Es sieht aus wie ein biopolitischer Traum: Von Ärzten beratene Regierungen zwingen ganze Bevölkerungen unter eine Seuchendiktatur, entledigen sich unter dem Titel der „Gesundheit“, ja des „Überlebens“ aller demokratischen Hindernisse und können endlich die Bevölkerung so regieren, wie sie es im Grunde, mehr oder weniger offen, in der Moderne immer schon getan haben: als reine „Biomasse“, als zu verwertendes „nacktes Leben“. Es ist kein Zufall, dass solche Vorstellungen jetzt zunehmend auftauchen, bei Großtheoretikern wie Giorgio Agamben (der den Begriff des „nackten Lebens“ in die zeitgenössische politische Theorie eingeführt hat), aber auch da und dort im Netz, bei jenen kritischen Kritikern, die mit „Foucault“ im Gepäck nun zu durchschauen scheinen, was gerade geschieht. Die Begriffe „Biomacht“ und „Biopolitik“ sind zu verlockend, sie wirken wie das Stichwort der Stunde, in dessen grellem Licht sich die Wahrheit des Regierens in Zeiten der Pandemie enthüllt.
Das Problem ist nur: Das zu behaupten, ist angesichts des gegenwärtig so eklatanten Versagens zum Beispiel der amerikanischen Regierung in Zeiten von Covid-19 ausgesprochen unplausibel, und es hat auch mit Foucault und seinem Denken nur sehr bedingt zu tun, wenn überhaupt. Michel Foucault hat zwar den Begriff „Biopolitik“ geprägt – aber er hat ihn nicht nur bald wieder fallen gelassen, sondern mit Blick auf drei Infektionskrankheiten vor allem auch drei Denkmodelle entwickelt, mit denen das Regieren angesichts einer „Seuche“ besser verstanden werden kann als mit der semantischen Keule „Biopolitik“.
Biopolitik
Dennoch ist es notwendig, zuerst einen Blick auf diesen Begriff zu werfen. Foucault hatte das Konzept „Biopolitik“ 1976 in seinem Buch Der Wille zum Wissen (dem ersten Band der „Geschichte der Sexualität“) eingeführt, um das Auftauchen neuer politischer Ziele und Strategien in Europa in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu kennzeichnen: „Es war“, so Foucault, „nichts geringeres als der Eintritt des Lebens in die Geschichte – der Eintritt der Phänomene, die dem Leben der menschlichen Gattung eigen sind, in die Ordnung des Wissens und der Macht, in das Feld der politischen Techniken.“ Moderne Gesellschaften hätten sich die technischen und politischen Möglichkeiten geschaffen, über das Leben der Gattung als solche zu verfügen; daher „liegt“, so Foucault, „die ‚biologische Modernitätsschwelle’ einer Gesellschaft dort, wo es in ihren politischen Strategien um die Existenz der Gattung selber geht“.
Gemeint war damit zuerst die schlichte Vermehrung der Bevölkerung eines Staates durch eine bestimmte Geburtenpolitik, wie etwa die strenge Bestrafung von Abtreibung und Kindstötungen, durch Maßnahmen gegen die Kindersterblichkeit und ähnliches, dann aber auch generell staatliche Gesundheitspolitik – und schließlich das ganze Feld der eugenischen oder „rassenhygienischen“ Politik zur „Steigerung“ der „Qualität“ der Bevölkerung in vielen Ländern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie man aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts weiß, war der Rassismus die damit verbundene Kehrseite: das heißt die Unterscheidung, so Foucault, „was leben soll und was sterben kann“.
Man muss nur wenig von der Geschichte wissen, um zu verstehen, welche Verheerungen dieser Rassismus als die Kehrseite der biopolitischen „Steigerung des Lebens“ nach sich zog. Und zweifellos: Jede moderne Macht, jedes Regieren seit dem 18. Jahrhundert hat sich mehr oder weniger ernsthaft um das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung zu kümmern. Allein, daraus abzuleiten, dass sich das Regieren in der Moderne und in unserer Postmoderne vollständig auf diese Sorge zurückführen ließe, dass das Regieren rundweg als Biopolitik zu verstehen sei, wäre gleichwohl ein Missverständnis. Es gibt genug Regierungen, denen die Gesundheit und das Leben der Vielen ziemlich egal sind – nicht zuletzt, weil deren Körper für die Schaffung von Wachstum und Wohlstand immer weniger gebraucht werden.
Die Spur der Infektion
Auch wenn man mithin den analytischen Wert des Biopolitik-Konzeptes nicht geringschätzen soll, ist doch festzuhalten, dass Foucault es schon 1979 faktisch wieder aufgegeben hat. Warum? Um das zu verstehen, lohnt es sich, nochmals neu anzusetzen und der Spur der Infektion zu folgen, die Foucaults Werk durchzieht. Ich konzentriere mich hier darauf, dass Foucault immer wieder über drei Infektionskrankheiten sprach und den politischen Umgang mit ihnen als Modell für drei verschiedene Formen des Regierens bezeichnete: Lepra, Pest und Pocken.
Foucaults erstes großes Buch, Wahnsinn und Gesellschaft, 1961 publiziert, beginnt mit dem Satz: „Am Ende des Mittelalters verschwindet die Lepra aus dem Abendland.“ Sie verschwand zwar nicht vollständig, aber die großen „Siechenhäuser“, die Leprosorien, wurden doch zunehmend geleert, um Platz zu schaffen für – so Foucaults allerdings etwas umstrittene These – die Aussperrung von Armen, Vagabunden, Kranken und Verrückten aus der Gesellschaft. Die Lepra und die Leprosorien, die in der frühen Neuzeit zu Armenhäusern und zu Asylen für die Wahnsinnigen wurden, waren für Foucault damit ein erstes Modell der Macht: Die Macht trennt die Gesunden von den Kranken, schließt die Devianten und Verrückten aus der Gesellschaft aus, möglichst vor die Tore der Stadt, um sich dann im Wesentlichen nicht mehr um sie zu kümmern.
Das Pest-Modell
Dieses „Lepra-Modell“ wurde aber, so Foucault, ebenfalls in der Frühen Neuzeit von einem neuen Modell der Macht abgelöst, das sich um die Angst vor der Pest bildete. Foucault entwickelte dieses Modell in seinem Buch Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses von 1975. Er hatte dort argumentiert, dass sich in den Gesellschaften seit dem 17. Jahrhundert ein neues Machtregime auszubilden begann: die Disziplinarmacht. Deviante wurden nicht einfach länger ausgestoßen und weggesperrt, sondern „alle“ – Kinder, Soldaten, Arbeiter, Gefangene, Arme, etc. – wurden einer rigorosen Disziplinierung unterworfen, die nicht zuletzt der Einübung einer strengen Arbeitsdisziplin und damit dem „Produktivmachen“ ihrer Körper diente.
Diese düstere Vision einer total verwalteten Gesellschaft modellierte Foucault nun wiederum mit dem behördlichen Umgang mit einer Infektionskrankheit: „Wenn es wahr ist, dass die Ausschließungsrituale, mit denen man auf die Lepra antwortete, bis zu einem gewissen Grad das Modell für die große Einsperrung im 17. Jahrhundert abgegeben haben, so hat die Pest das Modell der Disziplinierungen herbeigerufen.“ Die frühneuzeitlichen Pest-Reglemente, die er zitiert, entwerfen ein System lückenloser Kontrolle aller Grenzen und Übergänge in der Stadt und fordern die strenge Einsperrung der Bürger in ihre Häuser: „Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung.“
Die Behörden des 17. Jahrhunderts, so Foucault, träumten den „politischen Traum“ der Disziplin, das heißt die Vision einer „in die Tiefe gehenden Organisation der Überwachung und der Kontrollen, [der] Intensivierung und Verzweigung der Macht“. Foucault spricht nicht von Städten, in denen wirklich die Pest ausgebrochen war, sondern von der „Utopie der vollkommen regierten Stadt/Gesellschaft“, für die „die Pest (jedenfalls die zu erwartende) die Probe auf die ideale Ausübung der Disziplinierungsmacht“ ist. Die Regierenden „träumten vom Pestzustand, um die perfekten Disziplinen funktionieren zu lassen“, so wie die Juristen und Staatstheoretiker vom Naturzustand träumten, um die idealen Gesetze zu denken.
Das Pocken-Modell
Der Weg zum dritten Modell ist verschlungener als jener vom Lepra- zum Pest-Modell. Foucault waren in der Zwischenzeit Zweifel an seiner doch sehr dunkeln Machttheorie gekommen. Es erschien ihm zunehmend unplausibel, moderne Gesellschaften nach dem Muster einer großen Disziplinarmaschine zu denken, wie er das in Überwachen und Strafen vorgeschlagen hatte – gerade so, als wären moderne Gesellschaften vollständig überwachte und kontrollierte Pest-Städte…
In seiner Analyse moderner Regierungsrationalität erschien nun die – primär ökonomische – Freiheit der Individuen in neuer Weise als etwas Irreduzibles, „etwas absolut Grundlegendes“: Die moderne, konkret die liberale Gouvernementalität sei eine Form des Regierens, „die nur durch die Freiheit und auf die Freiheit eines jeden sich stützend sich vollziehen kann“. Um diesen historischen Wandel klar zu machen, entwickelte Foucault ein neues Modell: „die Pocken oder die Impfpraktiken“.
Das Problem stelle sich hier ganz anders; es gehe nicht mehr um Disziplinierung wie noch zu Zeiten der Pest: „[D]as grundlegende Problem ist vielmehr zu wissen, wie viele Leute von Pocken befallen sind, in welchem Alter, mit welchen Folgen, welcher Sterblichkeit, welchen Schädigungen und Nachwirkungen, welches Risiko man eingeht, wenn man sich impfen lässt, wie hoch für ein Individuum die Wahrscheinlichkeit ist, zu sterben oder trotz Impfung an Pocken zu erkranken, welches die statistischen Auswirkungen bei der Bevölkerung im allgemeinen sind […].“ Dem entsprechend sei es angesichts der Pocken um „das Problem der Epidemien und der medizinischen Feldzüge [gegangen], mit denen man epidemische oder endemische Phänomene einzudämmen versucht“.
Die Behörden des 18. Jahrhunderts reagierten auf die Pocken statistisch beobachtend, indem sie das Vorkommen von Krankheitsfällen maßen, und empirisch, indem sie mit der Impfung die Bevölkerung vor Ansteckung zu schützen versuchten. Ein auf diesen Problemwahrnehmungen basierendes Risikomanagement durfte nun aber – und das war, so Foucault, der springende Punkt – im Rahmen der liberalen Gouvernementalität nicht so weit gehen, dass es in die Disziplinierung der Individuen umkippt, weil dies deren systemnotwendige Freiheit untergraben würde. Daher hätte „zu viel regieren bedeutet, gar nicht mehr zu regieren“. Ein zu starker Staat zerstört seine eigenen Ziele – er muss die relative „Undurchdringlichkeit“ der Gesellschaft respektieren, und zwar auch um den Preis eines gewissen Infektionsrisikos.
Mit anderen Worten: Das Pockenmodell der Macht basiert im Wesentlichen darauf, dass die Macht den Traum aufgibt, die Pathogene, die Eindringlinge, die Krankheitskeime vollständig auszumerzen, die Gesellschaft wie in Zeiten der Pest „in die Tiefe“ hinein zu überwachen und die Bewegungen aller Individuen zu disziplinieren. Die Macht koexistiert vielmehr mit dem pathogenen Eindringling, weiß um sein Vorkommen, sammelt Daten, erstellt Statistiken, lanciert „medizinische Feldzüge“, die durchaus den Charakter der Normierung und Disziplinierung der Individuen annehmen können – aber die Disziplin, gar die vollständige, kann in der Moderne kein vernünftiges Ziel der liberalen Macht mehr sein. Nur dort, wo sie dies dennoch anstrebt, wo die Macht vom Pocken-Modell zum Pest-Modell zurückkehren möchte, wird sie autoritär, ja letztlich totalitär.
Einige Schlussfolgerungen angesichts von Corona
Es ist klar: Foucault sprach nicht über reale Pandemien, sondern verwendete Infektionskrankheiten als Denkmodelle, um Formen der Macht nach idealtypischen Mustern zu ordnen. Wir sind in einer andren Lage: Wir leben inmitten einer Pandemie und sind unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Macht und des Regierens unterworfen bzw. beobachten sie über die Medien. Was also lehren die drei Modelle, die Foucault entwickelte?
Erstens: Es gibt Übergänge zwischen den verschiedenen Formen. Die Absperrung von ganz Wuhan folgt rigoros dem Pest-Modell, und jede Ausgangssperre letztlich auch. Die Modelle machen klar: Ausgangssperren erscheinen dann notwendig, wenn man jenes statistische Wissen nicht gewinnen kann, welches das liberale Pocken-Modell erst ermöglicht.

Quelle: Financial Times, 24.3.2020
Nur wenn wie etwa in Südkorea oder in Singapur dank systematischer Tests massenhaft Daten über Nicht-Infizierte und Infizierte vorliegen, erlauben diese Daten, sich auf die Isolierung der Infizierten zu beschränken und für die übrige Bevölkerung bloße Vorsicht zu empfehlen, ohne aber einen Lockdown verordnen zu müssen. Man kann das ganz ohne Ironie und Häme sagen: Dass in Südkorea oder auch in Singapur das Leben in der Öffentlichkeit weitergeht und die Wirtschaft weiter funktioniert, ist genau das liberale Versprechen des Pocken-Modells.
Zweitens: Das Pest-Modell bleibt eine Drohung, ja eine Gefahr. Dazu gehört etwa, dass in Marokko die Corona-bedingte Ausgangssperre mit Panzern in den Straßen und harschen militärischen Mitteln durchgesetzt wird; dass in Israel prominente Stimmen davon sprechen, dass Benjamin Netanyahu unter dem Vorwand der Covid-19-Bekämpfung einen „Coup“ durchführe; dass Victor Orbán in Ungarn den Übergang zur Regierung per Dekret plant – oder dass in den USA Justizminister Barr eine Anordnung anstrebt, wonach Gefangene auch ohne Gerichtsverfahren auf unbestimmte Zeit festgehalten werden können. Dazu gehört aber auch, dass zum Beispiel die Speicherung und Auswertung von Bewegungsdaten aller, die ein Handy in der Tasche tragen, nach der Krise wohl nicht unbedingt so leicht wieder in den Bereich des bloß technisch Denkbaren zurückgestuft wird. Das liberale Pocken-Modell erfordert es grundsätzlich und immer, die Macht des Staates argwöhnisch im Auge zu behalten.
Drittens: Das Pocken-Modell der Macht beschreibt, mehr oder weniger, aber doch ganz zutreffend die Form des Regierens in Zeiten der Pandemie, der trotz aller Unterschiede und trotz vieler nationaler Egoismen die europäischen Regierungen folgen. Die Strategie #flattenthecurve bedeutet, mit dem Erreger zwar zu rechnen, zu wissen, dass er nicht auszurotten ist, seine Verteilung über die Zeit aber so zu „strecken“, dass das Gesundheitssystem mit ihm umgehen kann. Und die Strategie, Versammlungen von mehreren Menschen zu verbieten, bedeutet keine Disziplinierung – auf welches Ziel hin denn auch? –, sondern ist mehr so etwas wie ein zwar enger, aber immerhin gut begründeter und nachvollziehbarer staatlicher Rahmen für individuelles Verhalten. Überhaupt gehört die Aufforderung, die Regeln etwa des „social distancing“ einzuhalten, zweifellos in den Bereich der liberalen Regierungstechniken, die grundsätzlich auf der Freiheit der Individuen beruhen und von dieser Freiheit auszugehen haben. Für sich selbst zu sorgen, sich zu schützen, aber auch, wie gegenwärtig vielfach zu beobachten, sich nachbarschaftlich oder sonst solidarisch zu organisieren, sind Selbsttechniken, die die liberale Kontur des Pocken-Modells mit dem konkreten Stoff gesellschaftlicher Selbstorganisation füllen.
Viertens: … doch im Hintergrund lauert das Lepra-Modell. Es beschreibt jene da und dort auftauchende Idee, man könne doch die Alten jetzt einfach sterben lassen, „to save the economy“ – oder es wird faktische Realtität, wenn Alten- und Pflegeheime aufgegeben werden und die Insassinnen und Insassen darin eingeschlossen alleine sterben, wie das gegenwärtig zum Beispiel aus Spanien berichtet wird.
Nachtrag zu den Selbsttechniken
Foucault hat in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität, in denen er das Pocken-Modell entwickelte und ausführlich über den Neoliberalismus sprach, den Begriff der Selbsttechniken nicht verwendet. Auch wenn es einen inneren Zusammenhang zwischen seiner durchaus positiven Bewertung des (Neo-)Liberalismus und seinem erst in den 1980er Jahren am Beispiel der Antike untersuchten Konzept der Selbsttechniken gibt, ist es keineswegs so, dass Foucault die Selbsttechnik als eine bloß in die Hülle der Liberalität gehüllte Form der Macht sah, wie das heute so oft behauptet wird (er hat genau diese Interpretation in seinen Vorlesungen auch explizit zurückgewiesen). Das Gegenteil war der Fall – das „Verhältnis seiner zu sich selbst“ und damit die Möglichkeit, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, die eben nicht von der Macht vorgegeben ist, war für ihn die Grundlage für die Freiheit des Subjekts. Daher sei das „Verhältnis zu sich selbst“, wie Foucault 1982 in einer Vorlesung sagte, „der letzte Ankerpunkt des Widerstandes“. Er meinte: des Widerstandes gegen die Macht. Er würde heute vielleicht noch hinzufügen: und des Widerstandes gegen das Virus. Oder einfach: take care.