
In meinem ersten Impfbuch, ein dünnes Heft im Oktavformat, rehbrauner, genarbter Kartonumschlag, im rechten oberen Eck des Umschlags ist ein großes W eingedruckt, findet sich auf der ersten Seite ein kurzer Text, in dem der Sinn von Impfungen erklärt und die Funktion des Impfbuches erläutert wird. Einigermaßen feierlich heißt es gleich im ersten Satz, dass die „medizinische Wissenschaft es heute ermöglicht, durch Schutzimpfungen eine Reihe von Krankheiten zu verhüten“. Die erste dokumentierte Impfung ist die Pockenschutz-Impfung; ich war nicht einmal ein Jahr alt, als ich sie erhielt. Die Impfung gegen Pocken war gesetzlich verpflichtend; das entsprechende Impfgesetz fast ein Jahrhundert vor meiner Geburt, am 8. April 1874, in Kraft getreten. Bismarck hatte es gegen Widerstände durchgesetzt. Preußen war damit international Vorreiter. Meine Eltern haben keine Sekunde gezögert, dieser Pflicht nachzukommen und ihre Kinder der durchaus schmerzhaften Prozedur, bei der die Haut mit einer Bifurkationsnadel eingeritzt und so der Impfstoff injiziert wird, unterziehen zu lassen. Impfen gehörte schlicht dazu. Stolz zeigten meine Spielkamerad*innen und ich uns später, als wir größer waren, wechselseitig unsere kreisrunden Impfnarben am Oberarm. Es fühlte sich auf unbestimmte Weise erwachsen an, geimpft zu sein. 1976 wurde die Pockenimpfpflicht in der BRD aufgehoben, die DDR folgte einige Jahre später, 1982. Die Pocken gelten seitdem als besiegt.
Die nächsten Einträge sind die in dichter zeitlicher Abfolge verabreichten Schluckimpfungen gegen die sogenannte Kinderlähmung, Poliomyelitis. Sie waren gesetzlich nicht verpflichtend, aber es stand außer Frage, dass alle Kinder daran teilnahmen. In langen Schlangen fanden wir uns im dörflichen Schulgebäude bei den regelmäßig vom Gesundheitsamt durchgeführten Impfterminen ein. Wie bei der Narbe, die die Pockenimpfung in unserem Arm hinterlassen hatte, erfasste uns auch hier ein vages Gefühl von Wichtigkeit, nachdem wir unser Stück Würfelzucker geschluckt hatten. Wir hatten etwas beigetragen, wozu genau wussten wir zwar nicht, verstanden aber hatten wir, dass es wichtig war, sich impfen zu lassen. Und das nicht nur, weil es uns individuell schützte, sondern weil die Impfung auf eine für uns undurchsichtige Weise alle schützen würde. „Kinderlähmung ist grausam, Schluckimpfung ist süß.“ Auch die Schluckimpfung wurde politisch kontrovers diskutiert, doch keine in den 1960er und 70er Jahren in Westdeutschland aufgewachsene Person, die diese Losung nicht kennt.
Ein halbes Jahrhundert später hat ein eher prosaisch daherkommender digitaler Code, abrufbar mit meinem Smartphone, den poesiealbumhaften Impfpass meiner Kindertage ersetzt. Seit gut einem Jahr haben wir das Privileg, uns kostenlos gegen das inzwischen mehrfach mutierte Sars-CoV-2-Virus impfen zu lassen. Und ja: Kostenlose Impfungen sind ein exklusives Privileg, erst recht angesichts der Tatsache, dass weltweit noch immer viele Menschen nicht geimpft sind, da der Zugang zu Impfstoffen zwischen reichen und armen Ländern extrem ungleich verteilt ist. Wir haben damit nicht nur individuell die Chance, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer potentiell lebensbedrohlichen Erkrankung mit Covid-19 zu entgehen, wir können, wie damals bei der Schluckimpfung, einmal mehr auch etwas beitragen. Zuallererst natürlich zum Ende der Pandemie, wofür es nach allem uns derzeit zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Wissen eben eine fast vollständige, impfbasierte Grundimmunität der Bevölkerung braucht. Vielleicht aber ebenso sehr zu dem, was wir als Kinder bei der Schluckimpfung nur undeutlich begriffen hatten: das Glück, beizutragen zu etwas, das größer ist als wir selbst, zu „etwas, das nicht ‚Ich‘“ ist, wie die polnische Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk in ihrer Stockholmer Preisrede im Dezember 2019, wenige Wochen vor Ausbruch der Pandemie, formulierte.
Was uns gemeinsam ist
Die politische Theorie spricht hier vom Allgemeinen, von dem, was uns allen gemeinsam ist oder uns doch allen gemeinsam sein sollte, etwa die Idee der Gleichheit aller Menschen. Eine Idee, aus der für mich zwingend resultiert, dass das, was uns gemeinsam ist, auch die Verantwortung einschließt, Gemeinwesen zu schaffen, die, wie die feministische Theoretikerin Silvia Federici argumentiert, nicht auf dem Leid anderer gründen dürfen und folglich so beschaffen sein müssen, dass sie allen erlauben, ein von Zwang und Gewalt befreites Leben mit anderen führen zu können. Doch, statt diese Chance zu ergreifen, pocht ein nicht gerade kleiner Teil dieser Bevölkerung beharrlich und ausschließlich auf einem solipsistischen „Ich, ich, ich“ und der absoluten Unbedingtheit der Freiheit und des Rechts auf körperliche Selbstbestimmung dieses „Ich, ich, ich“. Abend für Abend flimmern die entsprechenden Berichte über die sogenannten Anti-Impf-Spaziergänge und die Demonstrationen und Kundgebungen derjenigen, die die Existenz der Pandemie und des potenziell tödlichen Sars-CoV-2 leugnen, über meinen TV-Bildschirm. Aggressiv und mit wachsender Gewaltbereitschaft streiten die Demonstrierenden dafür, sich nicht impfen lassen zu müssen – wozu sie bislang nicht verpflichtet sind. Sie bemühen bisweilen deutlich antisemitisch grundierte Verschwörungsideologien, verwischen den Unterschied zwischen Wissenschaft und Mythos, indem sie buchstäblich Schritt für Schritt die auf begründetem Zweifel und methodisch geleiteter Nachvollziehbarkeit basierenden Wahrheitsregeln verschieben und prangern die vermeintlich konspirativen Maßnahmen einer vorgeblich autoritären oder gar diktatorischen Regierung an, gegen die sie meinen, sich mit allem Fug und Recht zur Wehr setzen zu müssen. Sie mögen zahlenmäßig in der Minderheit sein und unter ihnen auch viele, die noch immer erreichbar sind für Dialog und Aufklärung, doch die Gefahr, die von ihnen ausgeht, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. So erkennt der Philosoph Jürgen Habermas aufgrund des manifesten „rechtsextremen Kerns“ in diesen Protesten bereits Anzeichen für das „wachsende Potential eines ganz neuen, in libertären Formen auftretenden Extremismus der Mitte“. Die ohnehin längst von unterschiedlichen Kräften betriebene Zersetzung liberaler Demokratien und der damit einhergehende Vertrauensverlust der Bürger*innen in ihre politischen Repräsentant*innen und die politischen Institutionen droht so, weiter befördert zu werden.
Finstere Zeiten
Hannah Arendt hat Zeiten, in denen sich solches ereignet, „finstere Zeiten“ genannt. In der Geschichte seien diese nicht eben selten, führte sie 1959 in ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises der Stadt Hamburg aus. Es seien Zeiten, „in denen der Raum des Öffentlichen sich verdunkelt und der Bestand der Welt so fragwürdig wird, daß die Menschen von der Politik nicht mehr verlangen, als daß sie auf ihre Lebensinteressen und Privatfreiheit die gehörige Rücksicht nehme“. Für Arendt ist solche Finsternis die Dystopie. Sinnbild einer Welt, in der die Menschen verlassen sind und einander verlassen haben, sie den Erscheinungsraum zwischen sich zerstört haben und einander nicht mehr antworten. Wo sie näher an jene heranrücken, die sie als vertraut empfinden, und sie von den anderen nichts wissen wollen. Umschreibung für eine Welt ohne Gespräch, bevölkert von gleichermaßen sorglosen wie Sorge verweigernden Einzelnen, deren Verständnis von dem, was uns gemeinsam ist, geprägt ist von Desinteresse und solipsistischer Selbstbespiegelung, von der Verweigerung von Dialog und alarmistischer Kommunikation, von Ignoranz und Respektlosigkeit und nicht zuletzt von der Leugnung der uns allen gemeinsamen Angewiesenheit aufeinander.
Als „rohe Bürgerlichkeit“ hat der Soziologe Wilhelm Heitmeyer ein solches In-der-Welt-sein bezeichnet. Eine Bürgerlichkeit passgenau eingefugt in eine in Zonen der Gedeihlichkeit und Prosperität und solche der Dürre und Knappheit aufgespaltene Welt. Eine Welt zudem, die unterscheidet zwischen jenen, die Anspruch auf the pursuit of happiness haben, wie es in der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung heißt, und deren Rechte und Unversehrtheit geschützt werden, und jenen, deren Recht auf Gedeihen und Zugehörigkeit ausgesetzt wird und denen folglich „beschieden ist, zu vergehen und zu verschwinden“, wie Michel Foucault einst das „Leben der infamen Menschen“ umschrieb.
Rohe Bürgerlichkeit ist der Antipode zu demokratischer Empathie, der manifeste Ausdruck roher gesellschaftlicher Verhältnisse und Ausdruck der Bereitschaft, das soziale Band mit den anderen zu kappen. Nicht anders können wir den Satz von Alice Weidel, Fraktionsvorsitzende der AfD im Deutschen Bundestag, während der Orientierungsdebatte des Parlaments zur Frage einer allgemeinen Impfpflicht, wir müssten „mit dem Virus leben“, verstehen. Auch die von der AfD betriebene Geißelung der Impfpflicht als „Corona-Faschismus“ atmet den Geist der rohen Bürgerlichkeit. Was es seit Beginn der Pandemie zu lernen gilt, nämlich von der Verwundbarkeit der anderen und nicht von der eigenen Immunität ausgehend zu handeln – eine Verwundbarkeit, die zugleich meine eigene ist –, das ‚Ich, ich, ich‘ also nicht absolutistisch in den Mittelpunkt zu rücken, wird hier in sein Gegenteil verkehrt. Denn der Gedanke, dass wir mit dem Virus in Gemeinschaft leben, zielte ja gerade nicht darauf, dass es gewissermaßen Schicksal ist, wer überlebt und wer nicht, weil die Stärke des eigenen Immunsystems es richtet, sondern darauf, die unhintergehbaren Verflechtungen zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur ins Bewusstsein zu heben, wir also aufgrund dieser Verflechtungen Abstand halten, Masken tragen, uns regelmäßig die Hände waschen – und uns impfen lassen.
Politik der Sorge
Im Hinblick auf eine möglicherweise gesetzlich geregelte Impfpflicht würde eine so verstandene Politik der Sorge um sich, um andere und um die Welt, die von der Versehrtheit der anderen und nicht vom Vorrang der eigenen Immunität her denkt, nicht das souverän gedachte Individuum, seine grundgesetzlich geschützte Unversehrtheit und seine Autonomie in den Vordergrund der Debatte rücken, sondern den Umstand, dass wir alle abhängig sind von unterstützenden Infrastrukturen, von ökonomisch, kulturell, sozial und politisch gestifteten Netzwerken und Bindungen und von Anerkennungsverhältnissen, die uns im Leben halten. Es ist eine Abhängigkeit, die wir nicht übergehen können, ein nicht verhandelbarer Umstand unseres Seins als körperliche Wesen; Grund und Gegenstand auch unserer Würde als Person, die an unsere Existenz als Körper geknüpft ist. Auch jenen, die sich der Impfung verweigern, wird medizinische und pflegerische Sorge nicht verweigert, wenn das Virus sie erwischt. Sie können und dürfen zu Recht auf die gesellschaftlich organisierte Solidarität der anderen vertrauen.
Das zentrale Argument für die Impfung ist daher nicht meine eigene Gesundheit, sondern das Wohlergehen der anderen, denn Covid-19 betrifft mich nie allein, es ist kein individuelles Vorsorgeproblem. Am Wohlergehen der anderen muss sich freilich auch die Impfverweigerung messen lassen. Denn das Beharren auf dem Recht der eigenen körperlichen Unversehrtheit findet seine Grenze dort, wo diese Verweigerung die Gesundheit und das Leben der anderen bedroht. So sehr wir es mithin alle in der Hand haben, die Pandemie zu beenden, kann dies dennoch nicht dem Gutdünken der Einzelnen überlassen bleiben. Ohne den solidarischen Beistand der Bürger*innen wird es dem Staat nicht gelingen, die Pandemie zu beenden. Was wir als Kinder bei der Schluckimpfung vage begriffen hatten, dass es hier um etwas ging, das größer ist als wir selbst, dazu gilt es auch heute beizutragen – und nicht, weil das Gesetz es vielleicht von uns verlangen wird, sondern weil wir aus freien Stücken alles tun, „um unsere Welt so zu erhalten, fortdauern zu lassen und wiederherzustellen, dass wir so gut wie möglich in ihr leben können“, wie die feministische Care-Theoretikerin Joan Tronto erläutert.
So umstellt, herausgefordert und kompromittiert Sorge als gesellschaftliche Praxis und Beziehung auch ist, eingebettet in widersprüchlich organisierte, patriarchal-kapitalistische und kolonial-rassistische globale gesellschaftliche Verhältnisse, eingeschnürt in atemlos machende, verdinglichte und verdinglichende Herrschaftszustände, so miserabel die Bedingungen für Sorge und Pflege auch sind – und sie sind es –, und so sehr Sorge, wie uns die Pandemie gelehrt hat, Gesellschaft auch spalten und auseinander treiben und zum Banner von Welt und Leben vernichtender Politik werden kann, an der Neuerfindung von Sorge als solidarischer, weltumspannender, reparativer Praxis führt kein Weg vorbei. Bring into being that which is needed. Bring into being that which is absent. Because more than ever we’re going to have to take care of each other, sagte die Schriftstellerin, lesbische Aktivistin und Gründerin des Lesbian Herstory Archive in New York City, Joan Nestle, im Angesicht eines im Herbst 2020 vernichtend wütenden Virus. Demokratie, mit anderen Worten, ist nicht umstandslos eine caring democracy, aber ohne Sorge ist Demokratie nichts.