Muss Gewalt und Diskriminierung erfahren haben, wer über sie sprechen möchte? Ist nur dann ein Verständnis solcher Phänomene möglich? Seit #MeToo sind solche Fragen wieder aktuell. Zeit daran zu erinnern, dass die Kulturwissenschaften dieses Problem bereits intensiv diskutiert haben.

Gut einen Monat ist es nun her, dass die Schau­spie­lerin Alyssa Milano ange­sichts des Skan­dals um den Hollywood-Mogul Harry Wein­stein in einem Tweet alle Frauen, die schon einmal „sexuell beläs­tigt oder ange­griffen wurden“, dazu auffor­derte, dies mit dem Bekenntnis „Mee too“ in den sozialen Netz­werken sichtbar zu machen. Erst damit, so Milano, lasse sich „den Leuten eine Vorstel­lung von der Größe des Problems“ geben, das bei weitem nicht auf die ameri­ka­ni­sche Film- und Unter­hal­tungs­in­dus­trie beschränkt sei. Milano griff dazu auf einen Ausdruck zurück, den die femi­nis­ti­sche Akti­vistin Tarana Burke bereits zehn Jahre zuvor zum „Empower­ment“ von sexuell miss­brauchten Frauen erfunden hatte, verhalf ihm aber zu unge­ahnter Popu­la­rität: Noch am glei­chen Tag folgten hundert­tau­sende Frauen (und auch Männer) in den USA ihrem Aufruf. Inzwi­schen sind es Millionen auf der ganzen Welt, die den Ausdruck auf Face­book oder Twitter aufge­griffen und verbreitet haben. Viele Frauen (und Männer) beschränkten sich dabei in ihren Beiträgen nicht auf die kurze Bekennt­nis­formel, sondern berich­teten von eigenen Erleb­nissen: aus der Kind­heit, der Disko oder dem Büro; von blöder Anmache, sexis­ti­schen Sprü­chen oder massiven An- und Über­griffen. Dieses Spre­chen aus eigener Erfah­rung ist wichtig: Es kann Betrof­fene vor dem Gefühl schützen, mit dem Erlebten allein zu sein. Zudem hat es, wie erhofft, Nicht-Betroffenen die Alltäg­lich­keit von Sexismus unüber­sehbar vor Augen geführt. Und es befeuert weiterhin die poli­ti­sche Debatte, die sich tatsäch­lich nicht mehr allein um das Show­ge­schäft, sondern ebenso um den Poli­tik­be­trieb, um das Medi­en­wesen, die Privat­wirt­schaft und andere Teile der Gesell­schaft dreht.

Das alles wäre ohne den Verweis auf eigene Erfah­rungen nicht möglich gewesen. In der Diskus­sion lässt sich aber zugleich auch eine deut­liche Unsi­cher­heit darüber beob­achten, welchen Stel­len­wert persön­liche Erfah­rungen in ihr besitzen sollten: Sind sie Voraus­set­zung, um das Problem des Sexismus ange­messen zu erfassen? Oder sollte lieber schweigen, wer über solche Erfah­rungen glück­li­cher­weise nicht verfügt? Die Frage, ob es das Erlebnis sexu­eller Diskri­mi­nie­rung oder Gewalt braucht, um ange­messen über das Thema spre­chen zu können, liegt damit auf dem Tisch – zumeist aller­dings in der simpli­fi­zie­renden Wendung, ob Männer „nach­voll­ziehen“ können, „wie sich eine Frau fühlt, wenn sie sexis­tisch diskri­mi­niert wird“. Selbst wenn man davon ausgeht, dass „Männer nie wirk­lich nach­emp­finden können, was es bedeutet, perma­nenter sexu­eller Herab­wür­di­gung ausge­setzt zu sein“: Folgt daraus wirk­lich, dass diese deshalb „niemals verstehen“ werden, „was es bedeutet, als Frau sexuell beläs­tigt zu werden“? Und was hieße es für „unsere Diskus­si­ons­kultur“, wenn „immer ein Rest Fremd­heit“ zwischen den Geschlech­tern bliebe, bezie­hungs­weise wenn „wir das Argu­ment der geschlecht­li­chen Inkom­men­su­ra­bi­lität zuließen und auf dieser Basis dem männ­li­chen Part per se ein Urteils­verbot über das Empfinden von Frauen erteilen würden“?

Dass diese Fragen heute gerade anhand des Geschlech­ter­ver­hält­nisses öffent­lich zur Debatte stehen, besitzt einen anachro­nis­ti­schen Zug. Denn ihnen liegt ein Konzept von Verstehen zugrunde, dessen Grenzen und Probleme bereits in den 1970er Jahren insbe­son­dere durch die „Entde­ckung“ der anderen Erfah­rungen von Frauen (und gesell­schaft­li­cher Minder­heiten) unüber­sehbar geworden waren. In den Wissen­schaften entfal­tete der Femi­nismus seine viel­leicht nach­hal­tigste Wirkung in seinem Beitrag zur Durch­set­zung eines verän­derten Verste­hens­be­griffs, der die „Fremd­heit“ anderer Erfah­rungen akzep­tieren kann und frühere Konzepte eines Verste­hens durch Nach­fühlen hinter sich lassen konnte. Daran zu erin­nern scheint ange­sichts der aktu­ellen Diskus­sion nützlich.

Ein altes Konzept: Verstehen als „Wieder­finden des Ich im Du“

Die philo­so­phi­sche Ausein­an­der­set­zung darüber, auf welcher Grund­lage dem Einzelnen das Verstehen anderer Menschen möglich ist, reicht zurück bis in die Antike. Sie gewann jedoch im 19. Jahr­hun­dert in der Heraus­bil­dung des modernen Wissen­schafts­sys­tems in neuar­tiger Weise Profil. Vor allem in den damals führenden deut­schen Geis­tes­wis­sen­schaften wurde das Verstehen unter dem Begriff der Herme­neutik – der Lehre des Verste­hens – zu einer Methode erhoben, auf deren Grund­lage sich die Geis­tes­wis­sen­schaften als gleich­wer­tiger Wissen­schafts­zweig neben den Natur­wis­sen­schaften im univer­si­tären System etablieren konnten. Verstehen als syste­ma­ti­sche Methode der Welt­erschlie­ßung wurde zwischen den beiden älteren Denk­tra­di­tionen von Natur­wis­sen­schaften und Philo­so­phie bzw. Theo­logie ange­sie­delt: Sie sollte empi­ri­sches Forschen ermög­li­chen, wie es die Natur­wis­sen­schaften auszeich­nete, sich aber der Welt mensch­li­chen Handelns und Denkens widmen, die bislang Theo­logie und Philo­so­phie bearbeiteten.

„Verstehen“ sollte bedeuten, nicht nach allge­meinen Gesetz­mä­ßig­keiten zu suchen, sondern mensch­li­ches Handeln durch das Frei­legen der ihm zugrun­de­lie­genden Moti­va­tionen aufzu­schlüs­seln. Möglich schien dies, weil etwa der Histo­riker Johann Gustav Droysen davon ausging, dass sich in jeder mensch­li­chen Äuße­rung „innere Vorgänge spie­geln“, die von jedem Gegen­über nach­emp­funden werden können. „Den Schrei der Angst verneh­mend, empfinden wir die Angst des Schrei­enden“, beschrieb er den erkennt­nis­theo­re­ti­schen Grund­ge­danken, den er dem Verstehen zugrunde legte. Der Histo­riker und Philo­soph Wilhelm Dilthey, der Droy­sens Über­le­gungen am Ende des 19. Jahr­hun­derts weiter­führte, fand dafür die eingän­gige Formu­lie­rung: Verstehen sei das „Wieder­finden des Ich im Du“. Zugleich erklärte er präziser, auf welcher Grund­lage dieses „Wieder­finden“ statt­finden könne. Es gründe auf der Gemein­sam­keit aller mensch­li­chen Lebens­voll­züge, auf einem gemeinsam geteilten Erfah­rungs­raum, der die Menschen verbinde und ihnen gegen­sei­tiges Einfühlen ermög­liche. „Jedes Wort, jeder Satz, jede histo­ri­sche Tat“ waren für Dilthey deshalb „verständ­lich, weil eine Gemein­sam­keit den sich Äußernden mit dem Verste­henden verbindet; der einzelne erlebt, denkt und handelt stets in einer Sphäre der Gemein­sam­keit, und nur in einer solchen versteht er“.

Die Krise der Herme­neutik in den 1970er Jahren

Es war eben diese Vorstel­lung eines alle Menschen verbin­denden gemein­samen Erfah­rungs­raumes, die in den 1970er Jahren in die Krise geriet, als sich in Öffent­lich­keit und Wissen­schaften bislang kaum gehörte Stimmen zu Wort meldeten: Frauen, Behin­derte, Homo­se­xu­elle, Migranten. Sie beklagten zuneh­mend lauter, dass ihre Erfah­rungen in Öffent­lich­keit wie Wissen­schaft kaum reprä­sen­tiert waren und forderten Gehör. In dem Maße, wie in den 1970er und 1980er Jahren mit der Frau­en­be­we­gung und anderen „Neuen Sozialen Bewe­gungen“ alter­na­tive Öffent­lich­keiten entstanden, in denen ganz andere Erfah­rungen zur Geltung gebracht wurden, entpuppte sich der von den Herme­neu­ti­kern des 19. Jahr­hun­derts unter­stellte gemein­same Erfah­rungs­raum als Illu­sion. Denn der klas­si­schen Herme­neutik lag nur eine sehr spezi­fi­sche Erfah­rung zugrunde: eine männ­liche, euro­päi­sche, gebil­dete und wohl­ha­bende. Erst daraus wird verständ­lich, welche Faszi­na­tion, aber auch welch wich­tiger erkennt­nis­theo­re­ti­sche Impuls von der Erkun­dung weib­li­cher, schwarzer, homo­se­xu­eller und anderer „fremder“ Lebens­welten in den frühen 1980er Jahren für die Geis­tes­wis­sen­schaften ausging. Durch diese Kritik wurde eine Viel­falt mensch­li­cher Lebens­weisen sichtbar, mit der sich zahl­lose Gewiss­heiten der bishe­rigen Forschungs­tra­di­tion radikal in Frage stellen ließen. Das Objek­ti­vi­täts­ideal etwa verlor in seiner bishe­rigen Konstruk­tion seine Plau­si­bi­lität, weil sich der vermeint­liche neutrale Standort der Wissen­schaften als nicht weniger parti­kular erwies als derje­nige anderer Posi­tionen. Die Offen­le­gung der eigenen Prämissen und Erkennt­nis­in­ter­essen sowie metho­di­sche Korrekt­heit in der Argu­men­ta­tion gelten seitdem als Ausweis wissen­schaft­li­cher Objektivität.

Ähnli­ches galt für den Verste­hens­be­griff. Statt dem Postulat einer Einheit aller mensch­li­cher Erfah­rung rückte ein neuer Begriff in das Zentrum der Diskus­sion: der Begriff der „Fremd­heit“ und mit ihm ein anderes Verste­hens­kon­zept, das inner­halb der Ethno­logie entstanden war. Für sie hatte sich das erkennt­nis­theo­re­ti­sche Problem, dass nicht alle Menschen über einen geteilten Erfah­rungs­raum verfügen, früher und in schär­ferer Weise gestellt. „What happens to verstehen when einfühlen disap­pears?“, hatte der ameri­ka­ni­sche Ethno­loge Clif­ford Geertz die erkennt­nis­theo­re­ti­sche Heraus­for­de­rung formu­liert, die aus der Einsicht entstand, dass sich in der Feld­for­schung außer­halb Europas ein Einfühlen in fremde Kulturen endgültig als unmög­lich erwiesen hatte. Doch daraus ergab sich für Geertz nicht zugleich die Unmög­lich­keit, das „Fremde“ zu verstehen. Viel­mehr entwarf er ein anderes Verste­hens­kon­zept – eine Hermeu­neutik des Fremd­ver­ste­hens –, die schließ­lich ähnlich grund­le­gende Bedeu­tung erlangte wie die Konzep­tion von Droysen und Dilthey im 19. Jahr­hun­dert: Sie bildete einen der wesent­li­chen Impulse bei der grund­le­genden Refor­mu­lie­rung der Geis­tes­wis­sen­schaften in den 1980er Jahren unter dem Begriff der Kulturwissenschaften.

Herme­neutik des Fremdverstehens

Geertz suchte den Ausweg aus dem aufge­wor­fenen Problem in einer doppelten Haltung, die sich einer­seits der unüber­brück­baren Diffe­renz bewusst sein sollte, die Ethno­logen und die von ihnen zu verste­henden Kulturen trennte, ande­rer­seits aber auf den Anspruch auf Verstehen nicht verzich­tete. Er sah darin keinen Wider­spruch, da die Bedeu­tung mensch­li­cher Erleb­nisse und Akti­vi­täten nicht allein in seinem Inneren entstehe, sondern jegli­ches Erfahren, Fühlen, Äußern und Tun immer auch kultu­relle Symbole und gesell­schaft­liche Prak­tiken aufrufe. Inso­fern müsse das Verstehen nicht auf fremde psychi­sche Zustände ausge­richtet sein, sondern auf das Erschließen dieser kultu­rellen Kontexte mensch­li­cher Hand­lungen und Erfah­rungen. Dies setze kein Nach­fühlen voraus. Notwendig sei dafür vor allem eine bestimmte Beob­ach­ter­hal­tung, aus der Verstehen auch aus emotio­naler Distanz möglich werde: ein genauer Blick auf das zu verste­hende Phänomen, das nicht vorschnell auf Bekanntes und eigene Erfah­rungen zurück­ge­führt werden soll; eine beson­dere Aufmerk­sam­keit für Details, Andeu­tungen und Uner­klär­li­ches; ein Bewusst­sein dafür, dass die eigene Inter­pre­ta­tion niemals endgültig sein kann, sondern stets für Nach­fragen und Erwi­de­rungen offen­bleiben muss; und die Aner­ken­nung der grund­sätz­li­chen Viel­deu­tig­keit mensch­li­chen Handelns und Erle­bens, was insbe­son­dere die respekt­volle Ausein­an­der­set­zung mit den zu verste­henden Menschen und ihren Äuße­rungen und Selbst­deu­tungen umfasst. Verstehen bildete für Geertz damit keinen Vorgang, in dem Erfah­rungen im Anderen wieder­ge­funden und damit stabi­li­siert werden konnten, sondern gerade die Infra­ge­stel­lung eigener Ansichten und Empfin­dungen durch die Bewusst­ma­chung der Diffe­renz zwischen sich und den „Fremden“. Statt Erfah­rungen zu essen­tia­li­sieren, wollte er die unter­schied­li­chen Inter­pre­ta­tionen der Welt für Kommu­ni­ka­tion offen­halten – und dies für beide Seiten: Auch für die „Fremden“ sollte die eigene Perspek­tive Angebot zur Refle­xion ihrer Erfah­rungen sein, statt sie wie im 19. Jahr­hun­dert zum „wahren Kern der Erkenntnis“ zu verklären.

Orien­tie­rungs­hilfen für den produk­tiven gesell­schaft­li­chen Streit

Natür­lich betreibt niemand ethno­lo­gi­sche Feld­for­schung, der sich in die aktu­elle Sexis­mus­de­batte einmischt. Doch im Wissen um die Entwick­lung des Verste­hens­kon­zeptes lässt sich nicht nur darauf beharren, dass das Problem von sexis­ti­scher Diskri­mi­nie­rung und Gewalt auch ohne eigene Erleb­nisse verstanden werden kann. Es bietet auch Orien­tie­rung, aus welcher Haltung sich Nicht-Betroffene produktiv an der Diskus­sion betei­ligen können: Im Bewusst­sein um die „Fremd­heit“ der dabei verhan­delten Erfah­rungen; mit der Bereit­schaft, eigene Posi­tionen, Einschät­zungen und Blick­weisen zu hinter­fragen; mit Respekt gegen­über den Wahr­neh­mungen und Äuße­rungen der Anderen – aber auch mit dem Selbst­be­wusst­sein, dass der eigene Blick auch ihnen etwas anzu­bieten hat.

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Diese Haltung ist in der Diskus­sion bereits präsent, etwa in der von Männern wie Frauen vorge­brachten Frage, ob das breite Spek­trum an unter­schied­li­chen Erfah­rungen, die derzeit unter dem Schlag­wort „Me too“ verhan­delt werden, wirk­lich Ausdruck einer gemein­samen „rape culture“ ist: Besteht nicht ein kate­go­rialer Unter­schied zwischen sexis­ti­schen Sprü­chen, gegen die sich Frauen wehren können, und sexu­eller Gewalt, also einem massiven Verbre­chen, das solches Wehren gerade mehr nicht zuläßt? Nicht nur das Spre­chen aus eigener Erfah­rung, auch solche Fragen, die von außen gestellt werden, sind wichtig. Sie können Betrof­fenen bei der Einord­nung des Erlebten helfen. Vor allem aber erlauben erst sie gesell­schaft­liche Kommu­ni­ka­tion über den engen Kreis eigener Anschau­ungen hinaus. Mit dem Wissen um die erkennt­nis­theo­re­ti­schen Grund­lagen des Verste­hens lassen sie sich viel­leicht selbst­be­wußter stellen: Auch ohne Nach­fühlen bleibt Verstehen möglich und lässt sich Wich­tiges zur Diskus­sion über Gewalt und Diskri­mi­nie­rung beitragen.