Wer über das Netz spricht, muss im Netz mit Menschen sprechen. Das ist die Grundlage für meine wissenschaftliche Arbeit über Netzkommunikation: Weil ich selbst daran teilnehme, weiss ich, wovon ich spreche. Eine Nische, in die ich immer wieder abtauche, sind die Gesprächskreise, die sich mit der Arbeit von Daniele Ganser befassen. Ganser ist Historiker mit eigenem, privaten Institut (Swiss Institute for Peace and Energy Research, SIPER) und bekannt für seine „Fragen“ zu 9/11, mit denen er insinuiert, der Anschlag sei nicht das Werk islamistischer Terroristen gewesen. Daneben hat er mehrere Monografien über aussenpolitische Themen geschrieben, Kriege und Erdöl sind dabei sein Fokus. Allerdings folgt seine Arbeitsweise dabei seit Jahren keinen wissenschaftlichen Standards mehr, wie sein Umgang mit Quellen zeigt.
Um Gansers Werk herum hat sich eine Reihe von Gesprächskreisen, man könnte sagen eine ‚Bewegung‘ gebildet. Er selbst nimmt an dieser nur indirekt teil, indem er Talking-Points liefert und der ‚Bewegung‘ als „Friedensforscher“ und promovierter Historiker eine Aura von Wissenschaftlichkeit verleiht. Gleichzeitig bezieht er seine Inhalte aber auch aus diesen Gesprächskreisen: Die These, Al-Quaida-Anschläge seien inszeniert, wird in diesen Gesprächskreisen schon länger debattiert. Ganser kann so ihre Wirkung abschätzen und greift sie etwas später offiziell auf, wie etwa dieser Facebook-Post zum Jahrestag des Attentats in Berlin zeigt.
Gesprächsformen des Ganser-Zirkels
Die Ganser-Zirkel diskutieren in geschlossenen Gruppen, in Kommentaren oder auf den Profilen ihrer sichtbarsten Mitglieder. Ich selbst nehme auf zwei Arten teil: Entweder, indem ich auf meinem Profil Stellung beziehe und dann von dieser Community besucht werde – sie stürzt sich auf alles, was Ganser betrifft. Oder ich beobachte mit Beunruhigung, wie Bekannte Sympathien für diese Denkweise entwickeln und klinke mich ein. Im Folgenden werde ich meine Erfahrungen in diesen Gesprächen schildern und eine Analyse versuchen.
Die Gespräche finden auf der virtuellen Bühne, oft über verschiedene Kanäle hinweg statt: Eine Facebook-Diskussion über einen Blogpost regt einen Beitrag auf einem anderen Blog an, der wiederum eine Diskussion auf Twitter entfacht, die später in den Kommentaren des Blogs weitergeführt wird. Die Teilnehmenden sind – im Sinne des Soziologen Erving Goffman – zugleich Publikum. Einige agieren auch hinter der Bühne, zum Beispiel in Chats. Als Gründe geben sie ihre Unsicherheit an, sowohl in Bezug auf die richtige Position als auch aus Sorge vor persönlichen oder beruflichen Konsequenzen.
Frauen sind im Ganser-Zirkel kaum vertreten. Am aktivsten sind gebildete Männer mit viel Zeit: Mit einem freien Journalisten, einem Arzt, einem Ingenieur in Rente und einem Lehrer habe ich am intensivsten debattiert – immer unter Einbezug anderer Stimmen. In den Diskussionen beabsichtigt die Ganser-Seite zu zeigen, wie falsch die offiziellen Darstellungen von Terroranschlägen und anderen Ereignissen sind, und wie wahrscheinlich dem gegenüber geheime Absprachen und Einflüsse sind. Ich wiederum versuche – manchmal mit Unterstützung von anderen – nachzuweisen, dass diese Vermutungen haltlos und irrational sind, und dass der paranoische Zweifel dazu führt, dass wissenschaftliche Standards über Bord geworfen werden.
Man möchte meinen, diese Differenzen müssten eine Diskussion eigentlich zum Erliegen bringen. Aus zwei Gründen ist das nicht der Fall: Erstens gilt es, auch aus meiner Sicht, nicht bloss das Gegenüber, sondern das Publikum zu überzeugen. Zweitens wollen beide Seiten die andere dazu bringen, endlich seriöse Quellen zur Kenntnis zu nehmen. Daraus ergibt sich oft ein Tauschhandel: ‚Du liest diesen Text, dann schaue ich dieses Video. Du beantwortest diese Frage, dann nehme ich zu deiner These Stellung‘.
Der „Myside Bias“
Es entsteht also ein Minimum an „Verständigungs- und Diskursorientierung“, wie der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen eines der Prinzipien nennt, an denen er seine Vision einer digitalen Gesellschaft orientiert. Diese ‚Verständigung‘ vermeide, wie er schreibt, eine „Polarisierung zweiter Ordnung“, auf der nicht nur Meinungen einander entgegengesetzt sind, sondern auch die Methoden der Wahrheitsfindung.

Verschwörungstheoretische Gegenoffensive; Quelle: pinterest.com
Trotzdem gibt es grundlegende Differenzen, unter anderem darüber, wie seriöse Argumentationen ablaufen. Ich zum Beispiel kritisiere Ungenauigkeiten, Pauschalisierungen und rhetorische Tricks, die mir in Vorträgen von Ganser und anderen Koryphäen der Bewegung auffallen: Ganser verkleidet eigene Thesen und Vermutungen als Fragen, für die er Aufklärung fordert. Damit entledigt er sich der Pflicht, Belege selbst zu erbringen. Er präsentiert sich als seriöser, aber unbequemer Wissenschaftler mit Doktortitel, hält sich jedoch weder in seinen Büchern noch in seinen Vorträgen an etablierte Standards der Geschichtswissenschaft. In der Regel bearbeitet er weder Quellen noch historische Fachliteratur, sondern verbindet, wie seine Fans, lässig im Browser abrufbare Dokumente.
Hier zeigt sich ein Widerspruch, der sowohl Ganser selbst als auch seine Anhänger charakterisiert: Rhetorik und Analysen sind einerseits von einem starken Wissenschaftlichkeitsfetisch angetrieben, dieser wird jedoch zugunsten einer moralischen Argumentation jederzeit aufgegeben („Bist Du etwa für den Krieg und gegen den Frieden?“). Wissenschaftlichkeit erscheint dann plötzlich als hinderliche Pedanterie. Weise ich auf diesen Widerspruch hin, werde ich als unzulässig kleinlich bezeichnet – wo doch so grosse Themen wie Krieg, Medienmanipulation und politische Einflussnahme verhandelt würden. Es zeigt sich hier der so genannte „Myside Bias“ von Verschwörungstheorien in doppelter Form: Die eigene Theorie wird nicht nur für unhinterfragbar wahr gehalten („Confirmation Bias“), sondern es wird für ihre Vertreterinnen und Vertreter auch zu einem starken Wunsch, dass sie wahr sei („Desirability Bias“).
Wenn eine Argumentation nicht verfängt, erfolgt oft ein Themenwechsel. Das Reservoir der unerklärlichen Auffälligkeiten rund um die von Ganser diskutierten Ereignisse ist so gross, dass grosse Themen-Sprünge jederzeit möglich sind. Sie verunmöglichen, die Auffälligkeiten in einem grösseren Kontext zu analysieren. Zum Beispiel die Einsicht, dass vor fast allen grösseren Ereignissen Insiderhandel an der Börse ermittelbar ist, nicht nur vor dem 11. September 2001; oder die Gründe, weshalb islamistische Attentäter am Tatort Ausweise hinterlassen; und nicht zuletzt welche geometrischen Verzerrungen die Videoaufzeichnungen vom Einsturz der WTC-Türme mit sich bringen. Solche Makroperspektiven werden von der Ganser-Community ausgeblendet. Beobachtungen von Mustern bleiben reduziert auf ihre Auffälligkeit. Mit dem Wechsel von Thema zu Thema wird die Einsicht verdrängt, dass in der Welt ständig Muster rund um prominente Ereignisse aufscheinen.
Hermetisch geschlossene Denkgebäude
Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der ‚Verschwörungstheorie‘. Möchte ich das Gespräch aufrechterhalten, muss ich diesen Begriff vermeiden. Philipp Sarasin hat gezeigt, wie die rhetorische Strategie, zu fragen, statt zu behaupten, sich zu wundern, statt zu belegen, Theorien konstruiert, die per se nicht widerlegt werden können. Zur Verschwörungstheorie werden sie, weil sie keine Kriterien enthalten, mit denen sie sich falsifizieren liessen. Doch gerade die Unmöglichkeit, eine Position argumentativ zu widerlegen, erschwert die Verwendung des Begriffs ‚Verschwörungstheorie‘. Der Begriff wird von ihren Anhängern als „Diffamierung“ bezeichnet, er gilt als Schibboleth für eine unerwünschte Wertung.

Daniele Ganser; Quelle: twitter.com
Zwei Gesprächsphasen sind also bislang deutlich geworden: In einer ersten geht es darum, überhaupt ein Gespräch entstehen zu lassen. Dazu braucht es einen minimalen Deal. Unabhängig von seinem Zustandekommen überschwemmen die Ganser-Anhänger Kommentarspalten mit ihren Links und Darstellungen. Wird der Deal eingegangen, reiben sich in einer zweiten Phase (meine) Forderungen nach wissenschaftlicher Stringenz an den unerschöpflichen Möglichkeiten, von einem Rätsel zum nächsten zu hüpfen.
In der dritten Phase folgt meist eine hitzige Debatte über die Kompetenz von bestimmten Fachleuten. Im Wesentlichen geht es hier darum zu zeigen, dass sehr gut informierte Menschen die Verschwörungstheorie ebenfalls unterstützen. Damit verbunden ist das Argument, ein medialer und öffentlicher Druck hindere viele weitere Menschen mit Expertise daran, ihre Meinung zu sagen – deshalb seien in den entsprechenden Gruppierungen meist nur pensionierte Fachleute oder solche ohne universitäre Anstellungen oder wissenschaftliche Publikationen zu finden.
Die vierte Phase wird eröffnet, wenn der Eindruck entsteht, meine Gesprächsbereitschaft sei ein Signal dafür, dass ich die Seite wechseln möchte. Mehrfach wurden mir dann schon Treffen mit Ganser oder anderen Fachleuten, die vom Ganser-Zirkel vereinnahmt werden, in Aussicht gestellt (etwa mit dem Wirtschaftswissenschaftler Marc Chesney, der in einem Paper den Optionenhandel rund um 9/11 untersucht hat). Diese Fachleute, so die Ankündigung, würden mir in vertraulichen Gesprächen Dinge zeigen, die man im Netz nicht diskutieren könne. Auch wurden mir Treffen mit Personen offeriert, deren Identität mir erst vor Ort offenbart werden könne. Voraussetzungen seien aber Vertrauen und die Bereitschaft, sich an Abmachungen zu halten. „Darauf soll jeder seine Aussagen im erforderlichen Ausmass korrigieren, sie den anderen Beteiligten verbindlich zur Freigabe vorlegen und ab dann in den vereinbarten Formulierungen öffentlich einsetzen dürfen“, lautete eines dieser Angebote per Facebook-Nachricht.
Diese vierte Phase legt für mich die Vermutung einer Organisation innerhalb der Ganser-Gesprächskreise nahe. Ganser selbst tritt wie erwähnt nie in Erscheinung. Sein Charisma und seine Überzeugungskraft sind den grossen Bühnen und den privaten Treffen vorbehalten. Die Strategie geht auf: Seine Auftritte sind teuer, aber ausverkauft. Er füllt Hallen – und mobilisiert durch seine Anhänger im Netz.
Fazit
Die Erforschung solcher Gespräche und Zirkel wirft natürlich methodische Fragen auf: Die Teilnahme an Gesprächen, die gleichzeitig Untersuchungsgegenstand sind, ist eine verbreitete Methode der (digitalen) Feldforschung. Sie berührt aber auch methodische und ethische Grenzen. Denn: Menschen sollten „nicht als blosse Datenlieferanten“ angesehen werden. Die Forscherin oder der Forscher muss sich, wie ich es versuche, als Mensch einbringen (siehe die 10 Gebote der Feldforschung von Roland Girtler). Zudem: Wer Menschen in Experimente einbezieht, muss sie vorher darüber informieren und selbst eine neutrale Position einnehmen. Dies wiederum habe ich nicht gemacht. Damit sind abschliessend grosse Herausforderungen der Gesprächsbeobachtung in sozialen Netzwerken benannt: Wie gelingt es, Menschen zu achten und ihre Wahrnehmung zu respektieren, wenn davon auszugehen ist, dass sie manipuliert werden und selbst Informationen so manipulieren? Wie kann sich ein Gespräch auf Augenhöhe mit jemandem entfalten, deren oder dessen Haltung mir Sorge bereitet?

Abraham Zapruder: Die Ermordung J.F.Kennedys, 1963; Quelle: crime-mysterie.info
Denn genau das zeigen meine Ergebnisse: Es gibt Gründe, sich Sorgen zu machen. Für mein Buch über Nonsens im Netz habe ich in den Ganser-Diskussionen viel darüber gelernt, wie Information ohne Bemühung um Wahrhaftigkeit für die Konstruktion von Verschwörungstheorien eingesetzt wird. Die zentrale Einsicht ist dabei, dass Verschwörungstheorien Ereignisse als Zeitlupe erzählen: Wie beim Zapruder-Film von der Ermordung John F. Kennedys entsteht dadurch der Eindruck eines präziseren Blickes. Tatsächlich aber lässt dieser Blick die Realität in unscharfe Bilder zerfliessen. Bilder, die alles und nichts bedeuten können. So entstehen Codes, die für Eingeweihte sehr aufschlussreich sind und Paranoia befördern, die aber keiner analytischen Prüfung standhalten.