Als Laura Leupi beim diesjährigen Bachmannpreis in Klagenfurt das Alphabet sexualisierter Gewalt vorträgt, läuft die Diskussion heiß. In alphabetischer Ordnung rahmt, unterbricht und ordnet eine Liste aus diskursiven Schlagwörtern die Erzählung einer Vergewaltigung: C steht für Catcalling, D für Dickpic und Dunkelziffer, V für Victim Blaming. Schnell wird klar, dass es um die Möglichkeit der Darstellung selbst geht, um das Nebeneinander oder gar die Unvereinbarkeit von Diskurs und individueller Erfahrung, aber eben auch von Diskurs und Literatur. Nicht zuletzt geht es um die Frage danach, welchen Beitrag Literatur in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt bieten kann. Leupis Performance mit Publikumsansprachen markiert diesen Anspruch sehr deutlich.

Laura Leupi trägt „Das ABC der sexualisierten Gewalt“ vor. Quelle: www.bachmannpreis.orf.at
Wenig überraschend gestaltet sich die Diskussion der Jury. Obwohl sie sich auf die literarische Form beziehen soll, verläuft sie entlang politischer Linien. Selbst die Argumente des Kritikers Philipp Tingler um die vermeintliche formale Konventionalität des Textes wirken vorgeschoben. Es scheint, als würden die diskursiven Schlagwörter eine unmittelbare Abwehrreaktion hervorrufen, wie das ganz ähnlich bei der Debatte um gendersensible Sprache regelmäßig beobachtet werden kann. Nicht den Schlagworten, sondern Leupis Text unterstellt Tingler Ideologie. Was er jedoch bewusst übergeht, ist die Art und Weise, wie der Text den Diskurs anspielt und sich dezidiert als Literatur zu ihm in Beziehung setzt, so zumindest argumentieren auch andere Jurymitglieder. Zugespitzt könnte man sagen: Tinglers Reaktion erfüllt genau die Pointe des Textes. Was bedeutet das für literarische Auseinandersetzungen mit sexualisierter Gewalt? Ohne Zweifel: Der Bezug zum Diskurs ist notwendig für eine Literatur, die mit dem Anspruch auftritt, gesellschaftlich relevant zu sein – die Frage ist nur, wie Literatur den Bezug genau gestaltet.
Verkürzter Diskurs und Literatur als Medium der Erkenntnis
Die Jurydiskussion um Leupis Performance zeigt, wie sehr der öffentliche Diskurs über sexualisierte Gewalt verkürzt ist. Zu bloßen Schlagwörtern verkommen, sind seine zentralen Begriffe vor allem affektiv besetzt. Sie lösen unmittelbar Bewertungen und Positionierungen aus, wodurch sie keine Erkenntnis generieren können. Leupi spielt genau diese diskursive Verkürzung aus und macht sie zugleich beobachtbar. So lässt sie ein Grundproblem zutage treten: Die Erkenntnisse aus den relevanten Spezialdiskursen wie der Soziologie, der Rechtswissenschaften oder der Psychologie spielen im öffentlichen Diskurs eine zu geringe Rolle; sie können nicht erfolgreich in diesen übersetzt werden. Schuld daran ist nicht zuletzt auch die spezifische Form, in der sexualisierte Gewalt in der Regel überhaupt zum öffentlichen Thema wird, nämlich als Skandal. Dieser Umstand ist ein sehr zweischneidiges Schwert. Schließlich ist jeder Fall, der an die Öffentlichkeit gelangt und dem Gehör geschenkt wird, ein nicht zu vernachlässigender Erfolg im Kampf gegen sexualisierte Gewalt. Gleichzeitig erfüllen diese öffentlichen Skandale eine kathartische Funktion, indem sie Aufmerksamkeit und Affekte bündeln, zur Parteinahme ebenso wie zu Projektionen einladen – und damit ebenfalls verkürzend wirken. Aus diesem Grund ermöglichen öffentlich ausgetragene Fälle, von der strukturellen Dimension des Problems abzulenken, statt ihr je gerecht werden zu können. Der Einzelfall verstellt die Sicht auf die Zusammenhänge; Verkürzung und Externalisierung tun ihr übriges. Genau an diesem Punkt kann Literatur als Medium der Erkenntnis ansetzen und danach fragen, wie sexualisierte Gewalt zu den Bedingungen des Diskurses überhaupt erkannt werden kann.
Wie Bettina Wilperts Roman Nichts, was uns passiert von 2018 kann Literatur diese Frage verhandeln, indem sie verschiedene Perspektiven und verschiedene Diskurse zusammenbringt, womit sie sich der diskursiven Verkürzung widersetzt. Weil das Verständnis von Gewalt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ungleich komplexer geworden ist, aber auch weil die postbürgerliche Gesellschaft Normen abgebaut und vermehrt Verantwortung an das Individuum delegiert hat, sind verschiedene Wahrnehmungen und Bewertungen unvermeidbar. Wilperts Roman trägt diesem Umstand Rechnung, indem er zwei verschiedene Perspektiven montiert: die der Leipziger Slavistik-Absolventin Anna und die des Doktoranden Jonas, dem sie eine Vergewaltigung in einer Partynacht vorwirft. Beide Perspektiven sind gleichermaßen unzuverlässig. Es geht nicht darum, wer von den beiden lügt, es geht um nebeneinander bestehende, sozial gestützte Wahrnehmungen. Der Roman lotet aus, welche Rolle verschiedene Diskurse dabei spielen, ein Ereignis als sexualisierten Gewaltakt zu erkennen und anzuerkennen.
#MeToo-Literatur oder #MeToo und Literatur?
Wird Gegenwartsliteratur als #MeToo-Literatur bezeichnet, hat das durchaus problematische Implikationen. Kein Genre, sondern eine aktivistische Haltung ist damit bezeichnet. Von #MeToo-Literatur zu sprechen, weist dem literarischen Text eine ganz bestimmte Position in einer Diskursformation zu und spricht ihm so ab, Perspektiven integrieren und beobachten zu können. Man könnte sogar annehmen, die Literatur sei dem Diskurs nachgeordnet. In manchen Fällen mag das sogar so sein und im schlechtesten Fall verkommt der literarische Text dabei entweder zu einer Art Schlüsselroman, der ebenfalls den Diskursstrategien der Skandalisierung folgt und reale Personen oder Institutionen anprangert, ohne sich selbst angreifbar zu machen. Oder er nutzt den Diskurs anderweitig als Verkaufsstrategie – angesichts der positiven Effekte, die eine breite Auseinandersetzung mit dem Thema mit sich bringt, eine Ambivalenz, die Literatur aushalten muss und kann. Auch diese Möglichkeit denken literarische Texte bereits mit, wie ein Blick auf Mareike Fallwickls Roman Das Licht ist hier viel heller von 2019 zeigt. Sie lässt einen ehemaligen Bestsellerautor auftreten, der in einer Schreibkrise die privaten Briefe einer fremden Frau über ihre Gewalterfahrung unter seinem eigenen Namen veröffentlicht. An diesem Beispiel wird deutlich, dass Literatur in ihre Beobachtung zweiter Ordnung die Literatur selbst einschließen kann. Denn schlussendlich kommen literarische Auseinandersetzungen mit sexualisierter Gewalt um eine intertextuelle Dimension nicht herum. Jede Darstellung muss sich zwangsweise zu den kulturell tradierten Bildern, Szenen und Narrativen in Beziehung setzen, die nicht nur die Literatur, sondern auch das Sprechen und Denken über sexualisierte Gewalt mit geprägt haben.
Wie sprechen?
Literatur beobachtet nicht nur bestimmte Diskursformationen sexualisierter Gewalt, sie interveniert in sie und setzt nicht selten zuerst beim Sprechen an. Damit trägt sie der komplexen Beziehung sexualisierter Gewalt und dem Sprechen über sie Rechnung. Denn dass die Erfahrung sexualisierter Gewalt mit einer sekundären Gewalt einhergeht, die darin besteht, zum Verstummen gebracht zu werden, ist eine Dynamik, die mit dem Philomela-Mythos in der kulturellen Imagination fest verankert und immer wieder neu aktualisiert worden ist. Aber auch das Sprechen ist nicht bloß ein positiv besetzter Akt der Selbstermächtigung: Er zieht in der Regel ebenfalls sekundäre Gewalt nach sich, macht also verletzbar. Ein Beispiel ist der bereits erwähnte Roman von Bettina Wilpert, der eine juristische Situation von Aussage gegen Aussage in seine Erzählstruktur übernimmt. Ein deutlich früheres Beispiel sind Leonie Ossowskis komplementär angelegte Erzählungen: Von Gewalt keine Rede (1989) und Von Gewalt ist die Rede (1992). Auch sie thematisiert die gesellschaftliche Dimension sexualisierter Gewalt durch das Sprechen über sie. Dabei formuliert die Substitution im Titel einen klaren Anspruch an die Literatur, die Gewalt zur Sprache zu bringen. Dass Ossowskis verdoppelte Titel das Sprechen über sexualisierte Gewalt ins Zentrum stellen, ist durchaus programmatisch zu verstehen und setzt sich fort bis hin zu Maria Schraders Film She Said von 2022, der von den Recherchen der Redaktion der New York Times im Fall Harvey Weinstein handelt.
Explizit in seine Programmatik übernimmt diese gesellschaftliche Dimension des Sprechakts der Band „Sagte sie“, den Lina Muzur konzipiert und 2018 herausgegeben hat. Sie versammelt darin „17 Erzählungen über Sex und Macht“, wie der Untertitel lautet, und zwar nur von Autorinnen, um, wie es im Vorwort heißt „ausschließlich ihre Sicht der Dinge“ zu erzählen. Was auf den ersten Blick etwas vereinfachend anmutet, nimmt eine Korrektur vor, die die Dynamiken des öffentlichen Diskurses überhaupt erst vor Augen führt: Ihre Geschichten treffen nicht auf sekundäre Gewalt, ihnen wird keine mächtigere Geschichte entgegengestellt. Trotzdem formt sich in den Erzählungen keineswegs ein Chor der Einstimmigkeit. Viel zu heterogen sind die Positionen des Sprechens, die Perspektiven und die Phänomene, von denen sie erzählen. Und auch in diesem Band bleibt das Sprechen problematisch: Es geht um die internalisierten Zweifel, Vorwürfe und Anfeindungen, es geht um Unausgesprochenes zwischen den Generationen und es geht um die Machtlosigkeit, wenn jemand die eigene Beziehung trotz häuslicher Gewalt verteidigt. Wie sprechen, lautet die Kernfrage in vielen dieser Texte, und so verwundert es nicht, dass auch in Leupis Alphabet der Buchstabe S „für Sprechen. Und Schweigen“ steht. Das mag wie ein Widerspruch klingen, ist aber keiner. Beides, das Sprechen wie das Schweigen, können gesellschaftlich auferlegt, institutionalisiert und gewaltvoll erzwungen sein. Und beiden Akten, dem Sprechen wie dem Schweigen, wohnt ein widerständiges Moment inne.
Solidarität als Fluchtpunkt
Beim Sprechen bleibt die Literatur aber nicht stehen. S steht bei Leupi nicht nur für Sprechen und Schweigen, sondern auch für Solidarität. Eben eine solche Solidarität ist der Fluchtpunkt vieler literarischer Darstellungen sexualisierter Gewalt. In Libuše Moníkovás Erstling Eine Schädigung von 1981 steht die Freundschaft der Studentin und Straßenbahnfahrerin Jana mit der Künstlerin Mara im Mittelpunkt der Erzählung und verlagert so den Fokus von Gewalt auf Solidarität. In Mareike Fallwickls Pandemie-Roman Die Wut, die bleibt von 2022 hält ausgerechnet die Nebenhandlung um die Teenie-Tochter Lola der düsteren, aber genau darin erhellenden Perspektive auf Familienstrukturen und Care Arbeit eine optimistische Perspektive der Solidarität entgegen. Diese besteht aber nicht in den Taten der fünf jungen Frauen, die ihren Körper im Kampfsport stählen, um sich dann auf grausame Art und Weise in Selbstjustiz zu üben. Denn der Roman bietet keine Lesart an, in der die brutalen Racheakte ein ernstzunehmendes, positives Angebot wären. Vielmehr ist die Solidarität ein Effekt des Romans, indem er an genau dem Punkt ansetzt, der in den Fallstatistiken sexualisierter Gewalt mit Ohnmacht belegt ist: der geringen Erfolgsaussicht auf Strafverfolgung, geschweige denn Verurteilung. Diese Ohnmacht fängt der Roman auf und verschafft ihr Geltung im aktivierenden Affekt der Wut, mit der niemand allein ist.
Was haben diese Romane gemeinsam? Sie erzählen gleichzeitig von Gewalt und von Solidarität, ohne das eine dem anderen unterzuordnen. Sexualisierte Gewalt geht nicht darin auf, Plot-Device für eine Held*innenerzählung zu sein; sie wird um ihrer selbst willen dargestellt. Umgekehrt bleibt aber auch die Solidarität nicht auf die Gewalt bezogen, sie löst sich von ihr und überschreitet ihren Einfluss. Die Romane gestalten damit aktiv Welt. Dabei ersetzen nicht wenige von ihnen auch kurzerhand das Leitkonzept der heteronormativen Liebesbeziehung durch solidarische Freundschaften. Die Perspektive, die Literatur anbietet, geht damit über Kritik und Reflexion hinaus. Es geht ihr nicht um einzelne Taten oder Täter*innen, sondern um Strukturen der Gewalt – und um ihre solidarischen Alternativen.