Handelt Gegenwartsliteratur von Machtmissbrauch, Sexismus und sexualisierter Gewalt, gilt sie als „#MeToo-Literatur“. Diese Bezeichnung hat ihre Fallstricke. Man kann sich aber fragen: Was leistet Literatur für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt?

  • Cornelia Pierstorff

    Cornelia Pierstorff ist Literaturwissenschaftlerin und arbeitet als Oberassistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich. In ihrem aktuellen Projekt beschäftigt sie sich mit sexualisierter Gewalt in der Literatur seit den 1970er Jahren.

Als Laura Leupi beim dies­jäh­rigen Bach­mann­preis in Klagen­furt das Alphabet sexua­li­sierter Gewalt vorträgt, läuft die Diskus­sion heiß. In alpha­be­ti­scher Ordnung rahmt, unter­bricht und ordnet eine Liste aus diskur­siven Schlag­wör­tern die Erzäh­lung einer Verge­wal­ti­gung: C steht für Catcal­ling, D für Dickpic und Dunkel­ziffer, V für Victim Blaming. Schnell wird klar, dass es um die Möglich­keit der Darstel­lung selbst geht, um das Neben­ein­ander oder gar die Unver­ein­bar­keit von Diskurs und indi­vi­du­eller Erfah­rung, aber eben auch von Diskurs und Lite­ratur. Nicht zuletzt geht es um die Frage danach, welchen Beitrag Lite­ratur in der gesell­schaft­li­chen Ausein­an­der­set­zung mit sexua­li­sierter Gewalt bieten kann. Leupis Perfor­mance mit Publi­kums­an­spra­chen markiert diesen Anspruch sehr deutlich. 

Laura Leupi trägt „Das ABC der sexua­li­sierten Gewalt“ vor. Quelle: www.bachmannpreis.orf.at

Wenig über­ra­schend gestaltet sich die Diskus­sion der Jury. Obwohl sie sich auf die lite­ra­ri­sche Form beziehen soll, verläuft sie entlang poli­ti­scher Linien. Selbst die Argu­mente des Kriti­kers Philipp Tingler um die vermeint­liche formale Konven­tio­na­lität des Textes wirken vorge­schoben. Es scheint, als würden die diskur­siven Schlag­wörter eine unmit­tel­bare Abwehr­re­ak­tion hervor­rufen, wie das ganz ähnlich bei der Debatte um gender­sen­sible Sprache regel­mäßig beob­achtet werden kann. Nicht den Schlag­worten, sondern Leupis Text unter­stellt Tingler Ideo­logie. Was er jedoch bewusst über­geht, ist die Art und Weise, wie der Text den Diskurs anspielt und sich dezi­diert als Lite­ratur zu ihm in Bezie­hung setzt, so zumin­dest argu­men­tieren auch andere Jury­mit­glieder. Zuge­spitzt könnte man sagen: Tinglers Reak­tion erfüllt genau die Pointe des Textes. Was bedeutet das für lite­ra­ri­sche Ausein­an­der­set­zungen mit sexua­li­sierter Gewalt? Ohne Zweifel: Der Bezug zum Diskurs ist notwendig für eine Lite­ratur, die mit dem Anspruch auftritt, gesell­schaft­lich rele­vant zu sein – die Frage ist nur, wie Lite­ratur den Bezug genau gestaltet. 

Verkürzter Diskurs und Lite­ratur als Medium der Erkenntnis

Die Jury­dis­kus­sion um Leupis Perfor­mance zeigt, wie sehr der öffent­liche Diskurs über sexua­li­sierte Gewalt verkürzt ist. Zu bloßen Schlag­wör­tern verkommen, sind seine zentralen Begriffe vor allem affektiv besetzt. Sie lösen unmit­telbar Bewer­tungen und Posi­tio­nie­rungen aus, wodurch sie keine Erkenntnis gene­rieren können. Leupi spielt genau diese diskur­sive Verkür­zung aus und macht sie zugleich beob­achtbar. So lässt sie ein Grund­pro­blem zutage treten: Die Erkennt­nisse aus den rele­vanten Spezi­al­dis­kursen wie der Sozio­logie, der Rechts­wis­sen­schaften oder der Psycho­logie spielen im öffent­li­chen Diskurs eine zu geringe Rolle; sie können nicht erfolg­reich in diesen über­setzt werden. Schuld daran ist nicht zuletzt auch die spezi­fi­sche Form, in der sexua­li­sierte Gewalt in der Regel über­haupt zum öffent­li­chen Thema wird, nämlich als Skandal. Dieser Umstand ist ein sehr zwei­schnei­diges Schwert. Schließ­lich ist jeder Fall, der an die Öffent­lich­keit gelangt und dem Gehör geschenkt wird, ein nicht zu vernach­läs­si­gender Erfolg im Kampf gegen sexua­li­sierte Gewalt. Gleich­zeitig erfüllen diese öffent­li­chen Skan­dale eine kathar­ti­sche Funk­tion, indem sie Aufmerk­sam­keit und Affekte bündeln, zur Partei­nahme ebenso wie zu Projek­tionen einladen – und damit eben­falls verkür­zend wirken. Aus diesem Grund ermög­li­chen öffent­lich ausge­tra­gene Fälle, von der struk­tu­rellen Dimen­sion des Problems abzu­lenken, statt ihr je gerecht werden zu können. Der Einzel­fall verstellt die Sicht auf die Zusam­men­hänge; Verkür­zung und Exter­na­li­sie­rung tun ihr übriges. Genau an diesem Punkt kann Lite­ratur als Medium der Erkenntnis ansetzen und danach fragen, wie sexua­li­sierte Gewalt zu den Bedin­gungen des Diskurses über­haupt erkannt werden kann. 

Wie Bettina Wilperts Roman Nichts, was uns passiert von 2018 kann Lite­ratur diese Frage verhan­deln, indem sie verschie­dene Perspek­tiven und verschie­dene Diskurse zusam­men­bringt, womit sie sich der diskur­siven Verkür­zung wider­setzt. Weil das Verständnis von Gewalt in der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts ungleich komplexer geworden ist, aber auch weil die post­bür­ger­liche Gesell­schaft Normen abge­baut und vermehrt Verant­wor­tung an das Indi­vi­duum dele­giert hat, sind verschie­dene Wahr­neh­mungen und Bewer­tungen unver­meidbar. Wilperts Roman trägt diesem Umstand Rech­nung, indem er zwei verschie­dene Perspek­tiven montiert: die der Leip­ziger Slavistik-Absolventin Anna und die des Dokto­randen Jonas, dem sie eine Verge­wal­ti­gung in einer Party­nacht vorwirft. Beide Perspek­tiven sind glei­cher­maßen unzu­ver­lässig. Es geht nicht darum, wer von den beiden lügt, es geht um neben­ein­ander bestehende, sozial gestützte Wahr­neh­mungen. Der Roman lotet aus, welche Rolle verschie­dene Diskurse dabei spielen, ein Ereignis als sexua­li­sierten Gewaltakt zu erkennen und anzuerkennen. 

#MeToo-Literatur oder #MeToo und Literatur?

Wird Gegen­warts­li­te­ratur als #MeToo-Literatur bezeichnet, hat das durchaus proble­ma­ti­sche Impli­ka­tionen. Kein Genre, sondern eine akti­vis­ti­sche Haltung ist damit bezeichnet. Von #MeToo-Literatur zu spre­chen, weist dem lite­ra­ri­schen Text eine ganz bestimmte Posi­tion in einer Diskurs­for­ma­tion zu und spricht ihm so ab, Perspek­tiven inte­grieren und beob­achten zu können. Man könnte sogar annehmen, die Lite­ratur sei dem Diskurs nach­ge­ordnet. In manchen Fällen mag das sogar so sein und im schlech­testen Fall verkommt der lite­ra­ri­sche Text dabei entweder zu einer Art Schlüs­sel­roman, der eben­falls den Diskurs­stra­te­gien der Skan­da­li­sie­rung folgt und reale Personen oder Insti­tu­tionen anpran­gert, ohne sich selbst angreifbar zu machen. Oder er nutzt den Diskurs ander­weitig als Verkaufs­stra­tegie – ange­sichts der posi­tiven Effekte, die eine breite Ausein­an­der­set­zung mit dem Thema mit sich bringt, eine Ambi­va­lenz, die Lite­ratur aushalten muss und kann. Auch diese Möglich­keit denken lite­ra­ri­sche Texte bereits mit, wie ein Blick auf Mareike Fall­wickls Roman Das Licht ist hier viel heller von 2019 zeigt. Sie lässt einen ehema­ligen Best­sel­ler­autor auftreten, der in einer Schreib­krise die privaten Briefe einer fremden Frau über ihre Gewalt­er­fah­rung unter seinem eigenen Namen veröf­fent­licht. An diesem Beispiel wird deut­lich, dass Lite­ratur in ihre Beob­ach­tung zweiter Ordnung die Lite­ratur selbst einschließen kann. Denn schluss­end­lich kommen lite­ra­ri­sche Ausein­an­der­set­zungen mit sexua­li­sierter Gewalt um eine inter­tex­tu­elle Dimen­sion nicht herum. Jede Darstel­lung muss sich zwangs­weise zu den kultu­rell tradierten Bildern, Szenen und Narra­tiven in Bezie­hung setzen, die nicht nur die Lite­ratur, sondern auch das Spre­chen und Denken über sexua­li­sierte Gewalt mit geprägt haben.  

Wie spre­chen?

Lite­ratur beob­achtet nicht nur bestimmte Diskurs­for­ma­tionen sexua­li­sierter Gewalt, sie inter­ve­niert in sie und setzt nicht selten zuerst beim Spre­chen an. Damit trägt sie der komplexen Bezie­hung sexua­li­sierter Gewalt und dem Spre­chen über sie Rech­nung. Denn dass die Erfah­rung sexua­li­sierter Gewalt mit einer sekun­dären Gewalt einher­geht, die darin besteht, zum Verstummen gebracht zu werden, ist eine Dynamik, die mit dem Philomela-Mythos in der kultu­rellen Imagi­na­tion fest veran­kert und immer wieder neu aktua­li­siert worden ist. Aber auch das Spre­chen ist nicht bloß ein positiv besetzter Akt der Selbst­er­mäch­ti­gung: Er zieht in der Regel eben­falls sekun­däre Gewalt nach sich, macht also verletzbar. Ein Beispiel ist der bereits erwähnte Roman von Bettina Wilpert, der eine juris­ti­sche Situa­tion von Aussage gegen Aussage in seine Erzähl­struktur über­nimmt. Ein deut­lich früheres Beispiel sind Leonie Ossow­skis komple­mentär ange­legte Erzäh­lungen: Von Gewalt keine Rede (1989) und Von Gewalt ist die Rede (1992). Auch sie thema­ti­siert die gesell­schaft­liche Dimen­sion sexua­li­sierter Gewalt durch das Spre­chen über sie. Dabei formu­liert die Substi­tu­tion im Titel einen klaren Anspruch an die Lite­ratur, die Gewalt zur Sprache zu bringen. Dass Ossow­skis verdop­pelte Titel das Spre­chen über sexua­li­sierte Gewalt ins Zentrum stellen, ist durchaus program­ma­tisch zu verstehen und setzt sich fort bis hin zu Maria Schr­a­ders Film She Said von 2022, der von den Recher­chen der Redak­tion der New York Times im Fall Harvey Wein­stein handelt. 

Explizit in seine Program­matik über­nimmt diese gesell­schaft­liche Dimen­sion des Sprech­akts der Band „Sagte sie“, den Lina Muzur konzi­piert und 2018 heraus­ge­geben hat. Sie versam­melt darin „17 Erzäh­lungen über Sex und Macht“, wie der Unter­titel lautet, und zwar nur von Autorinnen, um, wie es im Vorwort heißt „ausschließ­lich ihre Sicht der Dinge“ zu erzählen. Was auf den ersten Blick etwas verein­fa­chend anmutet, nimmt eine Korrektur vor, die die Dyna­miken des öffent­li­chen Diskurses über­haupt erst vor Augen führt: Ihre Geschichten treffen nicht auf sekun­däre Gewalt, ihnen wird keine mäch­ti­gere Geschichte entge­gen­ge­stellt. Trotzdem formt sich in den Erzäh­lungen keines­wegs ein Chor der Einstim­mig­keit. Viel zu hete­rogen sind die Posi­tionen des Spre­chens, die Perspek­tiven und die Phäno­mene, von denen sie erzählen. Und auch in diesem Band bleibt das Spre­chen proble­ma­tisch: Es geht um die inter­na­li­sierten Zweifel, Vorwürfe und Anfein­dungen, es geht um Unaus­ge­spro­chenes zwischen den Gene­ra­tionen und es geht um die Macht­lo­sig­keit, wenn jemand die eigene Bezie­hung trotz häus­li­cher Gewalt vertei­digt. Wie spre­chen, lautet die Kern­frage in vielen dieser Texte, und so verwun­dert es nicht, dass auch in Leupis Alphabet der Buch­stabe S „für Spre­chen. Und Schweigen“ steht. Das mag wie ein Wider­spruch klingen, ist aber keiner. Beides, das Spre­chen wie das Schweigen, können gesell­schaft­lich aufer­legt, insti­tu­tio­na­li­siert und gewalt­voll erzwungen sein. Und beiden Akten, dem Spre­chen wie dem Schweigen, wohnt ein wider­stän­diges Moment inne. 

Soli­da­rität als Fluchtpunkt

Beim Spre­chen bleibt die Lite­ratur aber nicht stehen. S steht bei Leupi nicht nur für Spre­chen und Schweigen, sondern auch für Soli­da­rität. Eben eine solche Soli­da­rität ist der Flucht­punkt vieler lite­ra­ri­scher Darstel­lungen sexua­li­sierter Gewalt. In Libuše Moní­kovás Erst­ling Eine Schä­di­gung von 1981 steht die Freund­schaft der Studentin und Stra­ßen­bahn­fah­rerin Jana mit der Künst­lerin Mara im Mittel­punkt der Erzäh­lung und verla­gert so den Fokus von Gewalt auf Soli­da­rität. In Mareike Fall­wickls Pandemie-Roman Die Wut, die bleibt von 2022 hält ausge­rechnet die Neben­hand­lung um die Teenie-Tochter Lola der düsteren, aber genau darin erhel­lenden Perspek­tive auf Fami­li­en­struk­turen und Care Arbeit eine opti­mis­ti­sche Perspek­tive der Soli­da­rität entgegen. Diese besteht aber nicht in den Taten der fünf jungen Frauen, die ihren Körper im Kampf­sport stählen, um sich dann auf grau­same Art und Weise in Selbst­justiz zu üben. Denn der Roman bietet keine Lesart an, in der die brutalen Rache­akte ein ernst­zu­neh­mendes, posi­tives Angebot wären. Viel­mehr ist die Soli­da­rität ein Effekt des Romans, indem er an genau dem Punkt ansetzt, der in den Fall­sta­tis­tiken sexua­li­sierter Gewalt mit Ohnmacht belegt ist: der geringen Erfolgs­aus­sicht auf Straf­ver­fol­gung, geschweige denn Verur­tei­lung. Diese Ohnmacht fängt der Roman auf und verschafft ihr Geltung im akti­vie­renden Affekt der Wut, mit der niemand allein ist.

Was haben diese Romane gemeinsam? Sie erzählen gleich­zeitig von Gewalt und von Soli­da­rität, ohne das eine dem anderen unter­zu­ordnen. Sexua­li­sierte Gewalt geht nicht darin auf, Plot-Device für eine Held*innenerzählung zu sein; sie wird um ihrer selbst willen darge­stellt. Umge­kehrt bleibt aber auch die Soli­da­rität nicht auf die Gewalt bezogen, sie löst sich von ihr und über­schreitet ihren Einfluss. Die Romane gestalten damit aktiv Welt. Dabei ersetzen nicht wenige von ihnen auch kurzer­hand das Leit­kon­zept der hete­ro­nor­ma­tiven Liebes­be­zie­hung durch soli­da­ri­sche Freund­schaften. Die Perspek­tive, die Lite­ratur anbietet, geht damit über Kritik und Refle­xion hinaus. Es geht ihr nicht um einzelne Taten oder Täter*innen, sondern um Struk­turen der Gewalt – und um ihre soli­da­ri­schen Alternativen. 

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