Der russische Angriffskrieg und jüngst die Raketenangriffe gegen städtische Zentren bedrohen Hunderttausende in der Ukraine. Wie kann man den Menschen helfen, die auf der Flucht im Nirgendwo leben und von den Kriegsgeschehnissen traumatisiert sind?

  • Imke Hansen

    Imke Hansen ist promovierte Osteuropa-Historikerin. Im Zentrum ihrer Forschung stehen individuelle und kollektive Gewalterfahrungen, Erinnerung und Trauma. Als zivilgesellschaftliche Trainerin und Mentorin begleitet sie seit 2016 traumatisierte Menschen in der Ukraine.
  • Felix Ackermann

    Felix Ackermann ist Professor für Public History an der FernUniversität in Hagen. Aktuelles Forschungsthema: die Geschichte der Digitalisierung autobiographischer Erzählungen in der Ukraine, Belarus und Russland. Er ist Mitbegründer von „Stimmen aus Belarus“.

In der Ukraine leben Millionen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten. Imke Hansen ist promo­vierte Histo­ri­kerin und orga­ni­siert für die Orga­ni­sa­tion Libe­reco Part­ner­ship for Human Rights psycho­lo­gi­sche Hilfe vor Ort. In einem Inter­view, das sie per Zoom vom Flug­hafen in der moldaui­schen Haupt­stadt Chișinău aus gabt, erklärt sie, worauf es im Herbst 2022 für die Unter­stüt­zung der Menschen in der Ukraine ankommt.

Felix Acker­mann: Aus welcher Perspek­tive erleben Sie den russi­schen Krieg gegen die Ukraine?

Fotos: Imke Hansen

Imke Hansen: Ich arbeite seit 2015 im Osten der Ukraine, wo der russisch-ukrainische Krieg schon seit 2014 andauert. In Sever­odo­netsk, einer Stadt, die in den letzten Jahren circa dreißig Kilo­meter von der Front­linie entfernt war, hat die ukrai­ni­sche Orga­ni­sa­tion Vostok SOS einen Stütz­punkt. Dort haben wir mit Hilfe von Libe­reco und anderen Orga­ni­sa­tionen einen trau­ma­sen­si­tiven Trainigs-Hub einge­richtet. Dort konnten Menschen lernen, besser mit dem Stress umzu­gehen, den das Leben in einem Kriegs­ge­biet mit sich bringt. Wir haben dort mit zivil­ge­sell­schaft­li­chen Initia­tiven, Schulen und mit der Polizei des Gebiets Luhansk gear­beitet, um Stress­re­si­lienz zu stärken, Konflikte in der Gesell­schaft gewalt­frei zu bewäl­tigen und für den Umgang mit trau­ma­ti­sierten Menschen zu sensi­bi­li­sieren. Wir sind regel­mäßig in die Orte direkt an der Front­linie gefahren, Wie Stanytsia Luhanska oder Shastya, um auch dort Trai­nings zu geben und zivil­ge­sell­schaft­liche Entwick­lung zu unterstützen.

FA: Sie gehören zu den wenigen deut­schen Akteur:innen, die für ihr eigenes Handeln Konse­quenzen aus dem russi­schen Über­fall im Jahr 2014 gezogen hatten. Wann haben sich für Sie die Anzei­chen einer Auswei­tung der Kriegs­zone verdichtet?

IH: Im Sommer letzten Jahres nahm in den Städten entlang der dama­ligen Front­linie der Beschuss zu. Seit dem Herbst war eine mögliche weiter­ge­hende russi­sche Inva­sion immer mal wieder Gesprächs­thema. Als dann am 17. Februar 2022 der Kinder­garten in Stanytsia Luhanska beschossen wurde, war klar, dass es losgeht, etwas, von dem wir zu dem Zeit­punkt noch keine Vorstel­lung hatten. Seit dem 24. Februar sind wir vor allem damit beschäf­tigt, huma­ni­täre Hilfs­lie­fe­rungen zu koor­di­nieren, Evaku­ie­rung zu ermög­li­chen und den Geflüch­teten inner­halb der Ukraine zu helfen. Dabei hat die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft gerade in den ersten Wochen und Monaten Enormes geleistet, zahl­lose Menschen haben sich enga­giert, viele davon zum ersten Mal in ihrem Leben. Am Bahnhof Uzhgorod wurde eine Versor­gungs­sta­tion aufge­baut, wo Geflüch­tete Essen, medi­zi­ni­sche Hilfe, aber auch Klei­dung oder eine tempo­räre Unter­kunft erhalten konnten. In den ersten Wochen wurden da 10.000 Menschen am Tag versorgt. Die Arbeit leis­tete ein Team von Frei­wil­ligen, die sich spontan zusam­men­ge­funden haben, geleitet von einer Person, die bis dahin Kosme­ti­kerin war. Solche spon­tanen Initia­tiven sind kein Einzel­fall, sondern eher typisch für die Reak­tionen der ukrai­ni­schen Gesell­schaft auf die russi­sche Großinvasion.

FA: In den Gebieten Luhansk, Cherson und Donetsk werden derzeit immer neue Gebiete von der ukrai­ni­schen Armee befreit. Wie geht es den Menschen vor Ort? 

Fotos: Imke Hansen

IH: Nach der Befreiung brau­chen die Menschen in den meisten Orten erstmal drin­gend huma­ni­täre Hilfe, verletzte, kranke und trau­ma­ti­sierte Menschen müssen evaku­iert werden. In vielen Orten fehlt es erstmal an allem. Die Infra­struktur ist beschä­digt und funk­tio­niert nicht, durch Plün­derei und Zerstö­rung funk­tio­niert über­haupt erstmal vieles nicht. Der Ort Trostanyets in der nord­ukrai­ni­schen Oblast Sumy hatte nach dem Abzug der russi­schen Armee keinen einzigen Kran­ken­wagen mehr, keinen einzigen Bus. Schulen und andere Gebäude, wo die russi­sche Armee sich einquar­tiert hat, sind beschä­digt und voller Müll. Menschen haben ihre Häuser und Wohnungen verloren, Gebäude und beschä­digte Infra­struk­turen müssen wieder aufge­baut werden, das ist ein langer Prozess und vielen fehlen die Mittel. Viele Menschen in diesen Orten haben Wochen und Monate in stän­diger Todes­angst verbracht, sind Augenzeug*innen von Gewalt geworden und selbst davon betroffen gewesen, manche haben Gefan­gen­schaft und Folter über­lebt. Es wird Jahre dauern, bis die Städte und Dörfer, und die Gesund­heit ihrer Einwohner wieder herge­stellt sind.

FA: Welche physi­schen Spuren haben die russi­schen Besatzer in diesen Orten hinterlassen?

IH: Plün­de­rung, Zerstö­rung und sehr viel Müll. Ich habe eine örtliche Biblio­thek gesehen, in der russi­sche Soldaten nur vier­und­zwanzig Stunden einquar­tiert waren. Es ist beein­dru­ckend, was man in vier­und­zwanzig Stunden alles kaputt machen kann. Davon handeln auch die Geschichten der Menschen, die wir in diesen Orten treffen. Die meisten sind fassungslos ange­sichts der Verwüs­tung. Die Menschen beschreiben russi­sche Soldaten wort­wört­lich als „Orks“, um das Ausmaß der Bruta­lität und Primi­ti­vität der russi­schen Soldaten zu beschreiben. Es kursieren zum Beispiel Geschichten von Soldaten, die einen elek­tri­schen Teeko­cher auf die Herd­platte gestellt haben, von Plün­de­rungen, bei denen kaum brauch­bare Einzel­teile mitge­nommen wurden, und ähnliche Geschichten, mit denen auf die Rück­stän­dig­keit der Inva­soren hinge­wiesen wird.

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FA: Welche psychi­schen Spuren hinter­lässt das bei den betrof­fenen Menschen?

IH: Zahl­reiche Menschen in den befreiten Gebieten äußern Angst davor, dass die russi­sche Armee zurück­kehrt, und sie noch­mals eine Beset­zung erleben müssen. Diese Angst spielt in Gesprä­chen eine größere Rolle als Forde­rungen nach Gerech­tig­keit, was darauf hinweist, dass die Menschen, mit denen wir gespro­chen haben, immer noch im Über­le­bens­modus sind. Die Bedro­hung der physi­schen Exis­tenz ist also immer noch oder immer wieder so groß, dass das eigene Über­leben und das Über­leben von Ange­hö­rigen und Freunden so viel Raum einnehmen, dass andere Themen daneben kaum Platz haben. Viele Menschen sind immer noch in einer Kampf- oder Flucht­re­ak­tion, sie regen sich schnell auf, fühlen sich schnell bedroht, wirken wütend. Das ist in einer solchen Situa­tion über­haupt nicht verwun­der­lich, schließ­lich dient es in so einer Situa­tion dem Über­leben, alles und alle anderen poten­ziell als Bedro­hung wahr­zu­nehmen. Es führt aber auch zu vielen Konflikten, auch mit Menschen, denen man eigent­lich vertraut und denen man nichts Böses will.

Wieder andere Menschen wirken unbe­tei­ligt oder wie gelähmt, als wenn ein Teil von ihnen in der Erstar­rungs­re­ak­tion, auch Totstell­re­flex genannt, stecken geblieben sind. Solchen Menschen fällt es oft schwer, Entschei­dungen zu fällen, wie es weiter gehen soll, Kräfte zu mobi­li­sieren und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Viele Menschen brau­chen Unter­stüt­zung, und die beste Unter­stüt­zung in solchen Momenten ist peer-support, also gegen­sei­tige Unter­stüt­zung von Menschen, die in einer ähnli­chen Situa­tion sind oder ähnli­ches erlebt haben.

FA: In der Ukraine sind heute mehr als sieben Millionen Menschen Binnen­flücht­linge. Wie schätzen Sie die Folgen der im Osten und Süden des Landes fort­ge­setzten russi­schen Kriegs­füh­rung für sie ein?

Fotos: Imke Hansen

IH: Ein großer Teil der Binnen­ge­flüch­teten lebt wie in einem Zwischen­raum – nicht in ihrer Heimat und ohne an einem anderen Ort ange­kommen zu sein, arbeitslos, ohne konkrete Perspek­tive einer Verbes­se­rung. Viele leben in Unter­künften, manche schlafen auf dem Boden oder auf Plas­tik­son­nen­liegen. Die meisten sind auf externe Hilfe ange­wiesen. Viele Fami­lien sind zerrissen, Frauen und Kinder an einem Ort, und die Männer an einem anderen. Viele wissen nicht, wie es weiter gehen soll, können keine Entschei­dung treffen und warten darauf, wieder zurück­zu­können. In den Shel­tern, aber auch in privaten Quar­tieren sind die Menschen nicht frei­willig. Wie gesagt, es entstehen sehr schnell Konflikte, wenn Menschen gestresst und ständig auf der Hut vor Bedro­hung sind. Doch die Folgen der Flucht­be­we­gung betreffen nicht nur die Geflüch­teten, sondern auch die Einwohner*innen der Orte, die sie aufge­nommen haben, wo die Infra­struktur jetzt unter einer größeren Belas­tung steht und es viele Probleme zu lösen gibt, ohne dass dafür die notwen­digen Ressourcen zur Verfü­gung stünden.

FA: Worauf ist die psycho­lo­gi­sche Unter­stüt­zung ausge­richtet, die Sie mithilfe von Libe­reco in der Ukraine für Binnen­flücht­linge anbieten?

IH: Unsere Programme sind aktuell darauf ausge­richtet, Menschen erst einmal zu stabi­li­sieren, damit sie wieder entscheidungs- und hand­lungs­fähig werden. Das geht am besten, wenn es gelingt, dass sich Menschen wieder etwas sicherer fühlen – auch wenn die Situa­tion in der Ukraine aktuell keines­wegs sicher ist. Es geht darum, sich in sich selbst und in der Situa­tion, wie unsi­cher die auch ist, sicherer und hand­lungs­fä­higer zu fühlen. Das gelingt in trau­ma­the­ra­peu­ti­schen Sitzungen in der Regel gut. In Trai­nings und in Unter­stüt­zungs­gruppen erklären wir Menschen, warum sie sich so fühlen, wie sie sich fühlen, und was es für den Körper bedeutet, in einer Stress­re­ak­tion fest­zu­ste­cken. Für viele ist das ein Aha-Moment, sie finden sich in den Symptomen und Wahr­neh­mungen wieder und fangen an, ihren eigenen Zustand mit etwas Distanz zu reflek­tieren. Sie verstehen auch, dass es nicht sie sind, mit denen etwas nicht stimmt, sondern dass sie eine ganz normale Reak­tion auf eine unnor­male Situa­tion erleben. Wenn Menschen erkennen, dass lästige Symptome wie Schlaf­lo­sig­keit, Nervo­sität, Angst und Kontroll­be­dürfnis von einer Stress­re­ak­tion kommen, die ihnen im ursprüng­li­chen Moment das Leben gerettet hat, fällt es ihnen oft leichter, diese Stress­re­ak­tion loszulassen.

In unserer Arbeit üben wir mit Menschen, wie sie ihren Stress und ihre Angst regu­lieren können, anstatt einfach auszu­halten oder zu verdrängen. Mit einfa­chen Körper- und Wahr­neh­mungs­übungen geben wir ihnen Instru­mente an die Hand, die ihnen helfen können, ihre Stress­re­si­lienz zu verbes­sern und schwie­rige Situa­tionen sowie Lang­zeit­be­las­tungen zu meistern.

FA: Ein wich­tiges Prinzip Ihrer Arbeit vor Ort, ist auch im Bereich psycho­lo­gi­scher Unter­stüt­zung Hilfe zur Selbst­hilfe zu leisten. Wie kann man sich diese Hilfe für dieje­nigen vorstellen, die selbst in der Ukraine helfen?

IH: Wir arbeiten momentan viel mit den Menschen, die in der Hilfe für Kriegs­ge­schä­digte aktiv sind. Nach sieben Monaten außer­or­dent­li­chen Enga­ge­ments unter den Bedin­gungen eines Krieges, der das ganze Land betrifft, breitet sich Erschöp­fung aus. Viele Menschen sind ausge­brannt und wollen zugleich nicht aufhören, anderen zu helfen. Journalist*innen und Menschen, die in der Doku­men­ta­tion von Menschenrechts- und Kriegs­ver­bre­chen arbeiten, suchen nach Möglich­keiten, ihre Resi­lienz zu stärken, um nicht mit den Gefühlen und Geschichten ihrer Interviewpartner*innen nach Hause zu gehen. Psychotherapeut*innen wollen sich in trau­ma­the­ra­peu­ti­schen Methoden fort­bilden, damit sie Betrof­fenen effektiv helfen können. Wir unter­stützen diese Inten­tionen, bieten Trai­nings und Work­shops an, beraten und betreuen. Wir profi­tieren hier davon, schon in den Jahren davor trau­ma­sen­si­tive Trai­nings aufge­baut zu haben. So verfügen wir über Arbeits­ma­te­ria­lien und Erfah­rung, wie wir den Helfern schnell und effektiv helfen können. Insge­samt gibt es sehr viele, die Hilfe brau­chen. Geflüch­tete, Ange­hö­rige von Kriegs­ge­fan­genen und Vermissten, Menschen, die durch den russi­schen Angriff alles verloren haben, stecken oft fest in dem Erlebten und können kaum Kontakt mit anderen aufnehmen oder Unter­stüt­zung annehmen. Hier braucht es oft weniger profes­sio­nelle Therapeut*innen als den bereits erwähnten Peer-Support, also gegen­sei­tige Unter­stüt­zung in der Familie, der Nach­bar­schaft, zwischen Menschen, die ähnli­ches erlebt haben. Gemein­same alltäg­liche Tätig­keiten, wie zusammen kochen oder zusammen am Wieder­aufbau eines Hauses arbeiten, können da schon sehr helfen. Gemeinsam spielen und singen hilft nicht nur Kindern, sondern auch Erwach­senen aus dem Trauma. Das gilt auch für die Geflüchteten.

Kurzum, gemein­same Akti­vi­täten und alles, was ein Stück Alltags­rhythmus und Norma­lität zurück­bringt, kann helfen.

Und schließ­lich ist es wichtig, dass die Menschen sich verge­gen­wär­tigen, dass sie nicht unnormal, krank oder verrückt sind. Sie haben einfach eine Stress­re­ak­tion, eine absolut normale Reak­tion auf abnor­male Umstände, auf stän­dige lebens­be­droh­liche und scho­ckie­rende Ereig­nisse. Viele Menschen schämen sich ihrer Reak­tionen und ihrer körper­li­chen Probleme und spre­chen nicht darüber, igno­rieren sie sogar, auch wenn sich ihr Zustand dadurch verschlech­tert. Sie wollen nicht als schwach gelten und keine schlechten Menschen sein. Sie fühlen sich schuldig, dass sie nicht noch tapferer und helden­hafter handeln, noch weniger schlafen und noch mehr anderen Menschen helfen. Moral steht uns oft im Weg, die Zeichen unseres Körpers zu verstehen, und Film­helden haben den Rahmen dessen, was möglich ist, völlig verzerrt. In Wirk­lich­keit ist es eben nicht das Beste, nach einer nahezu über­for­dernden Situa­tion Martini zu trinken und so zu tun, als wäre alles ganz leicht gewesen. Schlimme Erleb­nisse, schwie­rige Situa­tionen müssen als solche gewür­digt und vom Körper verdaut werden, damit das Nerven­system gesund und stark bleibt.

FA: In vielen ehema­ligen Sowjet­re­pu­bliken gibt es tradi­tio­nelle Vorbe­halte gegen psycho­lo­gi­sche Hilfe. Prägen sie Ihre Arbeit in der heutigen Ukraine immer noch?

IH: Ja, vielen Menschen fällt es schwer, psycho­lo­gi­sche Hilfe in Anspruch zu nehmen. In der Sowjet­union war Psycho­logie als bour­geoise Pseu­do­wis­sen­schaft verpönt. Viele Menschen fürchten bis heute, dass Therapeut*innen in ihre Psyche eindringen und da etwas verän­dern, was sie nicht unter Kontrolle haben. Gleich­zeitig gibt es die gesell­schaft­liche Erwar­tung, dass Menschen mit ihren Problemen allein klar­kommen müssen – vor allem Männer. Alles andere gilt als schwach. Gerade Scham und Schuld­ge­fühle oder die Über­zeu­gung, dass andere die Hilfe drin­gender brau­chen, halten Menschen davon ab, profes­sio­nelle Unter­stüt­zung in Anspruch zu nehmen. Und schließ­lich fürchten viele, in einer Thera­pie­sit­zung alles noch einmal durch­leben zu müssen.

FA: Mit welchem thera­peu­ti­schen Ansatz arbeiten Sie unter den Bedin­gungen eines fort­wäh­renden Krieges konkret?

IH: Wir arbeiten vor Ort mit Somatic Expe­ri­en­cing, einer Methode, die mehr mit Körper­wahr­neh­mungen als mit Erin­ne­rungen oder Gefühlen arbeitet und sich auf die Wieder­her­stel­lung eines gesunden, beweg­li­chen Nerven­sys­tems konzen­triert. Das ist nicht nur eine sehr effek­tive Methode, sondern hat auch den Vorteil, dass wir nicht die Geschichte der Menschen kennen müssen, um mit ihnen trau­ma­the­ra­peu­tisch zu arbeiten. Die Trau­ma­ti­sie­rung zeigt sich in der Physio­logie, in Span­nungen und körper­li­chen Impulsen und kann damit ohne Wieder­ho­lung der Gescheh­nisse, nur mit Wahr­neh­mungen oder abstrakten Bildern behan­delt werden. So kann auch nach sexua­li­sierter Gewalt und anderen kaum sagbaren Gewalt­er­leb­nissen Erleich­te­rung und Norma­li­sie­rung erreicht werden, ohne dass über das Ereignis gespro­chen wird.

FA: Die Bilder Millionen Geflüch­teter waren im Früh­jahr stark domi­niert von Wartenden mit ihren Katzen und Hunden. Welche Rolle spielen aus Ihrer Erfah­rung Haus­tiere für Menschen auf der Flucht?

IH: Viele Menschen haben versucht, ihre Haus­tiere mit auf die Flucht zu nehmen. Nicht immer hat das funk­tio­niert. In den meisten Unter­künften für Geflüch­tete sind Haus­tiere verboten. Im Ergebnis waren in der west­li­chen Ukraine die Tier­heime schnell über­lastet. Ich treffe aber auch immer wieder Menschen, die es geschafft haben, sich mit ihren Tieren in Sicher­heit zu bringen und mit diesen zusammen zu leben. Psycho­lo­gisch wirkt sich die Anwe­sen­heit von Tieren in der Regel stabi­li­sie­rend aus. Trau­ma­ti­sierte fühlen sich oft abge­trennt von anderen Menschen, haben Schwie­rig­keiten, Nähe auszu­halten oder in Kontakt zu treten – können aber die Bezie­hung zu ihrem Tier aufrecht­erhalten. Das Strei­cheln kann Menschen, die aufgrund von kaum aushalt­baren Situa­tionen von ihren Gefühlen abge­schnitten sind, dazu bringen, Berüh­rung wahr­zu­nehmen und damit wieder ein Stück weit in ihren Körper zu kommen. Tiere sind natür­lich auch ein Stück des alten Alltags und die regel­mä­ßige Fürsorge für sie hält einen Rhythmus im Leben aufrecht. Hunde erfor­dern Spazier­gänge – das Raus­gehen, die Bewe­gung ist auch für die Besitzer wohl­tuend und der physi­schen genauso wie der psychi­schen Gesund­heit zuträglich.

FA: Die erste Welle der Soli­da­rität ist in Deutsch­land bereits abge­klungen. Was sind aus Ihrer Sicht wich­tige Aspekte der Hilfe für die Ukraine?

IH: Nach Schät­zungen der UN sind knapp 18 Millionen Menschen in der Ukraine auf Hilfe ange­wiesen – das ist fast jede*r zweite, wenn man bedenkt, dass sieben Millionen ins Ausland geflohen sind. Um diese Hilfe auch über eine längere Zeit zu mobi­li­sieren, ist es wichtig, dass in Deutsch­land weiter über die Ukraine gespro­chen wird – egal ob am Küchen­tisch, im Sport­studio oder am Arbeits­platz. Ein großes Poten­zial haben alle gleich­be­rech­tigten, lang­fris­tigen Part­ner­schaften auf Augen­höhe – wie Freund­schaften zwischen Frei­wil­ligen Feuer­wehren oder Vereinen, oder Städ­te­part­ner­schaften. Jede Form direkter Koope­ra­tion schafft Nach­hal­tig­keit und Verbin­dung. Auch Spenden sind weiterhin drin­gend nötig. Beson­ders regel­mäßig über­wie­sene Beträge, auch wenn sie klein sind, stabi­li­sieren unsere Arbeit in der Ukraine.

FA: Sie arbeiten inzwi­schen haupt­amt­lich in der Ukraine, um Menschen psychisch zu unter­stützen. Zuvor hatten Sie an den Univer­si­täten Hamburg und Uppsala geforscht. Wann haben Sie entschieden, sich den Menschen in der Ukraine zuzuwenden?

IH: Ich habe mich während meiner wissen­schaft­li­chen Arbeit mit den Themen Gewalt­er­fah­rung und Trauma befasst. Ein guter Teil meiner Doktor­ar­beit handelt davon, was entsteht, wenn schwer trau­ma­ti­sierte Menschen ein Museum aufbauen, wie das in der polni­schen Stadt Oswiecim mit dem Staat­li­chen Museum Auschwitz-Birkenau in den 1940er und 1950er Jahren geschehen ist. Im Rahmen von Oral-History-Projekten habe ich Inter­views mit Über­le­benden natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Verfol­gung geführt. Bei der Suche nach einem Verständnis von Trauma und dessen Auswir­kungen auf Indi­vi­duum und Kollektiv habe ich fest­ge­stellt, dass es in den Geistes- und Sozi­al­wis­sen­schaften da eine große Lücke gibt.

Um diese zu schließen, habe ich mich in der Praxis umge­schaut und eine trau­ma­the­ra­peu­ti­sche Ausbil­dung gemacht. Parallel zu meiner wissen­schaft­li­chen Tätig­keit habe ich ange­fangen, mit Menschen in der Ukraine prak­tisch zu arbeiten. 2020 begann ich, mich ganz der Praxis zu widmen. Ein Ziel ist es dabei, das Verständnis von Trauma in der Krisen­ar­beit und im Peace­buil­ding zu veran­kern. Gleich­zeitig vermisse ich das wissen­schaft­liche Schreiben. Ich höre jeden Tag Geschichten und sehe Dinge, die in meine zukünf­tige Forschung einfließen werden. Momentan bin ich ganz von der Krisen­hilfe absor­biert, hoffe aber, dass es bald wieder Zeit und Raum gibt, um das, was ich jetzt miter­lebe, höre und sehe, auch wissen­schaft­lich zu verar­beiten. Es gibt in den Themen­be­rei­chen Umgang mit kollek­tiver Gewalt­er­fah­rung und Zivil­ge­sell­schaft im Krieg noch viel Raum für Forschung.