dass nun Zeitungen nicht nur passiv als „West­fern­sehen“ bezeichnet werden, sondern an diesem Mythos selbst auch mitar­beiten, zeigte kürz­lich ein Artikel in der NZZ. Klaus-Rüdiger Mai, Drama­tiker und Autor bei der „Achse des Guten“, schreibt darin: „Ostdeut­sche kennen das, haben genü­gend Erfah­rung damit gesam­melt, wenn Medien nicht mehr kritisch berichten, sondern propa­gieren, moti­vieren und erziehen wollen.“ Damit meint er die im Satz zuvor erwähnte „deut­sche Presse von der TAZ bis zur Süddeut­schen Zeitung wie auch die öffent­lich­recht­li­chen Sender ARD und ZDF“, die angeb­lich „gegen den Verlust ihrer Deutungs­ho­heit mit immer gröberen Mitteln“ ankämpfen. Und weiter:

Die Ostdeut­schen stellen mit Erschre­cken fest, dass das neue Deutsch­land der alten DDR immer ähnli­cher wird, wenn die Eliten auf obrig­keits­staat­liche Mittel und Struk­turen setzen, weil sie der Probleme nicht mehr Herr werden.

Das sind Sätze, die nichts analy­sieren, nichts belegen, noch nicht einmal mit Zitaten arbeiten, sondern nur noch behaupten und propa­gieren. Solche Texte zeigen nicht die inhalt­liche Viel­stim­mig­keit der NZZ, sondern die Mitar­beit an an Parolen und Posi­tionen, die auch AfD und RT vertreten. Und auf diese Weise wird, nebenbei, auch eine Debatte weiter­ge­führt, die die Polemik gegen das angeb­liche Schweizer „Staats­fern­sehen“ – „No Billag“ lässt grüßen – neu kontextualisiert.

Insze­nie­rung von Vielstimmigkeit

Auch Bachtin hatte in seinen Studien aller­dings etwas über­sehen. Er verknüpfte stets das Viel­stim­mige mit dem Ambi­va­lenten und dem nicht Abschließ­baren, dem sich stets Verschie­benden. Es war dieses Voka­bular, das auch die post­struk­tu­ra­lis­ti­sche bzw. post­mo­derne Kritik inspi­rierte und das ihren eigenen Thesen von der „poly­phonen“ Bedeu­tung von Sprache entsprach. Bei Bachtin war diese Idee der Viel­stim­mig­keit und Ambi­va­lenz gegen die in der Sowjet­union vorherr­schende Vereindeu­ti­gung von Begriffen, Ideen und Theo­rien gerichtet. Zumin­dest hat man Bachtin später so gelesen, eindeutig formu­liert hat er das nie.

Propa­ganda und Desin­for­ma­tion funk­tio­niert aber nicht nur über die Fest­le­gung der einen gültigen Meinung, sondern auch über das Streuen möglichst verschie­dener und sich wider­spre­chender Versionen. Dies konnte man beson­ders gut nach dem Mord am Oppo­si­ti­ons­po­li­tiker Boris Nemzov beob­achten, als russi­sche Medien immer wieder neue Theo­rien über den mögli­chen Tather­gang lieferten. Die Jour­na­listin Tamina Kutscher hat diese Stra­tegie der Desin­for­ma­tion kürz­lich im Kontext des Mord­an­schlags auf die Skri­pals folgen­der­maßen auf den Punkt gebracht: „Es wurde eine alter­na­tive Version präsen­tiert, um die kann man sich jetzt streiten.“

Die Viel­falt der Meinungen dient so nicht mehr der Abbil­dung einer komplexen Realität, die nur schwer einsehbar ist und von verschie­denen Perspek­tiven aus betrachtet werden kann und muss, sondern sie stellt diese unüber­sicht­liche Viel­falt über die Bericht­erstat­tung über­haupt erst her.