Wie kommen wir aus der ökonomischen und ökologischen Sackgasse heraus? Indem wir lernen, mit Pilzen zu denken – und uns unsere Geschichte(n) auf eine andere Weise zu erzählen. So Anna Lowenhaupt Tsing in ihrem fast schon zum Kultbuch avancierten «Der Pilz am Ende der Welt».

  • Christine Lötscher

    Christine Lötscher lehrt Populäre Literaturen und Medien mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien am ISEK - Populäre Kulturen der Universität Zürich und ist Herausgeberin von Geschichte der Gegenwart.

Der Klima­wandel und das Bewusst­sein, dass es mit einer auf Wachstum und Verbrauch von Ressourcen basie­renden Ökonomie nicht weiter­gehen kann, sorgen für düstere Gegen­warts­ana­lysen, auch und gerade in kultur­wis­sen­schaft­li­chen Studien. Die ameri­ka­ni­sche Anthro­po­login Anna Lowen­haupt Tsing schafft mit ihrem von eigen­wil­ligen Beob­ach­tungen und Gedanken nur so flir­renden Buch über den Matsutake-Pilz das, was heute am drin­gendsten gebraucht wird, nämlich gedank­liche Frei­räume, um über Alter­na­tiven zu den derzeit domi­nanten Fortschritts- und Unter­gangs­er­zäh­lungen nach­zu­denken. Beson­ders inter­es­sant ist ihr Versuch einer neuen Form des Erzäh­lens, bei der eine leben­dige Assem­blage unter­schied­lichster Wesen und Dinge an die Stelle des einsamen Action­helden tritt.

Die Made­leine unter den Pilzen

Der Mats­u­take, ein edler Wild­pilz aus der Familie der Ritter­lings­ver­wandten, lässt nichts und niemanden kalt. Nackt­schne­cken meiden ihn, Flug­in­sekten geraten seinet­wegen in Ekstase. In Japan löst sein Geruch Nost­algie aus und eine ansehn­liche Lyrik­pro­duk­tion. In seinem Duft erkennen die Dichter die Schön­heiten des Herbstes, und er lässt Erin­ne­rungen mit einer seltenen Inten­sität aufblitzen – der Vergleich mit Prousts Made­leine liegt auf der Hand.

Autumn Fine Dining: Mats­u­take Mush­room; Quelle: tiptoeingworld.com

Menschen euro­päi­scher Abstam­mung hingegen scheinen es eher mit den Nackt­schne­cken zu halten und können sich nur schwer an den magi­schen Duft gewöhnen (die Autorin dieses Textes kann diese Behaup­tung in Erman­ge­lung eines Zugriffs auf die Deli­ka­tesse leider nicht empi­risch über­prüfen). So erhielt der Pilz zunächst den wissen­schaft­li­chen Namen Tricho­loma nauseosum, der ekel­er­re­gende Ritter­ling – wobei er später aus Rück­sicht auf den japa­ni­schen Geschmack in Tricho­loma mats­u­take umge­tauft wurde.

Es sind tausend Geschichten, welche Tsing in ihrem Buch erzählt, das 2015 im ameri­ka­ni­schen Original und 2018 in deut­scher Über­set­zung erschienen ist und auf seine Leser­schaft eine ähnlich eupho­ri­sie­rende Wirkung ausübt wie der Duft des Mats­u­take auf Flug­in­sekten. Wenn sie den Verflech­tungen von Wäldern, Menschen, Verwer­tungs­ketten und Migra­ti­ons­be­we­gungen mit intel­lek­tu­eller Neugier und mit der hell­wa­chen Aufmerk­sam­keit der Feld­for­scherin nach­spürt, fördert sie Geschichten von unbe­stimmten Begeg­nungen und dyna­mi­schen Gefügen zutage, in denen der Mats­u­take als «faszi­nie­render, Natur und Kultur verknüp­fender Knoten» wirksam ist.

Allein die Geschichte der Wahr­neh­mung seines Geruchs auf der Skala zwischen elabo­riertem kuli­na­ri­schem und künst­le­ri­schem Genuss und grau­sigem Fäul­nis­ge­stank verweise auf die untrenn­bare Verflech­tung von kultu­rellen und natur­ge­schicht­li­chen Aspekten. Anstatt den Pilz taxo­no­misch von seinem Umfeld zu isolieren, richtet sie den Blick auf die dyna­mi­sche, von vielen mensch­li­chen und nicht-menschlichen Akteur:innen mitge­stal­tete Assem­blage, in der er gedeiht, gesam­melt, verkauft und verschenkt wird.

Was so spie­le­risch daher­kommt, bedeutet eine durchaus radi­kale Verschie­bung des Blicks: Das Erkennt­nis­in­ter­esse wendet sich ab vom einzelnen Körper als in sich abge­schlos­sener Entität und konzen­triert sich auf die Gestalt der Bewe­gungen, die sich zwischen Körpern abspielen im Lauf der Zeit. Was wäre, fragt die Autorin, wenn wir unser Leben als unbe­stimmte, in der Zeit wandel­bare Form wahr­nehmen könnten? Im Zentrum steht nicht mehr die Frage, wer die Kontrolle über andere hat, sondern was verschie­dene, ganz unter­schied­liche Lebens­formen mitein­ander bewegen können. Der gemein­same Nenner ist die Fähig­keit, Welten zu bauen, auch wenn sie noch so prekär und ephemer sind.

Vom Glück des Pilzesammelns

Tsing geht von einer wissen­schaft­li­chen Beob­ach­tung und einer persön­li­chen Erfah­rung aus, die sie mitein­ander verwebt. Nicht nur nach der nuklearen Kata­strophe in Hiro­shima war das erste Leben, das sich wieder regte, ein Mats­u­take. Auch in den abge­holzten Wäldern Oregons schossen die Edel­pilze plötz­lich aus dem Boden; sie gehören, zusammen mit Ratten, Wasch­bären und Kaker­laken, zu den Lebe­wesen, die sich in den Trüm­mern des Kapi­ta­lismus zurecht­finden und neue Lebens­räume schaffen können.

Das sei keines­wegs als Ausrede für weitere Zerstö­rungen zu verstehen, sondern als Hinweis darauf, dass auch am vermeint­li­chen Ende der Welt noch Koexis­tenz, ein gemein­schaft­li­ches Über­leben möglich sei. Tsing berichtet von ihrer Feld­for­schung in den abge­holzten, verwüs­teten Wäldern Oregons, in denen plötz­lich ein wildes Treiben ausbricht. Die Kiefern, die auf dem zerstörten Boden wachsen, bieten die ideale Umge­bung für Mats­u­take, die wiederum Pilzsammler:innen anziehen. Bei diesen handelt es sich vor allem um Menschen, die unter prekären ökono­mi­schen Bedin­gungen leben. Dazu gehören weisse Kriegs­ve­te­ranen ebenso wie Migrant:innen aus südost­asia­ti­schen Ländern, viele von ihnen eben­falls kriegstraumatisiert.

Was sie alle verbinde, sei eine Idee von Frei­heit, die Tsing als eigen­wil­lige Ausle­gung des ameri­ka­ni­schen Traums unter prekären Bedin­gungen und ohne Enga­ge­ment von staat­li­cher Seite beschreibt. Sie formu­liert einfühl­same kleine Porträts dieser Menschen, lässt sie selbst zu Wort kommen und vermeidet so jede Idea­li­sie­rung einer unsi­cheren Exis­tenz ohne festes Einkommen, «ohne das Verspre­chen von Stabi­lität». Wenn sie vorschlägt, das Leben in offenen, sich immer wieder ändernden Gefügen – die sie im Original Assem­blagen nennt – als Chance zu begreifen, orien­tiert sie sich gerade nicht an abstrakten Idealen, sondern am realen Leben abseits der Vorstel­lungen von Ordnung und Fort­schritt, die den Blick auf ökono­mi­sche Wirk­lich­keiten verstellen.

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Indem sie ihre eigene Erfah­rung des Pilze­sam­melns ins Spiel bringt, verbindet sie die Möglich­keiten der arten­über­grei­fenden Koope­ra­tion mit elemen­taren mensch­li­chen Bedürf­nissen, insbe­son­dere dem Wunsch, einfach leben zu dürfen, ohne Leis­tung und Nach­weis von Produk­ti­vität. Sie schreibt: «Pilze werfen mich auf meine Sinne zurück, nicht einfach – wie bei Blumen – durch ihre ausge­las­senen Farben und Düfte, sondern weil sie so uner­wartet aufschießen und mich an das Glück erin­nern, einfach da zu sein. Dann weiß ich wieder, dass es noch Freuden gibt inmitten der Schre­cken der Unbestimmtheit.»

Poly­phon und arten­über­grei­fend erzählen

Tsing verfolgt neben der ausführ­li­chen Analyse des Gefüges aus Wäldern, Pilzen, Menschen und komplexen Handels­wegen eine weitere Agenda, die vor allem für die kultur­wis­sen­schaft­liche Literatur- und Medi­en­wis­sen­schaft von Bedeu­tung ist. Denn unter dem Schlag­wort Ästhe­tiken des Anthro­po­zäns inter­es­sieren sich Forscher:innen für Spiel­arten des Erzäh­lens, bei denen nicht der einsame Held oder die einsame Heldin im Mittel­punkt steht. Viel­mehr erproben sie ästhe­ti­sche Formen, um das arten­über­grei­fende Zusam­men­leben erfahrbar zu machen.

Es sei an der Zeit, schreibt Tsing program­ma­tisch, neue Mittel zu finden, mit denen sich auch jenseits zivi­li­sa­to­ri­scher Grund­prin­zi­pien wie der Idee, die «Natur» könne durch tech­no­lo­gi­schen und ökono­mi­schen Fort­schritt unter Kontrolle gebracht werden, rele­vante Geschichten erzählen lassen: «Wenn man auf die Tren­nung von Mensch und Natur verzichtet, können alle Krea­turen wieder am Leben teil­haben.» Und es braucht das wissen­schaft­liche und das lite­ra­ri­sche Erzählen, um dieses viel­fäl­tige Leben sichtbar zu machen.

Anna Lowen­haupt Tsing, „The Mush­room at the End of the World. On the Possi­bi­lity of Life in Capi­ta­list Ruins“ (Cover der ameri­ka­ni­schen Ausgabe); Quelle: press.princeton.edu

Die Autorin legt ein inspi­rie­rendes Beispiel eines Buches vor, das wissen­schaft­liche Methodik in grösster Selbst­ver­ständ­lich­keit mit lite­ra­ri­schen Verfahren verbindet. Die kurzen Kapitel, die vom Pilz zu seinen Sammler:innen, zu globalen Handels­ketten und wieder zurück in den Wald springen, ergeben zusammen eben­falls eine poly­phone Assem­blage, ganz nach dem Vorbild der Rhythmen der Land­schaft, in welcher der Mats­u­take gedeiht.

Nicht zuletzt lässt sich aus Tsings Über­le­gungen folgern, dass in popu­lären Genres des Erzäh­lens ein Wissen über die Welt trans­por­tiert wurde, das Formen eines Denkens bereit­stellt, mit denen sich das Welten­bauen durch Assem­blagen aus unter­schied­lichsten Wesen und Dingen vorstellen und begreifen lässt. Die Verwick­lungen zwischen den Arten, «die einst in das Reich der Fabeln gehörten», seien nun Stoff ernst­hafter Erör­te­rungen von Biologen und Ökologen – und wirken über die Natur­wis­sen­schaft auf die Künste und Kultur­wis­sen­schaft zurück.

Die hell­wache Aufmerk­sam­keit, mit der man den «Pilz am Ende der Welt» liest, hat mit dem Assemblage-Charakter des Buches zu tun – und mit dem lust­vollen Ton, der aben­teu­er­lus­tigen Energie des Textes, der frei ist von Alar­mismus und apoka­lyp­ti­scher Panik, aber auch souverän den Kitsch vermeidet, dem man oft begegnet, wenn es um Bäume, Pilze und ihre unter­ir­di­schen Netz­werke geht. Tsing erwähnt zwar kurz das viel­be­schwo­rene «wood wide web», das Internet des Waldes, ohne es aber als mora­li­sches Vorbild für die kurz­fristig denkende und auf den eigenen Vorteil fixierte Mensch­heit zu stili­sieren. Ihr geht es um die Form, welche Koope­ra­tion in den Trüm­mern des Kapi­ta­lismus annehmen kann, und darum, den Blick dafür zu schärfen.

Was das Buch so inspi­rie­rend macht, ist denn auch die Präzi­sion und Nüch­tern­heit, wenn es ums Beob­achten und Beschreiben geht, in Verbin­dung mit einem visionär-verspielten Umgang mit Theorie. Denn der Humus, auf dem Tsings Argu­men­ta­tion gedeiht, ist die femi­nis­ti­sche Wissen­schafts­theorie, die sie zusammen mit Donna Haraway und anderen Forscher:innen der Univer­sity of Cali­fornia in Santa Cruz weiter­ent­wi­ckelt hatte. Daraus ging eine neue, ebenso vom femi­nis­ti­schen Denken an der Schnitt­stelle von Natur- und Kultur­wis­sen­schaft wie vom lite­ra­ri­schen Schreiben beein­flusste Methode hervor, das «arten­über­grei­fende Erzählen», das Tsing in ihrem Buch auf über­zeu­gende Art betreibt.

Ursula K. Le Guin, The Carrier Bag Theory of Fiction (Cover); Quelle: ignota.org

Wobei der Hinweis auf die lite­ra­ri­sche Herkunft dieses Erzäh­lens hier nicht fehlen darf; es geht nämlich auf die Poeto­logie der Science Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin (1929–2018) zurück, die in den letzten Jahren als Vorden­kerin eines ebenso nach­hal­tigen wie boden­stän­digen Welt­ver­ständ­nisses gefeiert wird. In ihrem Essay «The Carrier Bag Theory of Fiction» denkt sie darüber nach, wie sich Geschichten ohne hand­lungs­starke Helden erzählen lassen. In Donna Hara­ways Denken spie­gelt sich diese Suche nach anderen Formen auch darin, dass sie den Begriff des Anthro­po­zäns, der den Menschen als handelndes Subjekt ins Zentrum stellt, durch den des Cthul­hu­zäns ersetzt – in Hinblick auf eine Zukunft in einer «sympoie­ti­schen», vom Zusammen-Machen unter­schied­lichster Wesen und Dinge geprägten Welt.

Le Guin hat ganz prag­ma­ti­sche Vorstel­lungen für dieses Erzählen ohne einsamen Helden. Um die Geschichten einzu­sam­meln, die überall – wie Matsutake-Pilze – ganz von selbst wuchern, braucht es in erster Linie einen Korb oder einen Beutel. Dabei wider­spricht sie der oft wieder­holten Behaup­tung, jede Geschichte entzünde sich notwen­di­ger­weise an einem Konflikt. Ausein­an­der­set­zungen seien eine Form von Begeg­nung unter anderen, nicht mehr und nicht weniger, die selbst­ver­ständ­lich im Beutel Platz haben. Im Kern gehe es beim Geschich­ten­er­zählen aber um einen Prozess, an dem viele Akteur:innen betei­ligt seien.

Tsings Buch ist ein Le Guin’scher Beutel, der es möglich macht, die Aben­teuer von Land­schaften so span­nend zu erzählen, dass man beim Lesen das Gefühl hat, am Puls der wesent­li­chen Fragen der Zeit zu sein – gerade weil es nicht nur um den Menschen und seine Perspek­tive geht. Der Mats­u­take eignet sich deswegen so gut als Prot­ago­nist, weil er ein Zwischen- und Verbin­dungs­wesen ist. Jeder Versuch, etwas über den Pilz zu sagen, lässt sofort die Viel­stim­mig­keit all der Wesen, Dinge, Begeg­nungen und Konzepte erklingen, die mit ihm verflochten sind.

Anna Lowen­haupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapi­ta­lismus. Aus dem ameri­ka­ni­schen Englisch von Dirk Höfer. Berlin: Matthes & Seitz 2018.