In der Nacht zum 23. November 1992 erreichte die Polizeistation im schleswig-holsteinischen Mölln ein Anruf: „In der Ratzeburgerstraße brennt es. Heil Hitler!“, ruft ein Mann ins Telefon, der wenige Minuten zuvor, kurz nach Mitternacht, mit einem Komplizen Molotowcocktails auf eines der Fachwerkhäuser in der mittelalterlichen Altstadt der Kleinstadt geschleudert hat. Einer der Brandsätze hat ein Fenster im ersten Stock durchschlagen und das hölzerne Treppenhaus in Brand gesetzt, von dem aus sich das Feuer rasend schnell ausbreitet. Als die alarmierte Feuerwehr das Haus nach zehn Minuten erreicht, brennt es lichterloh. Die meisten Bewohner:innen haben sich bereits in Sicherheit gebracht. Da ihnen die Flammen den Weg versperrten, sind sie aus den oberen Stockwerken gesprungen oder haben ihre Kinder in die Arme schon geretteter Nachbarn fallen lassen. Andere klettern an zusammengeknoteten Gardinen hinunter. Viele verletzen sich bei den waghalsigen Rettungsaktionen durch Stürze und den beißenden Rauch schwer. Die letzten Bewohner:innen kann die Feuerwehr mit der Drehleiter aus dem brennenden Dachgeschoss retten.

Das brennende Haus in der Mühlenstraße 9; Quelle: spiegel.de
Zur gleichen Zeit machen sich die Brandstifter ein paar Straßen weiter daran, ein zweites Haus anzuzünden. Auch den Brand in der Mühlenstraße melden sie per Telefon, während sich das Feuer durch das hölzerne Treppenhaus in rasantem Tempo verbreitet. Mit riskanten Sprüngen retten sich auch hier zahlreiche Bewohner:innen vor den Flammen, noch bevor die Feuerwehr die Brandstelle erreicht. Andere bringen die Rettungskräfte in Sicherheit. Drei Menschen aber können sie nur noch tot aus der Brandruine bergen: Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz, 10 und 13 Jahre alt, und ihre 51-jährige Großmutter Bahide Arslan.
Rechte Gewalt in Serie
Der Brandnacht im November 1992 waren auch in Mölln bereits andere Anschläge vorausgegangen. Schon im Oktober 1991, als die dramatische Eskalation rechter Gewalttaten einsetze, die das frisch vereinte Deutschland zwischen 1991 und 1993 erschütterte und im Mordanschlag von Mölln ihren vorläufigen Höhepunkt fand, waren in der Stadt und in Nachbarorten die Scheiben von Flüchtlingsunterkünften eingeworfen worden. Rund siebzig Angriffe auf Wohnstätten von Geflüchteten hatte das Landeskriminalamt Schleswig-Holstein im Herbst und Winter 1991 und 1992 gezählt, darunter zehn Brandanschläge. Ebenso im benachbarten Hamburg und jenseits der nahen deutsch-deutschen Grenze, die im November 1992 keine drei Jahre geöffnet war. Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein führten 1991 die Statistiken der „fremdenfeindlichen Gewalt“ an. Im folgenden Jahr sah es kaum anders aus.
Auch die beiden Brandstifter bewegten sich dies- und jenseits der früheren Grenze. Michael Peters und Lars Christiansen waren Teil der Möllner Skinheadszene, denen der Verfassungsschutz rund vierzig Personen zurechnete, galten aber eher als Einzelgänger. Beide waren bereits seit Ende der 1980er Jahre dabei und mit ihren Bomber-Jacken, Tarnhosen und Springerstiefeln unschwer als Skinheads zu erkennen. Gewalt gehörte für sie selbstverständlich dazu. Schon 1990 war Peters vom Amtsgericht Mölln zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil er einen achtjährigen Geflüchteten aus Jugoslawien getreten und ihm einen Stein an den Kopf geschmissen hatte.

Das „Sonnenblumenhaus“ während des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen; Quelle: mdr.de
Das rassistische Pogrom in Rostock mobilisiert die beiden im Spätsommer 1992. In der von Mölln rund hundert Kilometer entfernten Hansestadt begannen am 22. August 1992 heftige Angriffe auf die Zentrale Aufnahmestelle für Geflüchtete in Mecklenburg-Vorpommern, die in einem „Sonnenblumenhaus“ genannten Plattenbau im Stadtteil Lichtenhagen untergebracht war. Nebenan lebten vietnamesische Arbeiterinnen und Arbeiter. Das Haus wurde in den folgenden Tagen von mehreren hundert Angreifern attackiert. Tausende Schaulustige klatschten Beifall und feuerten die Gewalt an. Auch Peters und Christiansen machten sich mit anderen Gewalttouristen aus Mölln auf den Weg nach Rostock, kamen wegen einer Polizeisperre aber nicht bis vor das Sonnenblumenhaus.
Dafür schlossen sie sich am folgenden Wochenende einer Gruppe ostdeutscher Skinheads an, die für den Abend einen Anschlag auf ein Flüchtlingsheim plante. Man hatte sich zufällig am Samstagabend in einer mecklenburgischen Disko getroffen. An dem Heim traf die Gruppe aber nur auf Polizisten. Die Skinheads hatten ihren Plan zuvor per CB-Funk besprochen, waren dabei belauscht und der Polizei gemeldet worden, die die Geflüchteten evakuiert hat. Enttäuscht schleuderte die Gruppe zwei Molotowcocktails auf die Beamten, grölte rassistische Parolen und zog wieder ab. Auf dem Rückweg berichtete Peters vom Flüchtlingsheim in seinem Wohnort Gudow bei Mölln. Spontan fuhren die Jugendlichen über die Landesgrenze nach Schleswig-Holstein und warfen mehrere Molotowcocktails auf das Haus, die aber glücklicherweise von dessen Mauern abprallten. Am folgenden Wochenende traf man sich wieder in der Diskothek. Abermals schlug Peters vor, eine Geflüchtetenunterkunft anzugreifen, die er kannte: diesmal das Heim in Kollow bei Mölln. Auch hier verfehlten die Brandsätze die anvisierten Fenster knapp. Dafür brannte wenige Tage später eine Scheune in der Möllner Innenstadt, die Gerüchten zur Folge als Unterkunft für Geflüchtete vorgesehen war. Ein anonymer Anruf bei der Feuerwehr kündigte weitere Brandstiftungen an.
Anders als andere Anschläge der Zeit blieb die Gewalt in Mölln und Umgebung den Sicherheitsbehörden nicht verborgen. Eine Sonderermittlungsgruppe der Lübecker Polizei begann an den folgenden Wochenenden, verschiedene Verdächtige zu observieren. Auch Peters gehörte dazu. Mitte November beantragte die Staatsanwaltschaft Lübeck gegen vier Personen Haftbefehle wegen des Verdachts auf mehrfachen Mordversuch und gefährliche Brandstiftung, auch gegen Peters. Dem zuständigen Haftrichter reichten die vorgelegten Beweise aber nicht aus.
Wenige Tage später, in der Nacht zum 23. November machen sich Peters und Christiansen dann erneut auf den Weg zu einem Flüchtlingsheim. In ihrem Kofferraum sind in einer Bierkiste mindestens sechs Molotowcocktails verstaut. Doch das Heim im Möllner Stadtteil Waldstadt ist bereits ein halbes Jahr zuvor geschlossen worden. Er wisse, wo Türken wohnen, sagt Lars Christiansen auf der Rückfahrt. Dann fahren die beiden in die Möllner Altstadt.
Ein halbes Leben in Mölln
Dort leben seit Mitte der 1970er Jahre türkische „Gastarbeiter:innen“. Sie waren seit den späten 1960er Jahren nach Mölln gekommen und hatten zunächst im abgelegenen Waldstadt gewohnt, wo sich nach dem Krieg in den leeren Gebäuden einer ehemaligen Wehrmachtseinrichtung verschiedene Unternehmen angesiedelt hatten. Zu diesen gehörten auch die Möllner Textilwerke, in denen 1967 Bahide Arslan zu arbeiten begann. Die Textilindustrie der Region bot zahlreichen jungen Türkinnen Arbeit. Auch andere Frauen aus dem Haus in der Ratzeburgerstraße waren hierfür Ende der 1960er Jahre nach Mölln gekommen. Bahide Arslan war die Pionierin ihrer Familie. Ihr Mann und ihre Kinder folgten ihr erst 1970 aus der Türkei in die schleswig-holsteinische Provinz. Wie andere „Gastabeiter:innen“ wurde die Familie hier heimisch. Die Häuser in der Möllner Altstadt waren in den 1970er Jahren noch weitgehend unsaniert. Aber sie boten den Arbeitsmigrant:innen eine Chance, aus den Gastarbeiterheimen im abgelegenen Waldstadt in eigene Wohnungen zu ziehen. Familie Arslan lebte seit 1976 in dem Haus in der Mühlenstaße, wo Bahide bis Ende der 1980er Jahre im Erdgeschoss einen Gemüseladen betrieb.
In den folgenden Jahren zogen weitere Familienangehörige aus der Türkei hierher. Yeliz Arslan wurde 1982 bereits in Mölln geboren. Zugleich blieben die Beziehungen zu den Verwandten in der Türkei eng. Ayşe Yılmaz war im Herbst 1992 für einige Monate bei den Arslans zu Besuch, als die Brandstifter in der Nacht zum 23. November in die Mühlenstraße kamen. Bahide Arslan hatte bis zu dieser Nacht ihr halbes Leben in Mölln verbracht.
Leben in Angst
Als die Medien am Morgen des 23. November 1992 die Nachricht vom Brandanschlag und seinen Toten verbreiteten, zog diese heftige Reaktionen in ganz Deutschland nach sich. Mehr als 3.000 Gewalttaten aus „fremdenfeindlichen Motiven“ hatten die Sicherheitsbehörden bis zu diesem Zeitpunkt seit September 1991 verzeichnet, darunter knapp 1.000 Brandanschläge. Auch Tote hatte diese Gewalt bereits gefordert. Erst zwei Tage zuvor war in Berlin der Hausbesetzer und Antifaschist Silvio Meier von einem Neonazi mit Messerstichen ermordet worden. Doch der Eindruck, den der Anschlag in Mölln machte, war ein besonderer. Dies galt zuerst für die türkische Community vor allem im Westen der Republik. „Gastarbeiter:innen“ und ihre Nachkommen waren zwar bereits Ziel rechter Gewalt gewesen. Doch im öffentlichen Bewusstsein war diese vor allem als ein ostdeutsches Problem verstanden worden, das mit einem heftigen Streit um das Asylrecht zusammenhinge, den die alte Bundesrepublik dem vereinten Deutschland hinterlassen hatte. Gerade Brandanschläge waren auch von migrantischen Communities im Westen als etwas wahrgenommen worden, was vor allem Geflüchteten und ihren Wohnstätten galt.
Insofern erzeugte der Brandanschlag von Mölln ein neues Gefühl der Bedrohung und Angst. Angehörige aus der Türkei riefen bei ihren Verwandten in Deutschland an, um sich nach ihrer Sicherheit zu erkundigen. In türkischen Kulturvereinen und Cafés dokumentierten Journalisten noch am 23. November erhitzte Gespräche darüber, ob man noch weiterhin in Deutschland leben könne, wenn die Polizei nicht willens oder nicht in der Lage war, Angriffe zu verhindern. Schutz, so schien mit Mölln offensichtlich geworden zu sein, mussten Migrant:innen selbst in die Hand nehmen. Vor allem die Fernsehbilder der zusammengeknoteten Gardinen vor der Brandruine in der Ratzeburgerstraße prägten sich dabei vielen Menschen mit Einwanderungsgeschichte tief ein. „In einen türkischen Haushalt gehört ein Seil“, hatten türkeistämmige Männer in einem Berliner Café am 24. November zu einer Journalistin gesagt. „Gardinen brennen leicht. Also Seile. Nach Mölln gehört ein Seil in jeden Haushalt.“ Seile, Feuerlöscher und andere Vorkehrungen für den Notfall prägten in den folgenden Monaten und Jahren das Leben vieler türkeistämmiger Familien – nicht zuletzt, nachdem im Mai 1993 ein Brandanschlag auf ein von Türken bewohntes Haus im nordrhein-westfälischen Solingen abermals Tote forderte und die geweckten Ängste ebenso bestätigte wie verstärkte. Noch Ende 1993, nachdem die Zahlen der Gewalttaten deutlich zurückgegangen waren, lebten viele weiterhin im Gefühl akuter Bedrohung, hatten einen Feuerlöscher griffbereit neben dem Bett stehen und schliefen nachts in Trainingsanzügen, um die Wohnung jederzeit verlassen zu können.
Ein neues Gefühl der Bedrohung erlebten nach dem Anschlag von Mölln auch andere Minderheiten. Der jüdische Publizist Ralph Giordano etwa schrieb noch am 23. November einen offenen Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl, in dem er bekundete, „nach den jüngsten Mordfällen den Glauben und die Hoffnung verloren [zu] haben, das Sie und Ihre Regierung einen wirksamen Schutz gegen den Rechtsextremismus und seine antisemitischen Gewalttäter bieten könnten“, und dem Bundeskanzler mitteilte, dass „nunmehr Juden in Deutschland, darunter auch ich, dazu übergegangen sind, die Abwehr vor potentiellen Angriffen auf unsere Angehörigen und uns in die eigenen Hände zu nehmen, und zwar bis in den bewaffneten Selbstschutz hinein.“
Verweigerte Trauer und rechtsstaatliche Härte
Der Brief schlug hohe Wellen. Die hinter ihm stehende Verzweiflung vieler Menschen im Land erkannte die adressierte Regierung aber nicht. Die Bitte um Schutz und Anteilnahme schlug sie schon am folgenden Tag aus, als dem CDU-Generalsekretär Peter Hintze nicht besseres einfiel, als die „Angriffe von Ralph Giordano auf den Bundeskanzler“ „unerträglich“ zu nennen und Helmut Kohl für seine „entschlossene Bekämpfung jeglicher Form des Extremismus“ zu loben. In ähnlicher Weise wies auch der Chef des Bundeskanzleramts Friedrich Bohl die „ehrverletzende Diffamierung“ des Bundeskanzlers „mit aller Entschiedenheit und großer Empörung auf das schärfste zurück“, statt sich den sichtbar gewordenen Ängsten zu stellen. In gleicher Weise blind zeigte sich die Bundesregierung auch für Trauer, Schmerz und Befürchtungen eingewanderter Menschen im Land, als wenige Tage später Bundeskanzler Kohl nicht zur Trauerfeier nach Mölln reiste und sich mit den Worten entschuldigen ließ, er habe „auch noch etwas anderes zu tun“ und „Beileidstourismus“ mache die „schlimme Sache“ nicht besser.

Abgebrannte Baracke in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen 1992; Quelle: sachsenhausen-sbg.de
Dennoch veränderte der Brandanschlag in Mölln die Politik der Kohl-Regierung gegenüber der Gewaltwelle entscheidend. Auch für sie machte der Anschlag auf Menschen, die seit Jahrzehnten in der alten Bundesrepublik lebten, unübersehbar, dass es sich bei der Gewalt nicht einfach um ein Problem der „neuen Länder“ oder ein Ergebnis des ungelösten Asylstreits handelte, zumal Mölln mit anderen, viel beachteten Gewalttaten zusammenfiel, bei denen ebenfalls nicht Geflüchtete die Opfer waren. Just am 23. November etwa informierte die Staatsanwaltschaft Wuppertal über einen Mord, bei dem zwei Skinheads und ein Gastwirt einen Mann umgebracht hatten, den sie für einen Juden hielten – eine Tat, die auch Ralph Giordano in seinem Brief an den Bundeskanzler ansprach. Einige Tage zuvor hatte ein Brandanschlag auf eine Baracke in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen für internationales Aufsehen gesorgt, in der während des Zweiten Weltkrieges jüdische Häftlinge untergebracht gewesen waren. Und in den Tagen nach Mölln gelang es auch anderen marginalisierten Gruppen, öffentlich darauf aufmerksam zu machen, der Gewalt ausgesetzt zu sein; Wohnungslose etwa oder Menschen mit Behinderung.
Vor diesem Hintergrund änderte die Regierung ihre Haltung gegenüber der Gewalt. Bundesregierung und Regierungsparteien stuften sie nun als „extremistisch“ ein, was unmittelbare Folgen hatte. Der Staat besann sich mit ihr seines sicherheitspolitischen Instrumentariums, das er in den vergangenen Monaten kaum gegen die dramatische Eskalation rechter Gewalt eingesetzt hatte: Nach dem Brandanschlag in Mölln übernahm der Generalbundesanwalt die Ermittlungen, wie er es ein Jahrzehnt zuvor bei den rechtsterroristischen Anschlägen um 1980 getan hatte. Und ebenso wie am Beginn der 1980er Jahre erließ das Bundesinnenministerium seit Dezember 1992 zahlreiche Verbote rechtsextremer und neonazistischer Organisationen. Zudem gingen die Sicherheitsbehörden mit bislang ungekannter Härte gegen rechtsextreme Musikverlage und die Verbreitung ihrer Tonträger vor – eine Härte, die mit dem Abebben der Gewaltwelle 1993 allerdings bald wieder verschwand.
Solidarität mit Blindstellen
Solidarität, Mitgefühl und Verständnis für Wut, Trauer und Ängste fanden türkische Migrant:innen und andere Minderheiten hingegen nicht beim Staat, sondern in Teilen der Mehrheitsgesellschaft. Auch sie wühlte der Anschlag in Mölln mit seinen Toten auf. Aus dem ganzen Land kamen in Mölln Beileids- und Solidaritätsbriefe an, die die Stadtverwaltung allerdings nicht an die Überlebenden des Anschlages weiterreichte; erst 27 Jahre später (!) erreichten sie die Überlebenden und Angehörigen. Sichtbar waren 1992 hingegen Kundgebungen, Demonstrationen und andere Protestaktionen, die nach Mölln in zahlreichen Städten stattfanden. Nicht zuletzt Schulen bildeten dabei einen wichtigen Ort, an dem Schülerinnen und Schüler nach Mölln offen für ihre „ausländischen Mitschüler“ ein- und der Gewalt entgegentraten.

Lichterkette am 6. Dezember 1992 in München; Quelle: sueddeutsche.de
Protest gegen die seit dem Rostocker Pogrom im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehenden Gewaltwelle hatte bereits Anfang November eingesetzt. In Berlin hatten am 8. November nach einem Aufruf des Bundespräsidenten 350.000 Menschen gegen die rassistische Gewalt demonstriert. Am folgenden Tag gab es auch in anderen Städten Demonstrationen und Kundgebungen, wobei vor allem ein Solidaritätskonzert in Köln unter dem Motto „Arsch huh, Zäng ussenander“ großen Nachhall fand. Der begonnene Protest gewann nach Mölln noch einmal eine neue Dimension und in den sogenannten Lichterketten eine bislang ungekannte Ausdrucksform. Die erste dieser stillen Kundgebungen gegen „Ausländerfeindlichkeit und Gewalt“ hatten Münchener Bürgerinnen und Bürger unter dem Eindruck des Möllner Anschlages für den 6. Dezember 1992 organisiert und dabei 400.000 Menschen auf die Straße gebracht. Die Aktion fand in den folgenden Wochen in zahlreichen Städten Nachahmer, die mit ähnlich hohen Teilnehmerzahlen zu den größten Demonstrationen der deutschen Geschichte überhaupt gehören.
Die Lichterketten waren umstritten, weil sie keine Antwort auf die Frage gaben, was gegen die Gewalt konkret zu tun sei und sich vor allem jeder Stellungnahme zur Änderung des Grundrechts auf Asyl enthielten, über das CDU und SPD zur gleichen Zeit verhandelten. Im Rückblick erscheint an ihnen hingegen vor allem problematisch, dass sie nicht den Gewaltbetroffenen eine Bühne boten, sondern vor allem Schriftsteller:innen, Musiker:innen und anderen Prominenten. Türkische Organisationen veranstalteten nach Mölln zwar ihrerseits Protestaktionen und formulierten Forderungen gegenüber der Politik. Doch sie erlangen weit weniger Aufmerksamkeit. Menschen mit Einwanderungsgeschichte mussten und müssen sich Gehör für ihre Erfahrungen von Ausgrenzung und Gewalt erst im rückblickenden Gedenken an die Gewalt der frühen 1990er Jahre erkämpfen, wofür der Anschlag von Mölln einen wichtigen Anstoß gab. Die sogenannte Möllner Rede im Exil, die Überlebende und Angehörige der Toten des Möllner Brandanschlages seit 2013 jährlich in verschiedenen Städten veranstalten, weil sie sich in den Gedenkveranstaltungen der Stadt Mölln nicht repräsentiert sahen, hat ein wichtiges Modell für Erinnerungsinitiativen von Betroffenen rechter Gewalt geschaffen, die in den letzten Jahren an zahlreichen Orten entstanden sind. Doch zugleich setzen die Proteste nicht nur „ein Zeichen gegen Gewalt“. Mit ihnen bekannte Ende 1992 die deutsche Mehrheitsgesellschaft auch so deutlich wie noch nie seit Beginn der „Gastarbeiter“-Migration in den 1960er Jahren Solidarität mit den „ausländischen Mitbürgern“ und ihre Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft.
Mölln 1992: eine verwickelte Geschichte
Was der Blick zurück auf Mölln 1992 freilegt, ist insofern eine uneindeutige, verwickelte Geschichte, deren Bedeutung für die weitere Entwicklung und Gegenwart dieses Landes noch lange nicht verstanden ist: eine Geschichte massiver Gewalt, mit der im frisch vereinten Deutschland die soziale Zugehörigkeit zahlreicher Menschen, die oftmals seit Jahrzehnten in Deutschland lebten, bestritten wurde; eine Geschichte von Missachtung und institutionalisierter Diskriminierung durch Behörden, Politik und Medien; aber auch eine Geschichte von Protest und Solidarität, mit der die Gesellschaft in Abgrenzung gegen diese Gewalt langsam begann, sich ihrer gesellschaftlichen Vielfalt und Rolle als Einwanderungsgesellschaft bewusst zu werden.