Dass sich Migration nachteilig auf die Emanzipation der Frauen auswirke, ist kein neues Argument, aber ein falsches. Es prägt die öffentlichen Debatten seit den 1960er-Jahren. In dieser Zeit wurden Italienerinnen und Italiener ähnlich wahrgenommen wie die muslimische Bevölkerung heute. Mit Unbehagen blickte man damals auf die vergleichsweise höhere Kinderzahl italienischer Familien und sprach von der drohenden „Italianisierung“ der Schweizer Bevölkerung. Auch erregte es Unmut, dass viele Italiener Bahnhöfe als Treffpunkte nutzten – denn sie standen im Ruf, Schweizerinnen zu belästigen. 1983 weigerte sich eine Imbissstube in der Stadt Wil, italienische Gäste im vorderen Teil der Räumlichkeiten zu bedienen – mit der Begründung, dass unbegleitete Frauen es sonst nicht wagen würden, einzutreten.
Vor diesem historischen Hintergrund ist es wenig erstaunlich, dass die Nachkriegsmigration in der wissenschaftlichen Literatur lange als „einseitige Emanzipationsgeschichte“ erzählt wurde: Italienische Frauen hätten demnach erst in der „moderneren“ Schweiz ihre Freiheit entdeckt. Dabei ging und geht vergessen, dass Frauen in Italien in vielen Bereichen bessergestellt waren als in der Schweiz. Das Frauenstimmrecht galt dort seit Ende des Zweiten Weltkriegs und auch die Geschlechtergleichheit wurde viel früher in der Verfassung verankert. Die Italienerinnen trafen also in der Schweiz in vielerlei Hinsichten auf eine rückständige Situation.
Ausbau der Kinderkrippen-Infrastruktur
In Sachen Gleichstellung war und ist die Schweiz in vielerlei Hinsicht eine Nachzüglerin, wobei in der wissenschaftlichen Literatur allgemein angenommen wird, dass die „Gastarbeit“ die traditionellen Geschlechterrollen und ein bürgerliches Familienmodell noch verstärkt habe. Doch auch diese Geschichte lässt sich anders erzählen, denn der Anteil der Ausländerinnen an der weiblichen Erwerbsarbeit belief sich zwischen 1950 und 1960 auf drei Viertel. In den so genannten „Boom-Jahren“ stellte sich die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie also gerade in migrantischen Familien.
Eine direkte Folge des hier virulenten Vereinbarkeitsproblems war, dass ausserhäusliche Betreuungsstrukturen für Kinder ausgebaut wurden. Zwar öffneten bereits im 19. Jahrhundert Krippen für Arbeiterkinder, doch mit den „Ausländerkindern“ wuchs der Bedarf signifikant. Noch bevor sich die gesellschaftlichen Werte wandelten – die Fremdbetreuung von Kindern war damals in der Schweiz stark stigmatisiert –, bestand also ein praktischer Zwang für den Ausbau von Krippen, weil die ‚ausländischen‘ Arbeiterfrauen in der Wirtschaft gebraucht wurden.
Mit den Auswirkungen der Ölkrisen in den 1970er Jahren änderte sich die Situation; in diesen Rezessionsjahren mussten zahlreiche Migrantinnen und Migranten in ihre Heimatländer zurückkehren. Die im Zuge der Nachkriegsmigration etablierte Betreuungsstruktur wurde nun vermehrt von der Schweizer Mittelschicht genutzt und im Laufe der 1980er-Jahre langsam breiter akzeptiert. Die Existenz von Kinderkrippen führte also, zusammen mit anderen Einflüssen wie etwa der neuen Frauenbewegung, dazu, dass es im Laufe der Zeit zu einer Normalisierung ausserhäuslicher Kinderbetreuung kam. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass veränderte Lebensstile, auch unfreiwillig praktizierte, zum Ausbau von Infrastrukturen beitragen können und sich Dynamiken entfalteten, die langfristig eine Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Situation bewirken können.
Zugang zur Hochschulbildung und politische Partizipation

Nadeschda Suslowa, die erste Doktorin der Universität Zürich; Quelle: tagesanzeiger.ch
Die Schweiz hat bekanntlich als eines der ersten Länder Europas Frauen den Zugang zu Universitäten gewährt. Es waren allerdings Studentinnen aus Russland, die sich in der Schweiz den Zugang zur höheren Bildung erkämpften. An der Universität Zürich waren es zudem vor allem geflüchtete deutsche Professoren, die sich für das Frauenstudium stark machten. Auch wenn es zu diesen Vorgängen inzwischen exzellente Studien gibt, ist dieses Wissen nur partiell in die deutungsmächtigen Überblickswerke eingeflossen.
Die frühen Akademikerinnen standen oft an der Spitze des feministischen Denkens, einige der ersten Studentinnen wurden später Schlüsselfiguren im Kampf um politische Partizipation. Dass viele Frauenstimmrechtspionierinnen Migrationserfahrung aufweisen, wurde bisher nicht systematisch reflektiert und ist nicht Teil unseres Geschichtsbildes geworden. Die federführende Beteiligung von Frauen mit verschiedenen Arten der Migrationserfahrung am Kampf für das Frauenstimmrecht kann anhand mehrerer Ikonen der Schweizer Frauenstimmrechtsbewegung aufgezeigt werden.
Stellvertretend für andere soll das Beispiel von Ottilia Paky-Sutter genannt werden, die im Appenzell Innerrhoden lebte, in jenem Kanton also, der als letzter im Jahr 1990 und erst auf Druck des Bundesgerichts das Frauenstimmrecht einführte. 1978 gründete Ottilia Paky-Sutter eine Frauengruppe mit dem Ziel, das Frauenstimmrecht in Appenzell Innerrhoden einzuführen. Paky-Sutter gehörte zu einer der bekanntesten Familien in Appenzell, denn sie besass ein Gasthaus, in dem sich die lokale Intelligenzija traf. An der Landesausstellung 1939 in Zürich traten die noch unverheiratete Ottilia Sutter und ihre Schwester mit dem Festspiel „Me sönd halt Appezöller“ auf. Als auch noch ein Heimatfilm („I han en Schatz gha“, 1941) folgte, verkörperten die jodelnden Schwestern für ein breites Publikum „lokale Traditionen“. Nur wenige Jahre später änderte sich die Situation für Ottilia Paky-Sutter allerdings drastisch, denn sie verlor 1947, nach ihrer Heirat mit einem Österreicher, ihre Schweizer Staatsbürgerschaft. Laut Aussagen ihrer Tochter war dies der entscheidende Faktor für das politische Engagement der Mutter – zumal für Ottilia Paky-Sutter diese Veränderung auch einen sozialen Abstieg nach sich zog. Ihre ganze Familie musste wiedereingebürgert werden, eine sowohl erniedrigende als auch kostspielige Prozedur. Es war mit anderen Worten diese „indirekte“ Migrationserfahrung, die ihr politisches Engagement entfachte.
Das Beispiel Ottilia Paky-Sutter zeigt, dass es produktiv sein kann, auch solche indirekten Migrationserfahrungen und ihre Auswirkungen in die historische Analyse einzubeziehen. Heute werden in der Schweiz weniger als die Hälfte der Ehen zwischen Schweizer Bürgerinnen und Bürgern geschlossen. Auch daher ist es wichtig, die Implikationen der Migration umfassender zu denken. Migrationspolitik betrifft weit mehr Menschen als diejenigen, die gemeinhin als „Migrierte“ gelten.
Wie die Vergangenheit erzählt und die Zukunft vorgestellt wird
Geschichte, die aus der Migrationsperspektive erzählt wird, kann das Selbstverständnis eines Landes wie der Schweiz verändern. Dabei geht es nicht einfach um das Hinzufügen einer Migrationsgeschichte zur so genannten „allgemeinen Geschichte“. Migration ist nicht nur in den Blick zu rücken, wenn explizit „Migration“ darauf steht. Wir brauchen nicht in erster Linie eine Migrationsgeschichte, die sich in Beiträgen findet, die dieses Thema spezifisch adressieren, vielmehr brauchen wir eine Migrantisierung der gesamten Geschichtsschreibung.
Den Zusammenhang zwischen Migration und der Geschichte der Gleichberechtigung in der Schweiz zu untersuchen, heisst nicht, Migration zu glorifizieren oder behaupten zu wollen, dass Migration nie ein Hindernis für ‚Emanzipation‘ sein kann. Migration per se ist weder gut noch schlecht. Aber die Bedingungen, unter denen sie stattfindet, können eher gut oder eher schlecht sein. Diese Bedingungen sind nicht einfach gegeben, sondern sie werden gemacht, gestaltet. Die Art der Gestaltung wiederum hängt auch davon ab, wie wir die vergangene und die gegenwärtige Migration wahrnehmen, ob wir zum Beispiel auch sehen, welchen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung sie leistete und leistet. Gerade deshalb ist es wichtig, diesen oft vergessenen Zusammenhang von Migration und Emanzipation zu beleuchten.