Im vergangenen Sommer verabschiedete die International Labour Organization (ILO) eine bemerkenswerte Konvention. Auf ihrer 108. Sitzung sprachen sich 439 Delegierte für das „Übereinkommen zur Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt“ aus – eine überwältigende Mehrheit, der nur sieben Gegenstimmen und 30 Enthaltungen gegenüberstanden. Unter den Delegierten herrschte Jubel; die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Harnack sprach von einem „Meilenstein in der Geschichte der ILO“ und einem “bedeutende[n]Schritt, Belästigung und Gewalt in der Arbeitswelt weltweit zu beseitigen.“ Tatsächlich ist das Vorhaben immens, denn was „Gewalt und Belästigung“ meint, ist in Artikel 1 der Konvention in knöcherner Sprache definiert: Es geht um „eine Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung, gleich ob es sich um ein einmaliges oder wiederholtes Vorkommnis handelt, die darauf abzielen, zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben, physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden zu verursachen“, „geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung“ sind hierbei inbegriffen.
Auf dem Weg zu einem Anti-Mobbing-Gesetz

Quelle: personio.de
In Deutschland stehen die Chancen, dass die Regierung die Konvention ratifiziert, nicht schlecht. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) stellte sich umgehend hinter die Politik der ILO und versicherte, Deutschland werde „eine schnelle Ratifizierung des Übereinkommens in Angriff nehmen“. Die Gewerkschaften ihrerseits versuchten bereits Druck aufzubauen, und erinnerten an die sexuelle Belästigung von Frauen am Arbeitsplatz. In wenigen Tagen wird sich die öffentliche Aufmerksamkeit jedoch auf ein weiteres Thema richten, das unter die ILO Konvention fällt: Mobbing am Arbeitsplatz. Am 27. Januar wird sich der Deutsche Bundestag mit diesem Problem beschäftigen. Konkreter Anlass dafür ist ein Antrag, den die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Dezember 2018 gestellt hat, um die Rechtslage für Betroffene von Mobbing zu verbessern. Die an den Bundestag gestellte Forderung lautet, ein „Gesetz zum Schutz vor Mobbing am Arbeitsplatz“ vorzulegen und Mobbing als Rechtsbegriff zu definieren. In Anlehnung an das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das „Belästigung“ definiert, schlagen Bündnis 90/Die Grünen vor, dass Mobbing analog dazu auf „Verhaltensweisen abzielt, die bezwecken oder bewirken, dass die Würde der betreffenden Person verletzt (…) und ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld“ geschaffen wird. Ferner sieht der Antrag vor, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber arbeitsrechtlich explizit verpflichtet werden, umgehend Maßnahmen zur Unterbindung von Mobbing einzuleiten, sobald sie von einem solchen Vorfall Kenntnis erhalten. Kommen sie dieser Pflicht nicht nach, sollen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber dafür haftbar gemacht werden, sowohl den materiellen als auch den immateriellen Schaden zu ersetzen. Damit die von Mobbing betroffenen Personen ihre Ansprüche auch durchsetzen können, seien „im gerichtlichen Verfahren Beweiserleichterungen notwendig“.
Keine Partei im Bundestag hegt heute noch Zweifel daran, dass Mobbing in der Arbeitswelt ein drängendes Thema ist. Eine einheitliche Definition von Mobbing gibt es zwar bis heute nicht; dass jedoch ganz unterschiedliche Handlungen, die als Mobbing adressiert werden, psychische oder psychosomatische Beschwerden bis hin zu massiven gesundheitlichen Schädigungen nach sich ziehen können, ist längst durch zahlreiche Studien belegt. Ebenso liegen Berechnungen des gesamtwirtschaftlichen Schadens infolge von Krankheitstagen, medizinischen Behandlungen, Produktivitätsrückgang oder auch Arbeitslosigkeit vor. Der Mobbing-Report aus dem Jahr 2002, die erste repräsentative Studie über die Situation in Deutschland, dient heute oft noch als Referenz: Sie ergab, dass 2,7 % der erwerbstätigen Bevölkerung und damit rund 1 Million Menschen allein zum Zeitpunkt der Erhebung gemobbt wurden. Was die jährlichen Kosten für Krankheitsbehandlung und Produktionsausfall betrifft, ging der Mobbing-Report von 24 Mrd. Euro aus. Auch international vergleichende Erhebungen über die Arbeitsbedingungen in Europa bekräftigen seit Anfang des 21. Jahrhunderts, dass Mobbing in allen Ländern Europas ein ausgesprochen ernst zu nehmendes Problem darstellt, dem verstärkt präventiv, wenn nicht gar durch neue gesetzliche Grundlagen entgegengetreten werden sollte. Einige Länder, darunter Schweden, Frankreich, Belgien oder auch Spanien haben sich bereits auf ein solches Anti-Mobbing-Gesetz und mögliche strafrechtliche Ahndungen verständigt. Der Weg zur Verabschiedung eines Anti-Mobbing-Gesetzes im Deutschen Bundestag scheint somit geebnet. Doch ein Selbstläufer ist es nicht – und das ist vielleicht auch ganz gut so. Denn der Vorstoß zu einem Anti-Mobbing-Gesetz wirft bei genauerem Hinsehen wichtige Fragen und durchaus grundsätzliche Probleme auf, über die man sprechen muss.
Alter Wein in neuen Schläuchen?

Quelle: trendreport.de
Was meinen Bündnis 90/Die Grünen also, wenn sie ein Anti-Mobbing-Gesetz einführen möchten? Auf Anhieb sieht man es nicht – aber ihr Vorschlag, sich der Definition von „Belästigung“ im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz anzuschließen, ist für sich genommen alles andere als radikal. Das Bundesarbeitsgericht hat diesen Schritt längst getan; bereits vor zehn Jahren stellte es klar, der Gesetzgeber habe mit dem im Gleichbehandlungsgesetz enthaltenen Begriff „Belästigung“ auch Mobbing umschrieben. Arbeitsrechtler erläutern die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts außerdem dahingehend, dass der Begriff des Mobbings „auf alle Fälle der Benachteiligung eines Arbeitnehmers übertragen werden kann“. Übersetzt heißt das: Auf den entsprechenden Paragraphen kann man sich auch dann beziehen, wenn es nicht um Diskriminierung oder Belästigung infolge von „Rasse, ethnischer Herkunft, Religion und Weltanschauungen, Alter, Geschlecht, Behinderung oder sexueller Identität“ geht, wie im Gleichbehandlungsgesetz eigentlich festgelegt.
Was würde sich mit der Einführung eines Anti-Mobbing-Gesetzes dann eigentlich ändern? Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen gibt darauf bisher keine Antwort. Denn er thematisiert nicht, dass das Bundesarbeitsgericht davon ausgeht, dass Mobbing nur dann vorliegt, wenn die Anfeindungen, die Schikanen oder die Diskriminierungen systematisch und über einen längeren Zeitraum erfolgen. Nach gegenwärtiger Rechtsprechung liegt deshalb noch kein Mobbingtatbestand vor, wenn sich ein Vorgesetzter bei einer aus Sachgründen erfolgten Kritik einmal im Ton vergreift. Auch Konflikte unter Kollegen sind demnach kein Mobbing, sofern sie nicht erkennbar darauf zielen, eine Person systematisch gegenüber anderen herabzusetzen.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen verhält sich zu diesen Kriterien, die im Arbeitsrecht auf eine engere Definition von Mobbing hinauslaufen, bislang nicht. Insofern stellt sich die Frage: Ist dieser Vorstoß zu einem neuen Gesetz am Ende vielleicht nur Symbolpolitik? Oder zielt er tatsächlich darauf ab, die gegenwärtige Rechtsprechung und Rechtspraxis in diesem Feld entscheidend zu ändern? Ein starkes Indiz dafür ist die im Antrag ins Spiel gebrachte Gewährung von Beweiserleichterungen für die Betroffenen, die deren Position stärken würde. Doch wird das Anti-Mobbing-Gesetz auch so weit gehen, zusätzlich die Definition von Mobbing zu erweitern, indem es die Kriterien der Zielgerichtetheit, der Systematik und der längeren Dauer aufweicht, so dass sie generell Handlungen, die als verletzend und demütigend empfunden werden, einschließt?
Scheinbare Stimmigkeit

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Der populären Auffassung von Mobbing käme das sehr viel näher. Diese orientiert sich viel stärker an einem Alltagsverständnis von Mobbing, das mittlerweile zu einer verbreiteten Sprechweise in unterschiedlichsten Lebenszusammenhängen geworden ist, bis hinein in die politischen Parteien. Tendenziell ist Mobbing hier synonym für aggressives, einschüchterndes und demütigendes Verhalten oder Handlungen, die – auch wenn sie nicht häufig vorkommen – als psychisch belastend empfunden werden; Machtmissbrauch ist ein zentrales Stichwort, auch die Grenzen zwischen Kritik und Mobbing sind hier inzwischen fließend geworden.
Dieses breite Verständnis von Mobbing ist mit dem der Wissenschaften, namentlich der Psychologie, die Arbeitsmedizin und die Pädagogik, nicht deckungsgleich. Diese Tatsache bleibt paradoxer Weise völlig im Dunkeln, wenn in den Massenmedien oder in der breiten Ratgeberliteratur auf die Anfänge der Mobbingforschung verwiesen wird und die immer gleichen Namen fallen, um deren Pioniere vorzustellen: Die Schweden Peter-Paul Heinemann, Dan Olweus und Heinz Leymann. Wie unterschiedlich ihre Konzeptualisierungen von Mobbing waren, wird dabei allerdings gar nicht sichtbar: Der Arzt und Radiomoderator Heinemann, der als Kind mit seiner Familie vor den Nazis geflüchtet war und der später ein farbiges Kind adoptiert hatte, übernahm den Begriff Mobbing 1969 vom Tierverhaltensforscher Konrad Lorenz, um das Verhalten von Kindern, die in Gruppen Einzelne attackieren und sozial ausschließen, zu problematisieren. Heinemann hat Mobbing naturalisiert: Kinder besäßen, so meinte er, eine ständig wachsende aggressive Energie, die sie in Ermangelung eines Ventils in großen Städten und in Schulen gegen Kinder richteten, die der Mehrheitsgesellschaft nicht angehörten. „Mobbing“ und „Apartheid“ lagen für ihn auf einer Linie, verbunden mit einer gehörigen Portion Großstadt- und Gesellschaftskritik. Die Perspektive des schwedischen Psychologen und Aggressionsforschers Dan Olweus wiederum, der den Begriff 1973 nach aufgeregten Debatten in der schwedischen Öffentlichkeit übernahm, war stärker auf das Individuum gerichtet. Seine Aggressivität hänge von Persönlichkeitsmerkmalen ab, und gleiches gelte für die Opfer, die ebenfalls spezifische Persönlichkeitsmerkmale aufwiesen. Olweus stellte damit die Disposition der beteiligten Individuen eindeutig in den Vordergrund, während soziale Probleme in den Hintergrund traten.
Der schwedische Arbeitspsychologe Heinz Leymann schließlich übertrug in den 1980er Jahren das Konzept Mobbing auf Erwachsene und die Arbeitswelt, auch wenn er den Begriff der „psychischen Gewalt“ eigentlich für präziser hielt. Als Arbeitspsychologe problematisierte er vor allem zweierlei: Erstens die Strukturen, wenn auch weitgehend auf den Raum des Betriebs beschränkt, und zweitens die „Möglichmacher“, die sich nicht äußerten und dadurch daran mitschuldig seien, dass sich ein Konflikt zu Mobbing und Psychoterror entwickeln könne. Zentral war für Leymann allerdings, dass die negativen Handlungen „mindestens einmal die Woche und während eines zusammenhängenden halben Jahres“ vorkommen müssten, um als Mobbing bezeichnet zu werden. Anfang der 90er Jahre wurde Leymann durch sein ins Deutsche übersetzte Buch Mobbing – Psychoterror am Arbeitsplatzweit über die Wissenschaft hinaus bekannt. Mit seiner Publikation hatte er das Wort Mobbing überhaupt erst in die deutsche Sprache eingeführt; 2013 erschien sie in 14. Auflage. Obwohl Leymann schon seit 21 Jahren tot ist, hat er seinen Ruf als der führende Experte im Bereich von Mobbing am Arbeitsplatz bis heute nicht eingebüßt.

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Allein schon dieser kurze Rückblick macht klar: Es gab kein einheitliches Verständnis von Mobbing – und daran hat sich auch bis heute nichts geändert. „Mobbing“ ist wie ein Stück nasse Seife, das man nicht zu fassen kriegt. Es ist das mediale Rezitieren der immer gleichen Namen der Mobbing-Forschung, das für Laien den Anschein des Stimmigen und Stabilen erweckt. Wissenschaftliche Kontroversen bleiben dabei weitgehend unbemerkt; ebenso, dass die Handlungen, die als Indikatoren für Mobbing genannt werden, exponentiell angestiegen sind: Leymann nannte 45, andere sprechen heute von mindestens 100. Ob sich Gewerkschaften, Kirchen oder andere Institutionen, die über Mobbing informieren, auf den ein oder anderen Katalog beziehen, ändert sich indes von Fall zu Fall – bemerkenswerter Weise jedoch, ohne dass dies unstimmig wirkt.
Ausweitung der Mobbing-Zone
Im Verlauf der letzten zwanzig Jahre hat eine wachsende Zahl an Wissenschaftlern argumentiert, dass es nicht sinnvoll sei, Mobbing strikt an die von Leymann formulierten Kriterien der Häufigkeit und Dauer zu binden, weil diese der Arbeitsrealität oft nicht entsprechen und Mobbing nicht zuletzt deshalb vor Gericht schwer zu beweisen sei. Vor allem Psychologen haben sich deshalb seit Mitte der 1990er Jahre bemüht, diese Arbeitsrealität besser zu erfassen und Mobbing zu erforschen. Ihre Einsichten in das Phänomen beruhten dabei auf Erhebungsmethoden, in denen die subjektive Wahrnehmung von Konflikten am Arbeitsplatz eine bemerkenswert große Rolle spielte. Darüber hinaus empfahlen Psychologen (und durchaus auch Arbeitsrechtler) die Verbreitung von sogenannten Mobbing-Tagebüchern, um Tag für Tag jene Verhaltensweisen und Vorfälle zu notieren, die als Mobbing empfunden werden – als Instrument der Plausibilisierung vor Gericht oder auch als Beweismittel in einer außergerichtlichen Einigung. Wie man auf Amazon sehen kann, hat sich für diese Mobbing-Tagebücher mittlerweile ein ganzer Markt entwickelt, und damit auch eine verbreitete psychologische Selbsttechnik.

Quelle: haro-inspires.com
Diese Befragungen und Selbsttechniken, welche die Sensibilität für das Problem in Wissenschaft und Gesellschaft zweifellos erhöhten, hatten allerdings noch einen weiteren, vermutlich nicht einmal intendierten Effekt: Die Vorstellung davon, was Mobbing sei, weitete sich ständig aus, und zwar genau durch die Aufnahme subjektiver Wahrnehmungen und Auffassungen in die Kriterienkataloge der Wissenschaftler – mit zweierlei Effekten: Erstens wurde Mobbing in diesem Zuge zunehmend zu einem auf das Individuum zentrierten Konzept. Strukturelle Verhältnisse, die Ursache und Bedingung für Mobbing sein könnten, sind demgegenüber in den Hintergrund getreten. Vor allem aber lenkt die Tendenz, Konflikte am Arbeitsplatz auf das Zwischenmenschliche zu reduzieren, davon ab, über politische und wirtschaftliche Strukturen zu sprechen. Zweitens verschob sich die Definitionsmacht über Mobbing vermehrt auf die Seite des oder der Betroffenen. Insbesondere die von Bündnis 90/Die Grünen geforderte „Beweiserleichterung“ wäre ein Rechtsinstrument, das diese Entwicklung auch in den juristischen Bereich hineinträgt. Die Position des mutmaßlichen Opfers gegenüber jener des mutmaßlichen Täters würde dadurch strukturell bevorzugt.
Ob daraus eine rechtsstaatlich bedenkliche Entwicklung wird, müsste sich erst noch zeigen; es wird davon abhängen, wie weit die Beweiserleichterung geht. Sollten die Parteien vielleicht sogar dem Vorschlag der ILO folgen, und in außergerichtlichen Verfahren eine Beweisumkehr einführen, wären rechtsstaatliche Bedenken ebenso angebracht. Dabei sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass ein breites Verständnis von Mobbing am Ende auch politisch instrumentalisierbar ist. Ohne objektivierbare Kriterien, was Mobbing ist und was nicht, wird man am Ende Gefahr laufen, dass Mobbing alles und damit gar nichts mehr heißt, und Mobbingvorwürfe dennoch das gesellschaftliche Zusammenleben vergiften. Genau davor hatte Heinz Leymann schon 1986 gewarnt, als er schrieb, dass wir durch ein gänzlich vages Verständnis von Mobbing „in die unglückliche Situation geraten, dass jeder jeden des Mobbings beschuldigen kann.“