In der Ukraine leben Millionen Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten. Imke Hansen ist promovierte Historikerin und organisiert für die Organisation Libereco Partnership for Human Rights psychologische Hilfe vor Ort. In einem Interview, das sie per Zoom vom Flughafen in der moldauischen Hauptstadt Chișinău aus gabt, erklärt sie, worauf es im Herbst 2022 für die Unterstützung der Menschen in der Ukraine ankommt.
Felix Ackermann: Aus welcher Perspektive erleben Sie den russischen Krieg gegen die Ukraine?

Fotos: Imke Hansen
Imke Hansen: Ich arbeite seit 2015 im Osten der Ukraine, wo der russisch-ukrainische Krieg schon seit 2014 andauert. In Severodonetsk, einer Stadt, die in den letzten Jahren circa dreißig Kilometer von der Frontlinie entfernt war, hat die ukrainische Organisation Vostok SOS einen Stützpunkt. Dort haben wir mit Hilfe von Libereco und anderen Organisationen einen traumasensitiven Trainigs-Hub eingerichtet. Dort konnten Menschen lernen, besser mit dem Stress umzugehen, den das Leben in einem Kriegsgebiet mit sich bringt. Wir haben dort mit zivilgesellschaftlichen Initiativen, Schulen und mit der Polizei des Gebiets Luhansk gearbeitet, um Stressresilienz zu stärken, Konflikte in der Gesellschaft gewaltfrei zu bewältigen und für den Umgang mit traumatisierten Menschen zu sensibilisieren. Wir sind regelmäßig in die Orte direkt an der Frontlinie gefahren, Wie Stanytsia Luhanska oder Shastya, um auch dort Trainings zu geben und zivilgesellschaftliche Entwicklung zu unterstützen.
FA: Sie gehören zu den wenigen deutschen Akteur:innen, die für ihr eigenes Handeln Konsequenzen aus dem russischen Überfall im Jahr 2014 gezogen hatten. Wann haben sich für Sie die Anzeichen einer Ausweitung der Kriegszone verdichtet?
IH: Im Sommer letzten Jahres nahm in den Städten entlang der damaligen Frontlinie der Beschuss zu. Seit dem Herbst war eine mögliche weitergehende russische Invasion immer mal wieder Gesprächsthema. Als dann am 17. Februar 2022 der Kindergarten in Stanytsia Luhanska beschossen wurde, war klar, dass es losgeht, etwas, von dem wir zu dem Zeitpunkt noch keine Vorstellung hatten. Seit dem 24. Februar sind wir vor allem damit beschäftigt, humanitäre Hilfslieferungen zu koordinieren, Evakuierung zu ermöglichen und den Geflüchteten innerhalb der Ukraine zu helfen. Dabei hat die ukrainische Zivilgesellschaft gerade in den ersten Wochen und Monaten Enormes geleistet, zahllose Menschen haben sich engagiert, viele davon zum ersten Mal in ihrem Leben. Am Bahnhof Uzhgorod wurde eine Versorgungsstation aufgebaut, wo Geflüchtete Essen, medizinische Hilfe, aber auch Kleidung oder eine temporäre Unterkunft erhalten konnten. In den ersten Wochen wurden da 10.000 Menschen am Tag versorgt. Die Arbeit leistete ein Team von Freiwilligen, die sich spontan zusammengefunden haben, geleitet von einer Person, die bis dahin Kosmetikerin war. Solche spontanen Initiativen sind kein Einzelfall, sondern eher typisch für die Reaktionen der ukrainischen Gesellschaft auf die russische Großinvasion.
FA: In den Gebieten Luhansk, Cherson und Donetsk werden derzeit immer neue Gebiete von der ukrainischen Armee befreit. Wie geht es den Menschen vor Ort?

Fotos: Imke Hansen
IH: Nach der Befreiung brauchen die Menschen in den meisten Orten erstmal dringend humanitäre Hilfe, verletzte, kranke und traumatisierte Menschen müssen evakuiert werden. In vielen Orten fehlt es erstmal an allem. Die Infrastruktur ist beschädigt und funktioniert nicht, durch Plünderei und Zerstörung funktioniert überhaupt erstmal vieles nicht. Der Ort Trostanyets in der nordukrainischen Oblast Sumy hatte nach dem Abzug der russischen Armee keinen einzigen Krankenwagen mehr, keinen einzigen Bus. Schulen und andere Gebäude, wo die russische Armee sich einquartiert hat, sind beschädigt und voller Müll. Menschen haben ihre Häuser und Wohnungen verloren, Gebäude und beschädigte Infrastrukturen müssen wieder aufgebaut werden, das ist ein langer Prozess und vielen fehlen die Mittel. Viele Menschen in diesen Orten haben Wochen und Monate in ständiger Todesangst verbracht, sind Augenzeug*innen von Gewalt geworden und selbst davon betroffen gewesen, manche haben Gefangenschaft und Folter überlebt. Es wird Jahre dauern, bis die Städte und Dörfer, und die Gesundheit ihrer Einwohner wieder hergestellt sind.
FA: Welche physischen Spuren haben die russischen Besatzer in diesen Orten hinterlassen?
IH: Plünderung, Zerstörung und sehr viel Müll. Ich habe eine örtliche Bibliothek gesehen, in der russische Soldaten nur vierundzwanzig Stunden einquartiert waren. Es ist beeindruckend, was man in vierundzwanzig Stunden alles kaputt machen kann. Davon handeln auch die Geschichten der Menschen, die wir in diesen Orten treffen. Die meisten sind fassungslos angesichts der Verwüstung. Die Menschen beschreiben russische Soldaten wortwörtlich als „Orks“, um das Ausmaß der Brutalität und Primitivität der russischen Soldaten zu beschreiben. Es kursieren zum Beispiel Geschichten von Soldaten, die einen elektrischen Teekocher auf die Herdplatte gestellt haben, von Plünderungen, bei denen kaum brauchbare Einzelteile mitgenommen wurden, und ähnliche Geschichten, mit denen auf die Rückständigkeit der Invasoren hingewiesen wird.
FA: Welche psychischen Spuren hinterlässt das bei den betroffenen Menschen?
IH: Zahlreiche Menschen in den befreiten Gebieten äußern Angst davor, dass die russische Armee zurückkehrt, und sie nochmals eine Besetzung erleben müssen. Diese Angst spielt in Gesprächen eine größere Rolle als Forderungen nach Gerechtigkeit, was darauf hinweist, dass die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, immer noch im Überlebensmodus sind. Die Bedrohung der physischen Existenz ist also immer noch oder immer wieder so groß, dass das eigene Überleben und das Überleben von Angehörigen und Freunden so viel Raum einnehmen, dass andere Themen daneben kaum Platz haben. Viele Menschen sind immer noch in einer Kampf- oder Fluchtreaktion, sie regen sich schnell auf, fühlen sich schnell bedroht, wirken wütend. Das ist in einer solchen Situation überhaupt nicht verwunderlich, schließlich dient es in so einer Situation dem Überleben, alles und alle anderen potenziell als Bedrohung wahrzunehmen. Es führt aber auch zu vielen Konflikten, auch mit Menschen, denen man eigentlich vertraut und denen man nichts Böses will.
Wieder andere Menschen wirken unbeteiligt oder wie gelähmt, als wenn ein Teil von ihnen in der Erstarrungsreaktion, auch Totstellreflex genannt, stecken geblieben sind. Solchen Menschen fällt es oft schwer, Entscheidungen zu fällen, wie es weiter gehen soll, Kräfte zu mobilisieren und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Viele Menschen brauchen Unterstützung, und die beste Unterstützung in solchen Momenten ist peer-support, also gegenseitige Unterstützung von Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind oder ähnliches erlebt haben.
FA: In der Ukraine sind heute mehr als sieben Millionen Menschen Binnenflüchtlinge. Wie schätzen Sie die Folgen der im Osten und Süden des Landes fortgesetzten russischen Kriegsführung für sie ein?

Fotos: Imke Hansen
IH: Ein großer Teil der Binnengeflüchteten lebt wie in einem Zwischenraum – nicht in ihrer Heimat und ohne an einem anderen Ort angekommen zu sein, arbeitslos, ohne konkrete Perspektive einer Verbesserung. Viele leben in Unterkünften, manche schlafen auf dem Boden oder auf Plastiksonnenliegen. Die meisten sind auf externe Hilfe angewiesen. Viele Familien sind zerrissen, Frauen und Kinder an einem Ort, und die Männer an einem anderen. Viele wissen nicht, wie es weiter gehen soll, können keine Entscheidung treffen und warten darauf, wieder zurückzukönnen. In den Sheltern, aber auch in privaten Quartieren sind die Menschen nicht freiwillig. Wie gesagt, es entstehen sehr schnell Konflikte, wenn Menschen gestresst und ständig auf der Hut vor Bedrohung sind. Doch die Folgen der Fluchtbewegung betreffen nicht nur die Geflüchteten, sondern auch die Einwohner*innen der Orte, die sie aufgenommen haben, wo die Infrastruktur jetzt unter einer größeren Belastung steht und es viele Probleme zu lösen gibt, ohne dass dafür die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stünden.
FA: Worauf ist die psychologische Unterstützung ausgerichtet, die Sie mithilfe von Libereco in der Ukraine für Binnenflüchtlinge anbieten?
IH: Unsere Programme sind aktuell darauf ausgerichtet, Menschen erst einmal zu stabilisieren, damit sie wieder entscheidungs- und handlungsfähig werden. Das geht am besten, wenn es gelingt, dass sich Menschen wieder etwas sicherer fühlen – auch wenn die Situation in der Ukraine aktuell keineswegs sicher ist. Es geht darum, sich in sich selbst und in der Situation, wie unsicher die auch ist, sicherer und handlungsfähiger zu fühlen. Das gelingt in traumatherapeutischen Sitzungen in der Regel gut. In Trainings und in Unterstützungsgruppen erklären wir Menschen, warum sie sich so fühlen, wie sie sich fühlen, und was es für den Körper bedeutet, in einer Stressreaktion festzustecken. Für viele ist das ein Aha-Moment, sie finden sich in den Symptomen und Wahrnehmungen wieder und fangen an, ihren eigenen Zustand mit etwas Distanz zu reflektieren. Sie verstehen auch, dass es nicht sie sind, mit denen etwas nicht stimmt, sondern dass sie eine ganz normale Reaktion auf eine unnormale Situation erleben. Wenn Menschen erkennen, dass lästige Symptome wie Schlaflosigkeit, Nervosität, Angst und Kontrollbedürfnis von einer Stressreaktion kommen, die ihnen im ursprünglichen Moment das Leben gerettet hat, fällt es ihnen oft leichter, diese Stressreaktion loszulassen.
In unserer Arbeit üben wir mit Menschen, wie sie ihren Stress und ihre Angst regulieren können, anstatt einfach auszuhalten oder zu verdrängen. Mit einfachen Körper- und Wahrnehmungsübungen geben wir ihnen Instrumente an die Hand, die ihnen helfen können, ihre Stressresilienz zu verbessern und schwierige Situationen sowie Langzeitbelastungen zu meistern.
FA: Ein wichtiges Prinzip Ihrer Arbeit vor Ort, ist auch im Bereich psychologischer Unterstützung Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Wie kann man sich diese Hilfe für diejenigen vorstellen, die selbst in der Ukraine helfen?
IH: Wir arbeiten momentan viel mit den Menschen, die in der Hilfe für Kriegsgeschädigte aktiv sind. Nach sieben Monaten außerordentlichen Engagements unter den Bedingungen eines Krieges, der das ganze Land betrifft, breitet sich Erschöpfung aus. Viele Menschen sind ausgebrannt und wollen zugleich nicht aufhören, anderen zu helfen. Journalist*innen und Menschen, die in der Dokumentation von Menschenrechts- und Kriegsverbrechen arbeiten, suchen nach Möglichkeiten, ihre Resilienz zu stärken, um nicht mit den Gefühlen und Geschichten ihrer Interviewpartner*innen nach Hause zu gehen. Psychotherapeut*innen wollen sich in traumatherapeutischen Methoden fortbilden, damit sie Betroffenen effektiv helfen können. Wir unterstützen diese Intentionen, bieten Trainings und Workshops an, beraten und betreuen. Wir profitieren hier davon, schon in den Jahren davor traumasensitive Trainings aufgebaut zu haben. So verfügen wir über Arbeitsmaterialien und Erfahrung, wie wir den Helfern schnell und effektiv helfen können. Insgesamt gibt es sehr viele, die Hilfe brauchen. Geflüchtete, Angehörige von Kriegsgefangenen und Vermissten, Menschen, die durch den russischen Angriff alles verloren haben, stecken oft fest in dem Erlebten und können kaum Kontakt mit anderen aufnehmen oder Unterstützung annehmen. Hier braucht es oft weniger professionelle Therapeut*innen als den bereits erwähnten Peer-Support, also gegenseitige Unterstützung in der Familie, der Nachbarschaft, zwischen Menschen, die ähnliches erlebt haben. Gemeinsame alltägliche Tätigkeiten, wie zusammen kochen oder zusammen am Wiederaufbau eines Hauses arbeiten, können da schon sehr helfen. Gemeinsam spielen und singen hilft nicht nur Kindern, sondern auch Erwachsenen aus dem Trauma. Das gilt auch für die Geflüchteten.
Kurzum, gemeinsame Aktivitäten und alles, was ein Stück Alltagsrhythmus und Normalität zurückbringt, kann helfen.
Und schließlich ist es wichtig, dass die Menschen sich vergegenwärtigen, dass sie nicht unnormal, krank oder verrückt sind. Sie haben einfach eine Stressreaktion, eine absolut normale Reaktion auf abnormale Umstände, auf ständige lebensbedrohliche und schockierende Ereignisse. Viele Menschen schämen sich ihrer Reaktionen und ihrer körperlichen Probleme und sprechen nicht darüber, ignorieren sie sogar, auch wenn sich ihr Zustand dadurch verschlechtert. Sie wollen nicht als schwach gelten und keine schlechten Menschen sein. Sie fühlen sich schuldig, dass sie nicht noch tapferer und heldenhafter handeln, noch weniger schlafen und noch mehr anderen Menschen helfen. Moral steht uns oft im Weg, die Zeichen unseres Körpers zu verstehen, und Filmhelden haben den Rahmen dessen, was möglich ist, völlig verzerrt. In Wirklichkeit ist es eben nicht das Beste, nach einer nahezu überfordernden Situation Martini zu trinken und so zu tun, als wäre alles ganz leicht gewesen. Schlimme Erlebnisse, schwierige Situationen müssen als solche gewürdigt und vom Körper verdaut werden, damit das Nervensystem gesund und stark bleibt.
FA: In vielen ehemaligen Sowjetrepubliken gibt es traditionelle Vorbehalte gegen psychologische Hilfe. Prägen sie Ihre Arbeit in der heutigen Ukraine immer noch?
IH: Ja, vielen Menschen fällt es schwer, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. In der Sowjetunion war Psychologie als bourgeoise Pseudowissenschaft verpönt. Viele Menschen fürchten bis heute, dass Therapeut*innen in ihre Psyche eindringen und da etwas verändern, was sie nicht unter Kontrolle haben. Gleichzeitig gibt es die gesellschaftliche Erwartung, dass Menschen mit ihren Problemen allein klarkommen müssen – vor allem Männer. Alles andere gilt als schwach. Gerade Scham und Schuldgefühle oder die Überzeugung, dass andere die Hilfe dringender brauchen, halten Menschen davon ab, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Und schließlich fürchten viele, in einer Therapiesitzung alles noch einmal durchleben zu müssen.
FA: Mit welchem therapeutischen Ansatz arbeiten Sie unter den Bedingungen eines fortwährenden Krieges konkret?
IH: Wir arbeiten vor Ort mit Somatic Experiencing, einer Methode, die mehr mit Körperwahrnehmungen als mit Erinnerungen oder Gefühlen arbeitet und sich auf die Wiederherstellung eines gesunden, beweglichen Nervensystems konzentriert. Das ist nicht nur eine sehr effektive Methode, sondern hat auch den Vorteil, dass wir nicht die Geschichte der Menschen kennen müssen, um mit ihnen traumatherapeutisch zu arbeiten. Die Traumatisierung zeigt sich in der Physiologie, in Spannungen und körperlichen Impulsen und kann damit ohne Wiederholung der Geschehnisse, nur mit Wahrnehmungen oder abstrakten Bildern behandelt werden. So kann auch nach sexualisierter Gewalt und anderen kaum sagbaren Gewalterlebnissen Erleichterung und Normalisierung erreicht werden, ohne dass über das Ereignis gesprochen wird.
FA: Die Bilder Millionen Geflüchteter waren im Frühjahr stark dominiert von Wartenden mit ihren Katzen und Hunden. Welche Rolle spielen aus Ihrer Erfahrung Haustiere für Menschen auf der Flucht?
IH: Viele Menschen haben versucht, ihre Haustiere mit auf die Flucht zu nehmen. Nicht immer hat das funktioniert. In den meisten Unterkünften für Geflüchtete sind Haustiere verboten. Im Ergebnis waren in der westlichen Ukraine die Tierheime schnell überlastet. Ich treffe aber auch immer wieder Menschen, die es geschafft haben, sich mit ihren Tieren in Sicherheit zu bringen und mit diesen zusammen zu leben. Psychologisch wirkt sich die Anwesenheit von Tieren in der Regel stabilisierend aus. Traumatisierte fühlen sich oft abgetrennt von anderen Menschen, haben Schwierigkeiten, Nähe auszuhalten oder in Kontakt zu treten – können aber die Beziehung zu ihrem Tier aufrechterhalten. Das Streicheln kann Menschen, die aufgrund von kaum aushaltbaren Situationen von ihren Gefühlen abgeschnitten sind, dazu bringen, Berührung wahrzunehmen und damit wieder ein Stück weit in ihren Körper zu kommen. Tiere sind natürlich auch ein Stück des alten Alltags und die regelmäßige Fürsorge für sie hält einen Rhythmus im Leben aufrecht. Hunde erfordern Spaziergänge – das Rausgehen, die Bewegung ist auch für die Besitzer wohltuend und der physischen genauso wie der psychischen Gesundheit zuträglich.
FA: Die erste Welle der Solidarität ist in Deutschland bereits abgeklungen. Was sind aus Ihrer Sicht wichtige Aspekte der Hilfe für die Ukraine?
IH: Nach Schätzungen der UN sind knapp 18 Millionen Menschen in der Ukraine auf Hilfe angewiesen – das ist fast jede*r zweite, wenn man bedenkt, dass sieben Millionen ins Ausland geflohen sind. Um diese Hilfe auch über eine längere Zeit zu mobilisieren, ist es wichtig, dass in Deutschland weiter über die Ukraine gesprochen wird – egal ob am Küchentisch, im Sportstudio oder am Arbeitsplatz. Ein großes Potenzial haben alle gleichberechtigten, langfristigen Partnerschaften auf Augenhöhe – wie Freundschaften zwischen Freiwilligen Feuerwehren oder Vereinen, oder Städtepartnerschaften. Jede Form direkter Kooperation schafft Nachhaltigkeit und Verbindung. Auch Spenden sind weiterhin dringend nötig. Besonders regelmäßig überwiesene Beträge, auch wenn sie klein sind, stabilisieren unsere Arbeit in der Ukraine.
FA: Sie arbeiten inzwischen hauptamtlich in der Ukraine, um Menschen psychisch zu unterstützen. Zuvor hatten Sie an den Universitäten Hamburg und Uppsala geforscht. Wann haben Sie entschieden, sich den Menschen in der Ukraine zuzuwenden?
IH: Ich habe mich während meiner wissenschaftlichen Arbeit mit den Themen Gewalterfahrung und Trauma befasst. Ein guter Teil meiner Doktorarbeit handelt davon, was entsteht, wenn schwer traumatisierte Menschen ein Museum aufbauen, wie das in der polnischen Stadt Oswiecim mit dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau in den 1940er und 1950er Jahren geschehen ist. Im Rahmen von Oral-History-Projekten habe ich Interviews mit Überlebenden nationalsozialistischer Verfolgung geführt. Bei der Suche nach einem Verständnis von Trauma und dessen Auswirkungen auf Individuum und Kollektiv habe ich festgestellt, dass es in den Geistes- und Sozialwissenschaften da eine große Lücke gibt.
Um diese zu schließen, habe ich mich in der Praxis umgeschaut und eine traumatherapeutische Ausbildung gemacht. Parallel zu meiner wissenschaftlichen Tätigkeit habe ich angefangen, mit Menschen in der Ukraine praktisch zu arbeiten. 2020 begann ich, mich ganz der Praxis zu widmen. Ein Ziel ist es dabei, das Verständnis von Trauma in der Krisenarbeit und im Peacebuilding zu verankern. Gleichzeitig vermisse ich das wissenschaftliche Schreiben. Ich höre jeden Tag Geschichten und sehe Dinge, die in meine zukünftige Forschung einfließen werden. Momentan bin ich ganz von der Krisenhilfe absorbiert, hoffe aber, dass es bald wieder Zeit und Raum gibt, um das, was ich jetzt miterlebe, höre und sehe, auch wissenschaftlich zu verarbeiten. Es gibt in den Themenbereichen Umgang mit kollektiver Gewalterfahrung und Zivilgesellschaft im Krieg noch viel Raum für Forschung.