In den nächsten Tagen kommt der am DOK.Fest in München erstmals gezeigte Dokumentarfilm „Der nackte König. 18 Fragmente über Revolution“ ins Kino. Der Historiker, Journalist, und Dokumentarfilmer Andreas Hoessli verbindet darin zwei sehr weit voneinander entfernte, dabei aber fast gleichzeitig stattfindende Ereignisse: die Revolutionen im Iran und in Polen 1979 und 1980. Sie waren sich ungleich und dennoch ähnlich: Die Revolutionen im Iran und in Polen seien, wie Hoessli in einem Gespräch mit dem Theaterregisseur Eberhard Koehler sagte, „vermutlich die massenhaftesten Revolutionen der Menschheitsgeschichte“ gewesen. Schätzungen zufolge hätten sich im Iran 20% der Bevölkerung direkt beteiligt. Tatsächlich waren phasenweise Millionen Menschen auf der Straße, um gegen die Herrschaft des Schahs zu protestieren; allein zwei Millionen haben am 1. Februar 1979 den aus dem Exil zurückkehrenden Ayatollah Khomeini am Flughafen in Teheran begrüßt. In Polen wurde die unabhängige Gewerkschaft Solidarność ebenfalls sehr schnell zu einer Massenbewegung; Anfang der 1980er Jahre zählte sie 10 Millionen Mitglieder – ein Drittel der damaligen polnischen Bevölkerung –, fünf Millionen davon waren Frauen. In beiden Revolutionen spielten auch – bekanntlich – die Religion und religiöse Führer eine zentrale Rolle: Der Besuch des polnischen Papstes Johannes Paul II 1979 in seinem Heimatland zog Millionen Menschen an, darunter unzählige Gläubige, die es im kommunistischen Polen eigentlich gar nicht geben sollte. Und doch waren die beiden Ereignisse grundverschieden: in Polen scheiterte die Revolution, als im Dezember 1981 die Armee das Kriegsrecht über das Land verhängte, während sie im Iran siegte und ein Mullah-Regime an die Macht brachte, das schnell mit seinen Gegnern abrechnete und Andersdenkende gnadenlos verfolgte.
Distanz
Das alles ist bekannt – und es steht nicht im Zentrum von „Der nackte König“. Andreas Hoessli entzieht sich den üblichen Geschichten über diese beiden Revolutionen, die beide Ereignisse immer auch „deuten“, „beurteilen“ und „einordnen“. Der Filmemacher ist in das heutige Polen (dessen Sprache er spricht) und in den Iran gereist, um Menschen aufzusuchen, die mit ihm über die Revolution sprachen – aus ihren ganz subjektiven Perspektiven. Herausgekommen ist dabei eine Collage aus Fragmenten, die als Zeitreise und Spurensuche zugleich angelegt ist, manchmal ein Selbst-, oft aber auch ein Zwiegespräch, nicht nur seinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, sondern auch mit den Zuschauer*innen seines Film. Sichtbar wird dabei Grundsätzliches: die Techniken der Macht und die Tektonik ihrer plötzlichen Verschiebung, wenn ein Regime zusammenbricht, wie im Iran; die neue Macht der Revolutionäre und Revolutionärinnen, sichtbar etwa in der Macht jener Studierenden, die in Teheran die amerikanische Botschaft besetzten und 52 Geiseln nahmen, um die Auslieferung des Schah zu erpressen. Sichtbar werden aber auch die Angst (und ihre Überwindung), die Unvorhersehbarkeit und Offenheit der revolutionären Situation, und schließlich die Momente der Euphorie, des Rausches, die, wie sich zeigt, aber auch allzu schnell umkippen können in Erfahrungen der Gewalt, von Grausamkeit und Kälte.

Der Nackte König, Filmstill; Quelle: the-naked-king.com
Hoessli bleibt daher konsequent, bei aller Nähe zu seinen Gesprächs-partner*innen, auf Abstand zu den beiden Revolutionen, wahrt ohne zu urteilen eine kühle, analytische Distanz, unterstrichen durch die ruhige, fast monotone Stimme seines Sprechers im Off, dem kürzlich verstorbenen Bruno Ganz. Der Ich-Erzähler als äußerer Beobachter, wie aus der Distanz: Es ist ein Blick durch einen Schleier, die Erzählstimme hebt den Abstand zum Ereignis hervor, unterstreicht die Schwierigkeit, es in seiner Gesamtheit zu fassen – sie unterstreicht aber auch die Grausamkeit und Kälte der Machthaber. Ihr politisches System hat Hoessli vor Jahrzehnten als Doktorand in Warschau kennengelernt: „Wie kann ich das System“, hört man den Ich-Erzähler sagen, „heute beschreiben, da es nicht mehr existiert? Das System wurde Sozialismus genannt, auch: der real existierende Sozialismus.“ Im Sinn hat er nicht eine historische oder politologische Analyse dieses Systems, sondern: „Ich wollte erfahren, wie die Menschen auf der anderen Seite der geteilten Welt leben.“ Zu alldem schliesslich passt, dass der Film damit beginnt und endet, dass die Stimme einen Traum erzählt. Es ist nicht der Traum von der Revolution.
Der Film arbeitet mit einer Vielzahl an Perspektivwechseln, über die Andreas Hoessli ein lockeres Netz von Erzählungen über die Voraussetzungen, Abläufe und das Ende der beiden Revolutionen spinnt. Eine sanfte Chronologie der Ereignisse schimmert hindurch. Die Off-Stimme hilft uns, die Filmaufnahmen aus der Zeit und den Stationen der Revolutionen einzuordnen:
„Das Jahr 1978, ein anschwellender Strom von Protestdemonstrationen. Tausende Gegner des Schahs sind im Gefängnis. Der Geheimdienst ist allgegenwärtig. In den Gefängnissen wird gefoltert. Der Schah hat Schiessbefehl erteilt.“ … „Teheran, am 1. Februar 1979, der Tag an dem Chomeini aus dem Exil zurückkehrt.“…„Gdansk im August 1980, Streik und Besetzung der Leninwerft (…) Die Streikenden fordern das Recht von Staat und Partei unabhängige Gewerkschaften zu gründen. Sie fordern Freilassung aller politischen Gefangenen; Streikrecht; Abschaffung der Zensur.“ … „Eine Revolution wird mit militärischer Gewalt zerschlagen. 13. Dezember 1981. Die polnische Partei- und Staatsmacht erklärt den Kriegszustand“ …
Für alle, die mit den Geschehnissen von damals nicht vertraut sind, liefert der Film damit Orientierungspunkte. Wer als Zuschauer*in von diesem Film jedoch ein starkes Narrativ erwartet, wird sich in dem ausgeworfenen Netz von Erzählungen möglicher Weise nicht leicht zurechtfinden. Immer wieder reißen Erzählfäden ab, werden erst an späterer Stelle wieder aufgenommen oder hinterlassen sogar lose Enden. Das ist weder Zufall noch Unvermögen. Andreas Hoessli hat nicht das Anliegen, den Anschein zu erwecken, als könne – oder wolle – er den Zuschauer*innen die Geschichte dieser Revolutionen liefern oder ihnen ein strenges Urteil über Vergangenheit und Gegenwart servieren. Beide, das „Heute“ und das „Gestern“, so scheint uns der Film nahezulegen, sperren sich gegen einfache Deutungen. Er ist damit nicht zuletzt als ein Veto gegen die offiziellen Revolutionsgeschichten, wie sie im Iran und neuerdings auch in Polen auf unterschiedliche Weise geschrieben werden, aber auch gegen die hiesige verkürzte Einordnung von „1979“ als „Islamische“, wenn nicht gar „Islamistische Revolution“. Andreas Hoessli geht mit seinem Dokumentarfilm einen anderen Weg: Er konzipiert ihn als eine Spurensuche, die sich nicht vor offenen Fragen scheut und abschließende Antworten meidet.
Marg bar pāprikā
Diese Zurückhaltung, die zwischendurch schon fast einer aktiven Zurückweisung von Sinndeutung ähnelt, kommt auf verschiedene Weise zum Tragen: durch die Filmaufnahmen etwa aus dem heutigen Iran, zu denen Aufnahmen religiöser Riten ebenso gehören wie Menschenansammlungen in den Straßen und auf den Plätzen Teherans. Andreas Hoessli kommentiert sie in der Regel nicht. Bei der Feier zum Jahrestag der Revolution, weicht er von dieser Praxis ab: „Marg bar āmricā“, „Tod Amerika“, „Tod Israel“, übersetzt er die Parolen, die Männer und Frauen aus dem vorüberziehenden Zug auf Schildern zeigen oder rufen. „Die Parolen sind staatlich verordnet“, hilft er den Zuschauer*innen weiter, und signalisiert damit, dass schnelle Anklagen womöglich zu kurz greifen. Was wissen wir über diese Menschen, wenn wir einen solchen Demonstrationszug sehen?

Der nackte König, Filmstill; Quelle: film.mfg.de
Andreas Hoessli lässt uns mit seiner Kamera in ihre Gesichter schauen. Die Kamera schwenkt zu einem älteren Mann mit weißen Haaren und bleibt für einen Moment stehen. „Was denkt der Mann, der allein inmitten der Menge steht? Hört er die Ansprache des Präsidenten?“, fragt Hoessli, ohne eine Antwort zu geben. Er zeigt uns eine weitere Szene der gleichen Veranstaltung. Junge Soldaten, die im Gras sitzen. „Marg bar āmricā“, „Tod Amerika, Israel“, hört man sie wieder rufen. „Soldaten, junge Männer, die sich benehmen, wie junge Männer überall auf der Welt,“ meint die kommentierende Off-Stimme. Eine Irritation, der eine weitere folgt: Andreas Hoessli lässt uns wissen, dass er den jungen Männern, die ihn mit ihren Parolen nervten, eine neue Parole zuspielen ließ: „Marg bar pāpricā“, „Tod der Paprika“. Die Gruppe sei verwirrt, dann amüsiert gewesen, habe sich aufgelöst. Einer der Soldaten sei zurückgekehrt; mit einem Satz: „Amerika ist meine grosse Liebe.“
Techniken der Herrschaft oder Biografien machen
Hoessli hat keine Neigung zu Vereinfachungen – das gilt auch, wenn er in die Vergangenheit eintaucht. Seine Skizzen sind zwar kurz, lenken den Blick aber auf wichtige Elemente der vorrevolutionären, revolutionären und nachrevolutionären Situation. Dazu gehören etwa die Techniken der Macht, die Andreas Hoessli durch Interviews mit drei ehemaligen Geheimdienstoffizieren, vor allem aber auch durch Auszüge aus seiner eigenen Geheimdienstakte freilegen kann. „Zu prüfen sind Methoden, wie der Figurant für unsere Dienste angeworben werden kann. Zu diesem Zweck sind Situationen herbeizuführen, die geeignet sind, den Figuranten als Journalist und Privatperson zu kompromittieren“, liest uns Andreas Hoessli, vom Geheimdienst „Hassan“ genannt, aus seiner Akte vor.
Verleumdungen, Bloßstellungen, Beschämungen, Erniedrigungen, das Repertoire an Vorgehensweisen, auf die Geheimdienste zurückgreifen, um Menschen in die Knie zu zwingen, sind nicht unbekannt. Und doch sind es gerade die kurzen Zitate aus Hoesslis Akte und die erstaunlich freimütigen Erläuterungen ehemaliger Geheimdienstoffiziere, welche die ansonste oft abstrakt bleibende Ahnung von den Methoden der Geheimdienste schärfer zu konturieren vermögen und ihr zerstörerisches Potenzial aufscheinen lassen. Wenn der Betroffene „nicht unter Schock wäre, würde er die Zusammenarbeit ablehnen. Aber unter Zwang funktioniert das“, hören wir Zbigniew Siemiątkowski, den ehemaligen polnischen Geheimdienstchef im Film sagen. An anderer Stelle erläutert er: „Ich habe dich ‚ausgearbeitet‘ heißt: ich weiß, wer du bist“. Andreas Hoessli wurde – wie viele andere auch – während seines Aufenthalts in Polen „ausgearbeitet“. In seiner Akte fand er eine Charakterstudie seiner Person. Die Akte legt außerdem offen, dass der Geheimdienst seine Biografie nicht unberührt liess. Dem Gesuch einer Schweizer Tageszeitung, Hoessli als ständigen Journalisten in Warschau zu akkreditieren, gab der Geheimdienst wegen seiner Kontakte zur Opposition nicht statt. Es ist nur eine kurze, aber prägnante Geschichte, die im Film erhellt, wie Geheimdienste Leben beeinflussen und Verhaltensweisen prägen können. Einer der interviewten Geheimdienstmänner klärt auf, man müsse nicht wissen, nur ahnen, dass man beobachtet wird, um Selbstkontrolle auszuüben. Um das Aufbegehren der Menschen in Schach zu halten, erwies sich das perfide Spiel mit der Angst als starker Hebel. Der Film lässt in diesem Fall keinen Zweifel daran, dass sich darauf auch der iranische Geheimdienst verstand.
Spielräume der Kritik
Es mag sein, dass revolutionäre Momente nur dann möglich sind, wenn die existenziellen Ängste in den Hintergrund treten. Józef Pinior, Aktivist der Solidarność, geht im Film davon aus, man lebe „in einem Zustand der Euphorie“. Ein solcher Zustand sei beim Streik in Polen im Sommer 1980 da gewesen, er selbst habe in solch einem Zustand gelebt, der ihn für sein ganzes Leben geprägt habe: „Dass man anders leben kann.“
Andreas Hoessli lässt die Aussage in seinem Film bestehen, flankiert sie jedoch umgehend mit einem Zitat des bereits verstorbenen Reporters und Schriftstellers Ryszard Kapuscinski, das möglichen Verklärungen der Revolutionsgemeinschaft Grenzen setzt. Nüchtern stellte dieser fest: „Es kommt der Moment, in dem die Stimmung umschlägt und alles zu Ende geht. Unversehens zerfällt unsere Gemeinschaft, jeder kehrt zurück zu seinem alten Ich, das ihm anfangs noch Unbehagen bereitet, wie ein schlecht sitzender Rock. Aber wir wissen, dass es unser eigener Rock ist und wir keinen anderen bekommen werden. Widerwillig blicken wir einander in die Augen, meiden wir jedes Gespräch, wir brauchen einander nicht mehr.“
Kapuscinski schrieb über den Iran – und hatte bei diesen Zeilen doch auch Polen vor Augen, wo er sich, während der dies schrieb, befand. Der Kriegszustand war verhängt, die Revolution zerschlagen worden war. Damit setzte eine neue Phase der Gewalt ein, hier wie dort: Der „real existierende Sozialismus“ bäumte sich ein letztes Mal vor „1989“ auf; im Iran wurden diejenigen Anhänger der Revolution, die sich der neuen Macht der islamischen Führer nicht unterwerfen wollten, verfolgt und hingerichtet. Binnen kurzem hatten sich die Spielräume der Kritik wieder einmal radikal verändert.
Andreas Hoessli lässt seinen Film damit nicht enden. Stattdessen spürt er die Nachwirkungen der Revolutionen auf und lotet die Möglichkeiten, kritisch auf sie zurückzublicken, aus. Die Erzählungen, die durch die Interviews dabei entstehen, führen ein breites Spektrum an Umgangsweisen mit der Vergangenheit vor Augen und sind auf unterschiedliche Weise bemerkenswert. Das schließt die Ausführungen eines Mannes vom polnischen Geheimdienst ein, der über die bereits erfolgte Vernichtung von Akten spricht, und sich wünscht, man solle mit dem verbleibenden Rest doch ebenso verfahren. Nachdenklichere Stimmen sind jedoch auch darunter. Masoumeh Ebtekar, die Vizepräsidentin des Iran, gehört dazu. Bei der Geiselnahme der US-Amerikaner spielte sie seinerzeit eine wichtige Rolle. „Können wir immer noch Revolutionäre bleiben und gleichzeitig kritisieren, was in jenen Zeiten geschah? Können wir in eine selbstkritische Diskussion eintreten und dabei den Werten der Revolution treu bleiben? Kann ich als treue Revolutionärin hinstehen und kritisieren, was ich damals dachte, sagte und tat?» Es ist ein Signal, ebenfalls, wenn auch leise, der Distanz. Aber eine Antwort darauf bliebt sie schuldig.
Ein weiteres der vielen losen Enden in diesem Film. Manche Zuschauer*innen wird das ratlos machen, andere wird er zum Nachdenken mitnehmen. Andreas Hoessli jedenfalls wird mit seinen Film Fragen provozieren. Genau darin aber besteht eine seiner großen Stärken.