Mehr als menschlich: Bruno Latour hinterlässt ein ungewöhnliches Werk, das mitten in die Frage nach der Gemachtheit von wissenschaftlichen Wahrheiten führt. Er entfaltete eine Philosophie des Relationalen, das rein menschliche Beziehungen übersteigt.

Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Menschen und Nicht­men­schen. Zum Tod von Bruno Latour
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Wie kommen wissen­schaft­liche Wahr­heiten in die Welt? Werden sie schritt­weise aus dem immer weiter geöff­neten Buch der Natur entborgen? Oder entstehen und entwi­ckeln sie sich bisweilen zufällig, und zudem in auffal­lender Abhän­gig­keit von mensch­li­chen Verhält­nissen? In den 1970er Jahren gewann letz­tere Ansicht zuneh­mend an Einfluss. Der wieder­ent­deckte polni­sche Bakte­rio­loge und Erkennt­nis­theo­re­tiker Ludwik Fleck (Entste­hung und Entwick­lung einer wissen­schaft­li­chen Tatsache, 1936/1978), der briti­sche Sozio­loge David Bloor und sein sozi­al­kon­struk­ti­vis­ti­sches „Strong Programme“ der Wissen­schafts­so­zio­logie (1979) oder der öster­rei­chi­sche Philo­soph Paul Feyer­abend und sein Schlachtruf „anything goes“ (Against Method, 1975) markierten einen tief­grei­fenden Wandel hin zu histo­ri­schen und sozio­lo­gi­schen Unter­su­chungen der Genese wissen­schaft­li­cher Erkenntnisse.

Zufälle

Auch die Geschichte der wissen­schaft­li­chen Anfänge des damals noch nicht drei­ßig­jäh­rigen fran­zö­si­schen Theo­logen und Ethno­logen Bruno Latour, der diesen Denk­wandel seiner­seits entschei­dend voran­treiben sollte, ist selbst einem gewissen Zufall zu verdanken. Auf einer Konfe­renz in Berkeley 1976 lernte Latour, der zuvor in Abidjan (Elfen­bein­küste) als Anthro­po­loge tätig war, den Sozio­logen Steve Woolgar kennen, mit dem er, offen­sicht­lich kurz entschlossen, eine zwei­jäh­rige ethno­gra­phi­sche Feld­for­schung im Salk Insti­tute for Biolo­gical Studies in La Jolla (Ca.) unter­nahm, ohne sich vorher näher mit Biologie und biolo­gi­scher Forschung beschäf­tigt zu haben. Schon 1979 publi­zierten die beiden ihre Resul­tate im bahn­bre­chenden Buch Labo­ra­tory Life mit dem spre­chenden Unter­titel The Cons­truc­tion of Scien­tific Facts. Was Latour und Woolgar beschrieben, hatte nichts mit der Heroen­ge­schichten einsamer Genies an der Front wissen­schaft­li­cher Erkenntnis zu tun. Wissenschaftler:innen müssen Geld orga­ni­sieren und sich über möglichst schnelles Publi­zieren Renommee erar­beiten, was wiederum die Geld­be­schaf­fung erleich­tert; sie trinken zusammen Kaffee, tauschen Ideen aus oder halten sie zurück, um dem Konkur­renten zu schaden; sie sammeln Daten, bevor sie wissen, welche sich für ihr Argu­ment als nütz­lich erweisen werden und welche nicht; das Labor braucht Geräte, um diese Daten zu produ­zieren, und tech­ni­sches Personal, von dessen spezi­ellem Know-how ein ganzes Forschungs­pro­jekt abhängt – und so weiter.

Der Nach­weis von Latour und Woolgar, dass wissen­schaft­liche Wahr­heiten im Labor auf diese Weise „gemacht“, ja „sozial konstru­iert“ werden, bedeu­tete nicht, diese der Unwahr­heit zu über­führen – es hieß nur, dass sie von Menschen und ihren Gerät­schaften gemacht sind. Latour vertei­digte fortan die Arbeit der Wissen­schaft jeder­zeit und ener­gisch, und er sprach hinsicht­lich der Möglich­keit, Gewiss­heit über die Dinge in der Welt zu erlangen, opti­mis­tisch und positiv von einem „robusten Rela­ti­vismus“. Das hat ihm sehr zu Unrecht den Vorwurf einge­tragen, ein „post­mo­derner Rela­ti­vist“ im Sinne des „anything goes“ zu sein. Latour war weit entfernt davon. Als beken­nendem Katho­liken war ihm der Unter­schied zwischen einer geof­fen­barten, gött­li­chen Wahr­heit und mensch­li­chen, das heißt histo­risch gesehen immer nur rela­tiven Wahr­heiten selbst­ver­ständ­liche Denk­vor­aus­set­zung. „Gemachte“ Wahr­heiten sind nicht „falsch“, sind weder Lüge noch Täuschung oder „Fake“ – aber sie sind nicht absolut, sondern eben nur begrenzt wahr. Die einzig inter­es­sante Frage lautet daher: Wie werden sie herge­stellt – und was macht ihre limi­tierte, rela­tive Wahr­heit aus?

Erkennt­nis­theo­rien

Bei der Suche nach Antworten auf diese Frage blieb Latour kein übli­cher Sozi­al­kon­struk­ti­vist – das heißt jemand, der ausschließ­lich die soziale, die gesell­schaft­liche und damit die „mensch­liche“ Seite der Produk­tion wissen­schaft­li­cher Erkennt­nisse und Wahr­heiten unter­sucht. Das wäre, in Latours Deutung, eine klas­sisch „moderne“ Posi­tion, die die „Post­mo­dernen“ über­nommen und nur noch radi­ka­li­siert haben: Dem erken­nenden oder „konstru­ie­renden“ Subjekt steht demgemäß das von ihm getrennte Objekt gegen­über, in einem nicht aufheb­baren Gegen­satz zwischen „innen“, dem aktiven Subjekt, und „außen“, dem passiven Objekt, verbunden einzig durch den analy­ti­schen Blick.

Es ist dies, so Latour, der Gegen­satz zwischen einem „körper­losen Beob­achter“ und dem „Ding-an-sich“ bei Imma­nuel Kant, mit dem für Latour die „Kata­strophe“ der modernen und post­mo­dernen Erkennt­nis­theorie anfing: Dem unfass­baren Ding-an-sich steht bei Kant die – körper­lose – Vernunft gegen­über, die nicht das Ding-an-sich, sondern nur die von ihr selbst mittels ihrer Kate­go­rien und Anschau­ungs­formen hervor­ge­brachte „Erschei­nung“ erkennen kann. In ähnli­chem Sinne sprach später Nietz­sche vom „rätsel­haften X des Dings“, an das das Subjekt seine nie wirk­lich passenden sprach­li­chen Erkennt­nis­mittel heran­trägt. Seit den 1950er Jahren schließ­lich war das, sehr verkürzt gesagt, die erkennt­nis­theo­re­ti­sche Posi­tion insbe­son­dere des fran­zö­si­schen Struk­tu­ra­lismus und späteren Post­struk­tu­ra­lismus. Ihr gemäß struk­tu­rieren Zeichen und Diskurse die Welt und machen sie so erst erkennbar. „Wir müssen uns nicht einbilden“, bemerkte Michel Foucault 1970 bei seiner Antritts­vor­le­sung im Collège de France, „dass uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entzif­fern haben. Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis.“

Bruno Latour, der damals noch an der Univer­sität Tours Philo­so­phie, Anthro­po­logie und Theo­logie studierte, sah das entschieden anders. Er war über­zeugt, dass diese von Foucault so promi­nent und einfluss­reich formu­lierte Posi­tion die reale Praxis, oder viel­leicht besser noch: den Wirk­lich­keits­sinn und Reali­täts­ge­halt der Wissen­schaft und ihrer Erkennt­nis­formen syste­ma­tisch verpasst und fehl­in­ter­pre­tiert. Denn ganz so rätsel­haft und uner­kennbar erschienen ihm die Dinge nicht, wenn er beob­ach­tete, was Wissenschaftler:innen tatsäch­lich tun. Ausschließ­lich „mensch­lich“ schien es ihm dabei auch nicht zuzugehen.

Bakte­rien

Das zeigte er – oder es zeigte sich ihm – in der Ausein­an­der­set­zung mit dem Bakte­rio­logen Louis Pasteur, dem Latour die von fran­zö­si­scher Helden­ver­eh­rung nicht ganz freie Studie Les microbes. Guerre et paix (1984) und einige gewich­tige Aufsätze widmete. Auf der einen Seite findet man hier die Argu­mente des Sozi­al­kon­struk­ti­vismus: Pasteur ist ein glän­zender Rhetor, der sich in spek­ta­ku­lären öffent­li­chen Vorle­sungen an das Publikum wendet, um der neuen Bakte­rio­logie, die gegen jedes einzelne Bakte­rium „Krieg“ führen muss, zum Durch­bruch zu verhelfen, während die Hygie­niker noch an ihren veral­teten Gleich­ge­wichts­lehren fest­hielten. Er ist ein gewiefter Labor­tech­niker, der Bakte­rien „abschwä­chen“ kann (eine zufäl­lige Entde­ckung), um mit ihnen erfolg­reich Schafe gegen Milz­brand (Anthrax) zu impfen, was für großes mediales Aufsehen sorgt und der Bakte­rio­logie in Frank­reich zum Durch­bruch verhalf. Und so weiter.

Doch das ist nur das eine. Entschei­dend für Latour war, dass Pasteur im Arsenal seines Feld­zuges für die neue Wissen­schaft einen Verbün­deten gewann, der selbst sehr aktiv ist, ja der, so Latour, recht eigent­lich „handelt“ und daher die Entste­hung und Durch­set­zung einer neuen wissen­schaft­li­chen Wahr­heit entschei­dend beein­flusste: das Bakte­rium selbst. Da war zum Beispiel das Milch­säu­re­bak­te­rium, das als Ferment die Milch sauer werden lässt. 1857, als Pasteur diese Vorgänge in seinem Labor unter­suchte, waren alle Chemiker entschieden der Ansicht, dass für das Sauer­werden auf keinen Fall ein „Lebe­wesen“, sondern nur anor­ga­ni­sche chemi­sche Prozesse verant­wort­lich sein konnten. Wie gelang es Pasteur, zu einer anderen Erkenntnis zu kommen? In der genauen Lektüre von Pasteurs entspre­chendem Forschungs­be­richt entdeckte Latour ein Doppeltes: Einer­seits zeigte „es sich Pasteur“, dass das nicht stimmen konnte – die „Erfah­rung“ im Labor sprach entschieden dagegen, ja, „etwas“ sprach dagegen –; und ande­rer­seits, dass Pasteur seine ganze hand­werk­liche und wissen­schaft­liche Kunst­fer­tig­keit anwenden musste, um dieses graue „Etwas“ unter dem Mikro­skop in das zu verwan­deln, was er dann als das Milch­säu­re­bak­te­rium iden­ti­fi­zierte. Ein histo­ri­sches Ereignis, so Latour: „Das Nach­helfen Pasteurs wurde vom Ferment als histo­ri­sche Chance ergriffen, um sich zu mani­fes­tieren und damit einen ganz anderen Weg einzu­schlagen.“ Oder mit einer Prise post­theo­lo­gi­scher Ironie: „Pasteur denkt, das Ferment lenkt. Das Ferment denkt, Pasteur lenkt.“

Akteur-Netzwerke

Doch wie ist das zu verstehen? Man muss schon sagen, dass Latours philo­so­phi­scher Anspruch nicht gerade bescheiden war. Ihm ging es um nichts weniger als eine neue Meta­physik, genauer gesagt eine neue Onto­logie (Seins­lehre), um mit einem Streich eine ganze Reihe alter philo­so­phi­scher Probleme zu lösen. Im Kern lautete seine Onto­logie, dass das Wesen der Dinge, also ihr „Sein“, nicht statisch bzw. stabil sei, sondern darin besteht, rela­tional zu sein. Es ist eine Onto­logie der Rela­tionen, der Verknüp­fungen, Verbin­dungen und Verhält­nisse im histo­ri­schen Wandel, die das „Wesen“ der Dinge ausmache. Latour folgte darin der Philo­so­phie von Gilles Deleuze (was hier zu zeigen zu weit führen würde). Auffal­lend ist aber auch, dass er, ob bewusst oder nicht, auf der Onto­logie Darwins aufbaute: Im Origin of Species (1859) zeigt dieser unauf­hör­lich – und sagt es auch explizit –, dass „das Wich­tigste die Bezie­hung von Orga­nismus zu Orga­nismus“ ist. Das bedeutet, die Orga­nismen besitzen kein in sich ruhendes, über die Zeit stabiles „Wesen“, sondern alles, was sie ausmacht, hat sich in der Bezie­hung, in den Rela­tionen zu anderen Orga­nismen ausge­bildet und verän­dert sich auf diese Weise konstant weiter.

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Latours entschei­dender Twist über Darwin hinaus bestand aller­dings darin, dass diese Rela­tionen, wie am Beispiel Pasteurs schon deut­lich wurde, nicht zuletzt uns Menschen umfassen. Die Natur­dinge können so gesehen nicht als isolierte Objekte verstanden werden, deren „Wesen“, das „rätsel­hafte X“, uns daher letzt­lich verschlossen bleiben muss – oder die, wie im Szien­tismus, so sehr vereindeu­tigt seien, dass „unsere Diskurse und Hand­lungen brutal in Biologie oder Physik veran­kert“ würden. Viel­mehr erscheinen sie bei Latour als beweg­liche „nicht-menschliche Aktanten“, das heißt als gleichsam „handelnde“ Elemente in einem Netz­werk von Rela­tionen, inner­halb dessen Menschen sich ebenso auf sie beziehen, wie sie zugleich von ihnen beein­flusst werden. Über diese Rela­tionen zu spre­chen, hieß für Latour, über die konkrete Wirk­lich­keit der Dinge zu spre­chen, über ihre hand­feste Realität – weil es eben die Dinge nie außer­halb solcher Rela­tionen gibt. Den Anteil der Dinge an der Entste­hung wissen­schaft­li­cher Wahr­heiten in diesem Sinne in den Blick zu nehmen, entspreche einem den modernen Epis­te­mo­lo­gien grund­sätz­lich entge­gen­ge­setztes „Symme­trie­prinzip“. Wir sind, so Latours berühmte Formu­lie­rung, in dieser Hinsicht „nie modern gewesen“ – sondern waren  immer schon mit den Dingen vermischt.

Latour hat in seiner Studie zu Pasteur akri­bisch die Verben hervor­ge­hoben – eindi­cken, filtrieren, sättigen, ausfällen, lösen, verdampfen –, mit denen Pasteur seinen hand­greif­li­chen Umgang mit dem grauen „Etwas“ beschrieb: Ein Labor­han­deln, das ihn mit diesem „Etwas“ sehr konkret – körper­lich – verbunden hat und ihn zur „Erfah­rung“ führte, dass es sich beim Milch­säu­re­fer­ment um ein Bakte­rium und nicht um anor­ga­ni­sche Materie handeln müsse. Doch damit, so Latour, verän­derte sich nicht nur Pasteur „von einem ehrwür­digen Chemiker in der Provinz zu einem Meister der Mikro­bio­logie auf der ganzen Welt“, sondern auch das Milch­säu­re­bak­te­rium: Sein Zusam­men­treffen mit Pasteur sei für dieses ein funda­men­tales Ereignis gewesen, das es in ganz neue Bezie­hungen einfügte und in der Folge zu einem indus­triell herge­stellten Instru­ment der Milch­wirt­schaft werden ließ. „Das“ Milch­säu­re­bak­te­rium „an sich“ – wie bei Kant – gibt es für Latour nicht. Es ist immer schon histo­risch und verän­der­lich, und zwar nicht nur in unseren „Reprä­sen­ta­tionen“, in den sprach­li­chen und visu­ellen Bildern, die wir von ihm entwerfen, sondern ganz real.

Gaïa und das Elend der Kritik

Ob Latour, der nicht müde wurde, über das post­mo­derne Fest­halten an den Reprä­sen­ta­tionen zu spotten, damit alle philo­so­phi­schen Probleme gelöst hatte, die er lösen wollte, bleibt dahin­ge­stellt. So schnell, wie ihm das vorschwebte, wird man das offen­kun­dige Gewicht der Bilder, Zeichen und Diskurse, der Para­digmen und Philo­so­phien nicht los, die auch bei den mensch­li­chen Akteuren im Labor ihr Handeln zumin­dest mitstruk­tu­rieren. Und dass die Natur­dinge nicht „stabil“, sondern „rela­tional“ sind, wussten bzw. wissen auch die Post­mo­dernen. Kritisch mag man zudem einwenden, dass die These, wir seien überall und immer schon in unüber­sicht­liche und nicht steu­er­bare Netz­werke von mensch­li­chen und nicht-menschlichen „Aktanten“ verwoben, dazu verleiten kann, die poli­ti­schen Fragen nach unglei­cher Macht und Verant­wor­tung der mensch­li­chen Akteure aus dem Blick zu verlieren. Wo soll man denn poli­tisch ansetzen, wenn immer alles mit allem „vernetzt“ ist und nicht nur jedes Bakte­rium, sondern auch alle Arte­fakte um uns herum „handeln“?

Doch unge­achtet dieser Kritik ist Latours Philo­so­phie im begin­nenden 21. Jahr­hun­dert von unbe­streit­barer Aktua­lität. Denn einer­seits hat er sich unter dem Titel „Elend der Kritik“ entschieden dagegen gewehrt, dass nicht zuletzt seine Beschrei­bung der Konstruk­ti­ons­pro­zesse wissen­schaft­li­cher Wahr­heiten von Klima­wan­del­leug­nern dazu miss­braucht wird, die wissen­schaft­li­chen Erkennt­nisse und Belege zur Erder­wär­mung in frivoler Weise als bloße „Meinung“ oder gar „Fake“ zu denun­zieren. Und andrer­seits hat er maßgeb­lich dazu beigetragen, die Rela­tion von uns Menschen zum Planeten als Ganzem zum philo­so­phi­schen Problem zu machen. In Face à Gaïa, seinen Huit confé­rences sur le nouveau régime clima­tique (2015) bezieht er sich auf die soge­nannte Gaïa-Hypothese von Lynn Margulis und James Love­lock, die in den 1970er Jahren die Erde und die Biosphäre als komplex rück­ge­kop­peltes, sich selbst orga­ni­sie­rendes „Lebe­wesen“ konzi­piert haben.

Jenseits der schnell ins Kraut geschos­senen New Age-Trivialisierungen dieser „Göttin“ greift Latour den Gedanken auf, um vor allem auf die Schwie­rig­keit aufmerksam zu machen, wie „wir alle“ im Anthro­pozän zwar unbe­streitbar zu einer geolo­gi­schen Kraft geworden sind und das Erdklima kata­stro­phal verän­dern, ohne dass es uns dabei aber möglich scheint, diese unend­lich komplexen Rela­tionen zwischen „uns“ und der nicht einheit­li­chen, aus wissen­schaft­lich in viel­fäl­tigster Art beschrie­benen Rück­kopp­lungs­schleifen bestehenden „Gaïa“ zu erfassen. Es war ihm daher in den letzten Jahren ein Anliegen, in Zusam­men­ar­beit mit Künstler:innen, Sozial- und Naturwissenschaftler:innen für diese Komple­xität eine neue Sprache zu entwi­ckeln, um im Anthro­pozän in adäquater Weise Verant­wor­tung zu über­nehmen. Ein spätes Einge­ständnis, möchte man anfügen, dass es doch Spra­chen und Bilder braucht, um unser mit der „Natur“ vernetztes Handeln anzuleiten.