Nach zwölf Jahren Drogenkrieg zeichnet sich in Mexiko eine kleine politische Revolution ab. Andrés Manuel López Obrador steht mit seiner dritten Präsidentschaftskandidatur vor einem Erdrutschsieg und würde damit der erste linke Präsident des grössten spanischsprachigen Landes seit Lázaro Cárdenas.

  • Olivier Keller

    Olivier Keller ist Doktorand an der Universität Zürich und forscht zur gemeinsamen Geschichte Mexikos und der USA.

Im Jahr 1988 stürzte beim sich abzeich­nenden Sieg des linken Präsi­dent­schafts­kan­di­daten Cuauh­témoc Cárdenas das Wahl­zähl­system ab. „Se cayó el sistema“ ist seitdem ein geflü­gelter Begriff in Mexiko, welcher für Wahl­be­trug steht. Aus dieser „Panne“ resul­tierte dann doch noch ein komfor­ta­bler Wahl­sieg für Carlos Salinas de Gortari, den offi­zi­ellen Kandi­daten der regie­renden Partei der insti­tu­tio­na­li­sierten Revo­lu­tion (Partido Revo­lu­cio­nario Insti­tu­cional, PRI). In seiner Amts­zeit priva­ti­sierte Salinas die mexi­ka­ni­schen Staats­un­ter­nehmen und berei­cherte sich und seine Freunde dabei in unge­kanntem Masse. Nach einem zeit­weisen Exil in Irland gilt er heute als graue Eminenz hinter dem aktu­ellen Präsi­denten Peña Nieto. Cuauh­témoc Cárdenas hingegen grün­dete nach seiner Wahl­nie­der­lage von 1988 die Partei der Demo­kra­ti­schen Revo­lu­tion (Partido de la Revo­lu­ción Demo­crá­tica, PRD) und trat danach noch zwei weitere Male bei den Präsi­dent­schafts­wahlen an, hatte jedoch keine Chance mehr.

2006 verlor der Präsi­dent­schafts­kan­didat der PRD, Andrés Manuel López Obrador, nachdem er zunächst in sämt­li­chen Umfragen die Führung hatte, nach über zwei­mo­na­tiger Auszäh­lung der Stimmen die Präsi­dent­schafts­wahlen um 0.58 Prozent­punkte gegen den Kandi­daten der rechten Regie­rungs­partei Partido Acción Nacional (PAN). Zu einer voll­stän­digen Neuaus­zäh­lung der Stimmen, wie von López Obrador gefor­dert, kam es aller­dings nie, weshalb dieser von Wahl­be­trug sprach. Während eines halben Jahres besetzten seine Anhän­ge­rInnen den Paseo de la Reforma – die Pracht­allee Mexikos, wo auch der mexi­ka­ni­sche Senat liegt – und López Obrador selber bezeich­nete sich als „legi­timer Präsi­dent“. Der offi­zi­elle Sieger Felipe Calderón versuchte die fehlende Legi­ti­ma­tion mit einer harten Hand in der Sicher­heits­po­litik wett­zu­ma­chen. Damit stürzte er Mexiko in einen verhee­renden Drogen­krieg, der bis heute andauert.

Gummi­masken, Mexico City, 2018; Quelle: sacbee.com

Diese beiden Vorfälle sowie der vermeint­liche Stim­men­kauf des PRI in den Präsi­dent­schafts­wahlen von 2012 erschüt­tern bis heute das Vertrauen der Linken in die mexi­ka­ni­sche Demo­kratie. Der letzte tatsäch­lich linke Präsi­dent war Lázaro Cárdenas – der Vater von Cuauh­témoc Cárdenas – in den 1930er Jahren. Die PRI hat zwar während ihrer jahr­zehn­te­langen, auto­ri­tären Herr­schaft oft einen linken Diskurs bemüht, gleich­zeitig aber linke Oppo­si­tio­nelle verfolgen lassen und 1968 ein Massaker an linken Studen­tInnen ange­richtet. Unter Salinas de Gortari verab­schie­dete sich die Partei dann auch von linken Poli­tiken wie einer staat­li­chen Beschäf­ti­gungs­po­litik, welche noch Luis Eche­verría, einer der Urheber des Massa­kers von 1968 und anschlies­send Präsi­dent, geprägt hatte. Heut­zu­tage steht die tradi­tio­nell von verschie­denen Strö­mungen geprägte PRI zusammen mit dem rechten PAN für eine neoli­be­rale Politik, welche einzig der mexi­ka­ni­schen Ober­schicht zugutekommt.

Ein linker Triumph zeichnet sich ab

Andres Manuel Lopez Obrador am 20. April 2018 in Mexico City; Quelle: bloomberg.com

Doch die Vorherr­schaft dieser beiden neoli­be­ralen Parteien dürfte bei den heutigen Präsi­dent­schafts­wahlen gebro­chen werden. Andrés Manuel López Obrador, nach seinen Initialen auch als AMLO bekannt, wirkt bei seiner dritten Präsi­dent­schafts­kan­di­datur wie ein sicherer Sieger. Obwohl AMLO seit 12 Jahren kein offi­zi­elles Amt mehr inne­hatte, zwei Präsi­dent­schafts­wahlen verlor und mit 64 Jahren der Senior unter den Präsi­dent­schafts­kan­di­daten ist, ist nun offenbar sein Moment gekommen. Dank stetig wach­sender Zustim­mung steht AMLO inzwi­schen in den meisten Umfragen bei über 50 Prozent und hat mindes­tens 20 Prozent Vorsprung vor seinem nächsten Verfolger. Seine 2014 gegrün­dete Partei MORENA (Bewe­gung für die Natio­nale Rege­ne­rie­rung) steht in den Umfragen eben­falls bei über 40 Prozent Zustim­mung. Noch beein­dru­ckender als die Umfragen erweisen sich aber Abstim­mungs­si­mu­la­tionen an öffent­li­chen Univer­si­täten, wo AMLO rund 80 Prozent der Stimmen auf sich vereinen kann. Da es in Mexiko nur einen Wahl­gang gibt, und eine rela­tive Mehr­heit für den Wahl­sieg reicht, scheint ihm dieser nicht mehr zu nehmen sein.

Die guten Umfra­ge­werte AMLOs hängen mit der aktu­ellen Lage Mexikos zusammen. Die Volks­wirt­schaft, an fünf­zehnter Stelle im Welt­ver­gleich, verfügt zwar über eine tech­no­lo­gie­ori­en­tierte Indus­trie und bildet mit den USA zusammen einen potenten Automobil-Cluster, hat aber auch grosse Probleme. Sofern diese nicht direkt von den PRI- und PAN-Regierungen der letzten Jahre und Jahr­zehnte verur­sacht wurden, zeigen sie zumin­dest deren Versagen in essen­zi­ellen Berei­chen auf.

Ein Land mit vielen Problemen

Die mexi­ka­ni­sche Armee im Drogen­krieg; Quelle: businessinsider.com

Nachdem 2017 als das gewalt­tä­tigste Jahr seit langem in die Statistik einging, zeigt sich 2018 bisher noch eine Stei­ge­rung. Pro Tag werden im laufenden Jahr durch­schnitt­lich 85 Menschen umge­bracht. Seit dem 2006 von Präsi­dent Calderon begon­nenen Drogen­krieg gab es gemäss offi­zi­eller Zahlen bereits über 270‘000 Tote und 36‘000 Verschwun­dene. Viele von ihnen dürften in den tausenden von geheimen Massen­grä­bern liegen oder auf andere Weise von den Kartellen oder auch den mexi­ka­ni­schen Sicher­heits­kräften besei­tigt worden sein. Ein Fall, der kürz­lich für Aufsehen sorgte, ist derje­nige von drei Film­stu­denten, die in Mexikos zweit­grösster Stadt Guad­a­la­jara von als Poli­zisten verklei­deten Kartell­mit­glie­dern verschleppt, gefol­tert, getötet und in Säure aufge­löst wurden. Angeb­lich wurden sie für Mitglieder eines verfein­deten Kartells gehalten. Weiterhin unge­klärt ist der Fall der 43 Studenten, die 2014 im Bundes­staat Guer­rero verschwunden sind und in den die lokale Polizei und Politik ebenso wie das orga­ni­sierte Verbre­chen invol­viert sind.

Doch es ist nicht nur die Gewalt­es­ka­la­tion, welche die Unzu­frie­den­heit der Mexi­ka­ne­rInnen schürt. Die letzte Regie­rung gilt als die korrup­teste der jüngeren Geschichte. Sie ist in spek­ta­ku­läre Korrup­ti­ons­fälle verwi­ckelt, wie jenen von Javier Duarte: Der Exgou­ver­neur des Bundes­staates Vera­cruz liess krebs­kranken Kindern in den Infu­sionen Wasser statt Medi­ka­mente verab­rei­chen, um das dafür budge­tierte Geld einzu­strei­chen. Er ist einer der wenigen, die sich vor Gericht verant­worten müssen. Die aktu­elle Minis­terin Rosario Robles, die umge­rech­nete über 50 Millionen Franken verun­treut haben soll, ist weiter unan­ge­tastet in ihrem Amt. Mexiko ist auch das einzige Land, wo der Bestechungs­skandal um die brasi­lia­ni­sche Baufirma Odebrecht keine Konse­quenzen hatte, obwohl man weiss, dass auch hier Geld geflossen ist. Die Straf­lo­sig­keit (i.e. die fehlende rechts­gül­tige Verur­tei­lung für ein Verbre­chen) liegt in Mexiko laut einer Studie der Univer­sität der Amerikas in Puebla bei ernüch­ternden 99,3 Prozent.

Hinzu kommen die prekären Arbeits­be­din­gungen. Laut offi­zi­ellen Zahlen liegt die Arbeits­lo­sig­keit zwar nur bei leicht über drei Prozent, aller­dings gehen 57 Prozent der Beschäf­tigten einer infor­mellen Arbeit nach. 15.3 Millionen Mexi­ka­ne­rInnen verdienen den Mindest­lohn oder weniger. Mit durch­schnitt­lich 2246 Arbeits­stunden pro Jahr arbeiten die Mexi­ka­ne­rInnen im Schnitt 807 Stunden mehr als die SchweizerInnen.

Kandidat gegen das System

Eine grosse Stärke von AMLO ist seine Volks­nähe. Er kann glaub­haft vermit­teln, die Probleme der Leute zu kennen; er reist für seine Kampagne so viel wie seine beiden Haupt­gegner zusammen. Dies aller­dings nicht in privaten Jets wie seine Wider­sa­cher, sondern in Billi­g­air­lines oder auch mal auf dem Gepäck­träger eines Motor­rades. Die teure Präsi­den­ten­ma­schine will er verkaufen und nicht in der offi­zi­ellen Präsi­den­ten­re­si­denz Los Pinos leben. Aufgrund solcher Vorschläge wird AMLO Popu­lismus vorge­worfen. Er kontert, wenn dies Popu­lismus sei, solle man ihn ruhig als Popu­listen bezeichnen.

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Noch stärker wiegen dürfte aber etwas anderes. Während verschie­dene ehema­lige Gefolgs­leute und aktu­elle Anhän­ge­rInnen in Korrup­ti­ons­fälle verwi­ckelt sind, wurden trotz diverser Schmutz­kam­pa­gnen nie fundierte Korrup­ti­ons­vor­würfe gegen den bescheiden lebenden Kandi­daten laut. Es gelang ihm damit, sich erfolg­reich als Kämpfer gegen das korrupte System zu posi­tio­nieren, welches ihn 2006 wahr­schein­lich um den Wahl­sieg betrogen hatte.

Die Kandi­daten; Quelle: ktsm.com

Die Gegner von AMLO in dieser Wahl reprä­sen­tieren genau dieses System: Der Kandidat der Regie­rungs­partei PRI ist ein wenig charis­ma­ti­scher Tech­no­krat, der in den letzten beiden, von Korrup­ti­ons­fällen geprägten Regie­rungen als Minister fungierte. Der junge Kandidat der Rechts­partei PAN ist ein abge­ho­bener Vertreter der (weissen) Ober­schicht, gegen den ein Verfahren wegen Geld­wä­sche läuft. Als Alter­na­tive präsen­tiert sich mit Jaime Rodrí­guez Calderón alias El Bronco ein Unab­hän­giger, der als Gouver­neur für den PRI amtierte und Krimi­nellen die Hände abha­cken will. Ange­sichts dieser Kandi­daten verfängt auch die Angst­kam­pagne gegen AMLO, unter seiner Regie­rung werde alles wie in Vene­zuela enden, längst nicht mehr beim Elektorat.

Im Wahl­pro­gramm von AMLO finden sich eine neue Sicher­heits­stra­tegie, welche die Demi­li­ta­ri­sie­rung Mexikos und einen Frie­dens­dialog mit sämt­li­chen Akteuren vorsieht, sowie ein riesiges Beschäf­ti­gungs­pro­gramm für Junge, welches durch Korrup­ti­ons­be­kämp­fung finan­ziert werden soll. Ausserdem will Obrador den Mindest­lohn während seiner sechs­jäh­rigen Amts­zeit verdop­peln und die Gewerk­schafts­frei­heit garan­tieren. Gesell­schafts­po­li­tisch bezieht der Kandidat aller­dings keine klaren Posi­tionen und sein Wahl­bündnis mit einer rechten, evan­ge­li­kalen Klein­partei stösst bei vielen Anhän­gern auf Unverständnis.

Grosse Erwar­tungen

Dem Unbe­hagen ange­sichts gewisser Programm­punkte steht AMLOs bishe­riger Leis­tungs­aus­weis gegen­über: Als Bürger­meister von Mexiko City – ein Amt welches er von 2000 bis 2005 beklei­dete  – erfreute er sich Zustim­mungs­werten von bis zu 85 Prozent, senkte die Krimi­na­lität, imple­men­tierte erfolg­reiche Sozi­al­po­li­tiken, entschärfte das Verkehrs­chaos und revi­ta­li­sierte das Stadt­zen­trum. Zu seinem künf­tigen Stab gehören weit über die Partei­grenzen respek­tierte Akade­mi­ke­rInnen und Akti­vis­tInnen, die sich in Mexiko und inter­na­tional einen Namen gemacht haben. Aller­dings hat AMLO die Türe weit geöffnet und auch zahl­reiche vorbe­las­tete Poli­ti­ke­rInnen in seiner Partei akzep­tiert. Hier wäre beispiels­weise der aktu­elle Präsi­dent der MORENA-Fraktion im Senat, Manuel Bartlet Díaz, zu nennen, der 1988 als dama­liger Innen­mi­nister der PRI-Regierung den Absturz des Wahl­sys­tems verkün­dete. Es gibt über­dies verschie­dene Hinweise, dass AMLO durch poli­ti­sche Abspra­chen und Straff­frei­heits­ga­ran­tien seinen Sieg zu sichern und so einen erneuten Wahl­be­trug wie 2006 zu verhin­dern sucht.

Andrés Manuel López Obrador ist die einzige glaub­wür­dige Alter­na­tive unter den aktu­ellen Kandi­daten, aber auch von ihm sollte man keine Wunder erhoffen. Die Erwar­tungen werden riesig sein und AMLO schnell unter Druck geraten, sollten ihm keine schnellen Fort­schritte gelingen. Schliess­lich könnte die sechs­jäh­rige Amts­zeit für ihn bereits nach drei Jahren enden, sollte er sich dann tatsäch­lich, wie an seinen Wahl­kampf­ver­an­stal­tungen verspro­chen, einer Zwischen­wahl stellen.