Die beiden „Interviews“ mit dem russischen Präsidenten Vladimir Putin, die zu Sommerbeginn in den USA ausgestrahlt wurden, sorgten kaum für Aufregung. Wie überall ist der Sommer auch im amerikanischen Fernsehen eine dead season, das Publikum geht in die Ferien, TV-Exekutives reservieren die Zeit für skurrile Serien und langweilige Reality-Shows. Kein Wunder also, dass man die Interviews mit Putin in diesem Sommerloch platziert hat.
Die amerikanische Star-Moderatorin Megyn Kelly, die im Frühling 2017 ihren Arbeitsgeber FOX News verließ und zum NBC wechselte, wollte ihre Karriere beim neuen Sender eigentlich mit einem Bang! starten. Sie reiste nach Sankt Petersburg, um ein Gespräch mit Vladimir Putin während des International Economic Forums aufzunehmen. Das Interview mit Mr. President Putin in Sunday Night with Megyn Kelly wurde jedoch von den Zuschauern auf Social Media gnadenlos verrissen: Wie kann es sein, dass eine Frau, die vor einigen Monaten die systematischen sexuellen Belästigungen und den Machtmissbrauch durch die Leitung von FOX-Network ans Licht gebracht hatte, so passiv vor einem der größten Frauenverachter sitzt, wie ein Kaninchen vor der Schlange, und mit ihm über Banalitäten redet?

Still aus Oliver Stones „The Putin Interviews“, Quelle: youtube.com
Auch die vierteilige Doku-Serie The Putin Interviews von Oliver Stone, die der Kabelsender Showtime Mitte Juni ausstrahlte, wurde heftig kritisiert. Mag sein, dass Stones Serie viel komplexer und nuancierter ist als Kellys Interview, immerhin ist Stone ein erfahrener Filmemacher – trotzdem sind auch seine Fragen kulturell stereotyp, politisch harmlos und dramaturgisch berechenbar. Sie sind noch nicht einmal als Versuch lesbar, die glatte Oberfläche von Putin anzukratzen: Matrjoschkas, Atombombe, rote Sterne und die Türme des Kreml werden schon im Vorspann mit herzzerreißender Balalaika-Musik untermalt.
Am einfachsten wäre es, diese Interviews als journalistische bzw. filmische Misserfolge, als epic fails, schlicht beiseitezulegen, ohne sich zu fragen, warum sie scheiterten, und zwar ironischerweise kurz vor der Eskalation der Konfrontation zwischen den USA und Russland. Ausgestrahlt wurden sie auf dem ersten Höhepunkt der Investigation der Beziehungen zwischen Russland und dem Kabinett Trump.
Wer ist der Regisseur?
Beide Interviews bestehen aus Lügen, Zynismus und Propaganda. Putin reproduziert gängige Narrative der Polittechnologie des Kremls, welche man sowohl in Russland wie auch – mithilfe von RT und Sputnik – im Westen verbreitet. Dabei geht es nicht um einzelne alternative facts, sondern um eine komplette alternative Geschichtsdeutung, die das Ende der Diktatur 1991 und den versuchten Aufbau des demokratischen Systems auf ein wirtschaftliches Desaster reduziert: „Die soziale Sicherung wurde komplett vernichtet. Ganze Industrien zerstört. Die Medizin ruiniert. Die Armee befand sich in einem erbärmlichen Zustand. Millionen von Leuten wurden in die Armut getrieben.“ Der Alkoholiker Jelzin habe das Land an Oligarchen verkauft und nur er selbst, Putin, habe die totale Verelendung des russischen Volkes verhindern können. Er selbst habe die Wirtschaft wieder aufgebaut und für Prosperität gesorgt. Für Putin gibt es auch keinen Krieg im Donezbecken, es sei einfach so, dass die russischsprachige Bevölkerung, die Mehrheit dort, die Politik von Kiev nach der Absetzung von Viktor Janukowytsch nicht akzeptieren wollte, was der ukrainischen nationalistischen Regierung nicht gefallen habe. „Man hätte mit den Leuten in Donezk alles verhandeln können“ – behauptet Putin – „stattdessen wurde die ukrainische Armee nach Donezk geschickt.“ Und überhaupt beute die ukrainische Regierung ihr Volk schamlos aus und betrüge es nach Strich und Faden. Die armen Ukrainer seien der westlichen Verschwörung zum Opfer gefallen, deren Ziel es sei, Russland trotz aller Übereinkommen von allen Seiten mit feindlichen NATO-Mitgliedern zu umringen. Der Westen selbst werde von einer unsichtbaren Hand regiert. Nur in Russland gebe es eine richtige Demokratie, während in den USA die Demokratische Partei zum kommunistischen Politbüro geworden sei. Und so weiter und so fort.
Putins Geschichtsnarrativ ist bekannt, er liefert nichts Neues. In rechten und einigen linken Kreisen hat sich diese Erzählung aber mittlerweile als „kritische“ Gegenerzählung zur westlichen etabliert. Putin ist zu einer Figur geworden, die es für diese so unterschiedlichen Kreise ermöglicht, von außen Kritik am eigenen System zu üben. Das funktioniert selbstverständlich nur dann, wenn man bereit ist auszublenden, dass Putin das, was er an anderen kritisiert, selbst verkörpert.
Stones Fehllektüre
Warum also scheitert Stone? Er hält den Helden seines Interviews allen Ernstes für einen Sozialisten, der in eine Reihe mit Fidel Castro und Hugo Chávez – beide waren Protagonisten vorheriger Dokumentarfilme des Regisseurs – passt. Entsprechend ist der Zerfall der UdSSR auch für Stone nicht das Ende, sondern der Anfang des Sozialstaats: Nach den Jahren des Chaos kam der glorreiche Erlöser des russischen Volkes Vladimir Putin, der die Wirtschaft wiederlebte, die Armut besiegte, die Wissenschaft förderte und die ethnischen Konflikte beruhigte.

Still aus Oliver Stone „The Putin Interviews“, Quelle: youtube.com
Putin inszeniert sich dank Stone – wie das auch bei anderen Politikern derzeit zu beobachten ist – als „effektiver Manager“, als CEO der Firma „Russland“. Effizienz: Sie ist denn auch das Kriterium, das Putin an seinem „Vorgänger“ Stalin so sehr schätzt, dass dessen Terror rückwirkend blass und nebensächlich wird. Sicherlich sei Stalin ein Tyrann gewesen, der Millionen von Menschen ermordet hat, er sei aber auch ein Manager gewesen, ein „effektiver Geschäftsmann“, der das größte Land auf Erden unter Kontrolle hatte und dabei die Welt vom Faschismus befreite.
Wie Stalin, der sich in seinen Gesprächen mit H. G. Wells, Romain Rolland oder Lion Feuchtwanger als intelligenten, belesenen Mann gezeigt hat, demonstriert auch Putin seine Kenntnisse der politischen Theorie. So verwendet er mal bekannte „linke“ Narrative, etwa dass der Kalte Krieg vom amerikanischen Territorial-Imperativ und von der amerikanischen Angst vor der kommunistischen Ideologie, die alle physischen Grenzen überwinden kann, dominiert wurde. Die kommunistische Ideologie, sagt Putin, gibt es nicht mehr, aber Amerika versucht immer noch, sich mithilfe der NATO geographisch auszubreiten. Auch die Beobachtung, dass man äußere Feinde brauche, um die Bevölkerung vom permanenten Krieg im eigenen Land abzulenken, verwendet er nicht etwa zur Selbstbeschreibung, sondern ausschließlich zur Charakterisierung des Westens: „Russland wird erneut als Feind dargestellt, damit die amerikanische Regierung die krassen inneren Konflikte in den USA verschweigen kann.“
Gleichzeitig kombiniert er diese Kritik mit den Theorien der „konservativen Intellektuellen“ aus seinem Umkreis – wie Aleksandr Dugin oder Nikolaj Starikov. Entsprechend liegt während des Interviews das Buch von Starikov, Die Nationalisierung des Rubels. Der Weg Russlands in die Freiheit neben Oliver Stones The Untold History of the United States auf dem Arbeitstisch. Starikov ist z.B. der Meinung, dass Gorbatschov wegen der Zerschlagung der Sowjetunion vor Gericht müsste. Starikov und Dugin sind aber vor allem diejenigen, die in zahlreichen Publikationen das Ideal der „totalen staatlichen Souveränität“ (kulturell, ökonomisch, militärisch) predigen, das Putin ihrer Meinung nach ideal verkörpert. Die „totale staatliche Souveränität“ wird als Antwort dargestellt, als eine Art Widerstand gegen Amerika, gegen die Globalisierung, gegen die Universalität der Menschenrechte, gegen den westlichen Liberalismus und die „totalitäre“ Marktwirtschaft, also gegen alles, was Amerika für diese „Denker“ repräsentiert.

Still aus Oliver Stones „The Putin Interviews“, Quelle: youtube.com
Was zeigen also die Interviews von Oliver Stone? Sie zeigen, dass Stone mit seiner Fehllektüre der ideale Dramaturg von Putins Ideologie ist. Und nicht nur dies, er realisiert sogar Putins Begehren, sich selbst als Souverän in jeder Lebenslage zu inszenieren, als Actionheld, Spitzensportler, Krieger. Im Laufe von zwei Jahren – so lange drehte Oliver Stone seine Interviews – wechselten die Genres entsprechend: eine Filmbiographie (es wird über Putins Kindheit, Jugend und seinen politischen Aufstieg erzählt) wird zu einem Kriegsfilm (Putin wird in einem Militärzelt gezeigt), ein Sportfilm (der Judoka-Präsident kämpft auf Tatami und spielt Hockey) wird zum Paranoia-Thriller (die Geschichte von Edward Snowden wird erzählt) und schließlich zum Actionfilm (Oliver Stone filmt Putin an Bord des Luxus-Flugzeugs des Präsidenten).
Das Fortleben des Sowjetischen
Aber da ist noch ein zweites Phänomen, das die „Putin Interviews“ nolens volens aufdecken: das Fortleben des sowjetischen Systems im heutigen Russland. Stone mag Putin als Sozialisten sehen, doch was er zeigt, ist das Agieren einer undurchsichtig-autokratischen Macht. Putin wird in der Interview-Serie als äußerst tätiger, immer beschäftigter Mann dargestellt. Ständig liest er irgendwelche Dokumente und Berichte, andauernd unterschreibt er etwas, trifft irgendwelche Entscheidungen, hat Sitzungen und Konsultationen. Freilich präsentiert sich auch der amerikanische Präsident Trump gerne auf ähnliche Weise. Doch während man in Amerika oft ganz genau weiß, womit sich der Präsident beschäftigt (oder auch nicht beschäftigt), bleiben im Fall Putin die Inhalte seiner Angelegenheiten ein Geheimnis. Der Präsident lässt sich nicht in die Karten schauen – schon gar nicht vom Volk. Genau das „Volk“, das in Putins Rhetorik eine zentrale Rolle spielt, bildet in der Doku von Stone denn auch die große Leerstelle. Die Räume um Putin sind menschenleer. Natürlich tauchen ab und zu Leute aus Putins Team und der Film-Crew von Stone auf, aber was aus diesen Interviews außer dem glänzenden Gesicht von Putin im Gedächtnis bleibt, ist die beeindruckende, fast unheimliche Leere, die überall herrscht: im Kreml, im Hockeystadion, in der riesigen Sotschi-Residenz, auf den Straßen Moskaus. Ebenso leer ist Putins Begriff des „russischen Volkes“ – eine inhaltslose Abstraktion, eine Virtualität, eine Projektion auf einer weißen Leinwand. Putin regiert die Leere und in der Leere.

Still aus Oliver Stones „The Putin Interviews“, Quelle: youtube.com
Die Abgeschiedenheit von Herrschenden und die Reduktion der Bevölkerung zur Abstraktion kennt man in Russland aus den Zeiten der sozialistischen Diktatur. Fortgesetzt wird etwas, das der griechisch-französische Philosoph Cornelius Castoriadis in seiner Analyse Le Regime social de la Russie bereits 1975 benannte: ein „totaler bürokratischer Kapitalismus“. Castoriadis behauptete schon damals, es gebe in der UdSSR gar keinen Sozialismus. Laut Castoriadis ist alles, was auf der Ebene der Regierung passiert, Konflikt zwischen verschiedenen Gruppierungen und Cliquen. Der Staat wird von einem „politischen“ Organismus dominiert, der zur ultimativen Instanz aller Entscheidungen und aller Macht wird und seine Erscheinungen streng kontrolliert. Diese Instanz verbietet es, ein „echtes Image der Zustände im Land zu präsentieren […] ermöglicht keine Diskussion über die Gesellschaft und verhindert alle Initiativen, die außer Kontrolle geraten können“. Castoriadis vermutete, dass der Zynismus der russischen Bürokratie und die Diskrepanz zwischen dem von der Partei kontrollierten System der Repräsentation der Gesellschaft und der tatsächlichen Realität zu einem Bruch des Regimes führen werden.
Was er nicht voraussehen konnte, war die Adaptionsfähigkeit dieses Regimes. Freilich behauptet Putin am Anfang seines Interviews mit Oliver Stone, dass er das sowjetische System komplett abgebaut habe. In Wirklichkeit aber passierte genau das Gegenteil: Nach dem Kollaps der Sowjetunion und der kurzen Periode der Verlorenheit in den 1990er Jahren hat sich die sowjetische Bürokratie erneut konsolidiert, neue Gruppierungen innerhalb der ehemaligen Nomenklatur wurden gebildet, und so tauchte das alte zynische Regime in einem neuen Gewand auf. Nun bestimmt statt der Kommunistischen Partei Vladimir Putin die Produktion von Gesellschaftsbildern. Stone tut Putin sogar den Gefallen, dies auch im Vorspann zu den „Putin Interviews“ zu zeigen: Dort wird das Gesicht des russischen Präsidenten mit der Karte Russlands überblendet.

Still aus Oliver Stones „The Putin Interviews“, Quelle: youtube.com