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Mal für, mal gegen Europa

Wenn in der polni­schen Regie­rungs­partei „Recht und Gerech­tig­keit“ (PiS) von Europa die Rede ist, dann wird Europa – je nach Blick­rich­tung – mal als Freund, mal als Feind darge­stellt. Diese Gleich­zei­tig­keit erscheint paradox, ist aber poli­ti­sches Programm.

Aussagen über eine „polni­schen Iden­tität“, die sich durch ein Ein- und Ausschreiben aus dem euro­päi­schen Kontext herstellt, haben eine lange Tradi­tion – nicht nur in natio­na­lis­ti­schen Kreisen. Einer­seits ist da die Sehn­sucht nach „Europa“, die sich vor allem in einem Abgrenzen gegen den Osten, gegen Russ­land, mani­fes­tiert. Hierzu gehören Erzäh­lungen von einer euro­päi­schen Gemein­schaft, von einem Wieder­an­schluss nach 1989, vom polni­schen Boll­werk gegen die russi­sche, sowje­ti­sche, zaris­ti­sche Gross­macht. Solche Vorstel­lungen reichen weit in die Geschichte zurück und legen Polen als „grun­d­eu­ro­pä­isch“ fest. Einer solchen Einord­nung folgte auch der polni­sche Staats­prä­si­dent Andrzej Duda bei seinem Deutsch­land­be­such Ende Oktober 2018: Russ­land erachte Polen immer noch als sein Einfluss­ge­biet, und bei allfäl­ligen Aggres­sionen liege Polen „im Visier“.

Aller­dings wird diese scharfe poli­ti­sche Abgren­zung von einer ebenso deut­li­chen gesell­schaft­li­chen Annä­he­rung an die russi­sche Politik begleitet. Wie die russi­sche Regie­rung seit ca. 2012 propa­giert auch die polni­sche Regie­rungs­partei PiS eine konser­va­tive Wende, die durch Homo­phobie, Xeno­phobie und ein natio­na­lis­ti­sches Kultur­ver­ständnis geprägt ist. In diesen Erzäh­lungen ist Polen nicht wie „Europa“, sondern besser: Polen halte als Erret­terin vor dem west­eu­ro­päi­schen Gesell­schafts­zer­fall gerade jene Tugenden hoch, deren Mangel im Westen zur fort­schrei­tenden mora­li­schen und poli­ti­schen Auflö­sung führe. Der polni­schen Regie­rung und den ihr nahe­ste­henden natio­nal­kon­ser­va­tiven bis rechts­extremen Kreisen schwebt eine konfes­sio­nell, ethnisch und ideo­lo­gisch homo­gene Gesell­schaft vor.

Polen als euro­päi­scher Messias

Der katho­li­sche Einschlag dieser Vorstel­lungen verleitet natio­nal­po­pu­lis­ti­sche Kreise mitunter dazu, Polen als verra­tenen und sich dennoch aufop­fernden euro­päi­schen Messias zu insze­nieren. Auch diese Erzäh­lungen reichen in die Zeit der Teilungen zurück, als die Adels­re­pu­blik Polen-Litauen Ende des 18. Jahr­hun­derts von der Land­karte verschwand und vorerst bloss die Hoff­nung auf die Wieder­auf­er­ste­hung einer polni­schen Staat­lich­keit zurück­blieb. Die bekannte Polo­nistin Maria Janion hat diese anhal­tende Verflech­tung von Mega­lo­manie und Opfer­rolle in der Imagi­na­tion des polni­schen Messia­nismus als „Fluch und Verderben Polens“ bezeichnet.

Bild vom 16. Oktober 2018 auf dem Platz Powstańców Wars­zawy (der Warschauer Aufstän­digen); Demons­tra­tion orga­nisert von KOD, Komitet Obrony Demo­kracji (Komitee zur Vertei­di­gung der Demo­kratie) unter dem Titel „My jesteśmy konsty­tucją“ („Wir sind die Konsti­tu­tion“), (c) agata kubis.

Wie präsent diese Narra­tive heute sind, bestä­tigte Duda bei seinem Deutsch­land­be­such. In seiner Rede zog er die gesamte Geschichte des euro­päi­schen Verrats an Polen und des Verkaufs von Polen heran, um die spezi­fi­sche „polni­sche Empfind­lich­keit, manche würden es ja Stur­heit nennen“, zu begründen, mit der Polen auf poli­ti­schen Druck von aussen reagiere. Damit verschiebt er die Verant­wor­tung für heutige poli­ti­sche Sach­lagen nach aussen und in die Schuhe der „grossen Mächte, die über die Köpfe der Kleinen hinweg entscheiden“. Im Partei­pro­gramm der PiS von 2014 ist denn auch an zentraler Stelle das „Anheben des Selbst­wert­ge­fühls der Polen, die dieses verloren haben“, fest­ge­schrieben.

Dass sich das Blatt nun wenden soll und auch die „klei­neren“ euro­päi­schen Spieler im Rahmen einer „Demo­kra­ti­sie­rung“ der EU zum Zuge kommen sollen, ist für die PiS zwar erklärtes Ziel, findet aber kaum eine Verwirk­li­chung in ihrer Politik. So verkün­dete Partei­prä­si­dent Jarosław Kaczyński 2016, dass Polen zwar nun „neue Trak­tate für die EU“ schreibe, die dama­lige Minis­ter­prä­si­dentin Beata Szydło schob nach, dass Polen als erstes Land „eine umfas­sende Reform der EU“ vorschlagen würde und auch Duda hielt im Oktober 2018 in Zürich einen Vortrag unter dem Motto „Es ist höchste Zeit, Europa zu retten“.

Die poli­ti­sche Praxis ist jedoch eine andere: Statt sich für eine euro­päi­sche Politik einzu­setzen und auf aktive Mitsprache hinzu­ar­beiten, versucht die polni­sche Regie­rung, das von der PiS bevor­zugte Modell „euro­päi­scher Politik“ im eigenen Land umzu­setzen. Deut­lich formu­lierte dies Duda im September bei einem Treffen mit den Einwohner*innen von Leżajsk, einer Kleinst­stadt in der Woiwod­schaft Karpa­ten­vor­land. Europa sei eine „imagi­nierte Gemein­schaft, von der wir nicht viel haben. Gemein­schaft brau­chen wir hier in Polen. Wenn unsere Ange­le­gen­heiten gere­gelt sind, werden wir uns um die euro­päi­schen Ange­le­gen­heiten kümmern.“

Verzicht auf Europa ohne Ausstieg

Konsens der konser­va­tiven Politiker*innen war bislang, dass ein Ausstieg aus der EU, ein soge­nannter Polexit, trotz aller Euro­pa­kritik nicht in Frage komme. Davon gibt es aller­dings Abspal­tungen wie die zweck­be­nannte Partei Polexit, die im Januar 2019 von Stanisław Żółtek gegründet wurde, seines Zeichens EU-Abgeordneter des Neuen Rechten Kongresses. Solch expli­zite Haltungen sind selten, aber gene­rell wird versucht, die euro­päi­sche Politik zu igno­rieren, zu kriti­sieren oder als Herab­wür­di­gung polni­scher Kultur lesbar zu machen. Als Beispiel dieses Vorge­hens kann etwa der Verzicht auf die Teil­nahme am EU-Gipfel zur Flücht­lings­krise im Juni letzten Jahres dienen. Der polni­sche Selbst­aus­schluss wurde genutzt, um im eigenen Land umso effekt­voller einen abwei­chenden Stand­punkt einzu­nehmen und die „zu tole­rante“ Aufnah­me­po­litik der EU zu kritisieren.

Demons­tranten mit dem von Luka Rayski entwor­fenen Plakat, das zum Symbol des Protestes gegen die Rechts­beu­gung in Polen geworden ist. Quelle: artslant.com

Ein weiteres Beispiel ist die Justiz­re­form. Diese hatte zunächst die Gewal­ten­tei­lung von Legis­la­tive, Exeku­tive und Judi­ka­tive unter­wan­dert, indem das Oberste Gericht dem Justiz­mi­nister Zbigniew Ziobro unter­stellt wurde. Dies wurde von der EU kriti­siert, und als zusätz­lich das Renten­alter am Obersten Gerichtshof von 70 auf 65 Jahre herab­ge­setzt wurde, um unlieb­same Richter*innen in den Ruhe­stand zu beför­dern, leitete die EU-Kommission ein Rechts­staats­ver­fahren ein. Die polni­sche Regie­rung ist zwar gewillt, der einst­wei­ligen Verfü­gung – ein gericht­li­ches Urteil steht noch aus – Folge zu leisten, versucht aber, die Kritik an der Unter­wan­de­rung der Rechts­staat­lich­keit als Herab­wür­di­gung Polens zu inter­pre­tieren. Der Sejm-Abgeordnete Tadeusz Cymański von der Partei Soli­da­ri­sches Polen (eine Abspal­tung der PiS) reagierte deshalb mit einer Umkeh­rung: „Der Klügere gibt dem Dümmeren nach“. Und PiS-Parteipräsident Kaczyński deutete die Reform stra­te­gisch als Schutz vor dem Verfall euro­päi­scher Werte: „Die Polen verstehen auch, dass wir als Nation verschie­dene Lasten tragen müssen, die unsere Partner aus dem Westen nicht getragen haben. Das heisst aber nicht, dass wir die Fehler des Westens wieder­holen und uns mit diesen sozialen Krank­heiten anste­cken sollen.“

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Visionen einer euro­päi­schen Apokalypse

Auf die sozialen Krank­heiten Europas und die der polni­schen Oppo­si­tion, die er als Pöbel bezeich­nete, kam auch Duda in Berlin zu spre­chen. Ein Jour­na­list fragte ihn, weshalb die Verfü­gung des Euro­päi­schen Gerichts­hofs bezüg­lich des Obersten Gerichts nicht unver­züg­lich in den Radio­nach­richten erwähnt wurde. Duda wand sich damit heraus, „dass man von vielen inner­po­li­ti­schen Krisen nichts hört, in Polen wie in anderen Ländern. Die Medien müssen nicht über alles berichten. (…) Und entschul­digen Sie, ich habe keinen Einfluss auf die Medien in Polen.“ Aber, so seine weitere Reak­tion, bei einer Verge­wal­ti­gung würden „jegliche Details, die nur zu erfahren wären“, sofort medial kommu­ni­ziert. Mit dieser reich­lich abstrusen Hervor­he­bung, die zudem im Hinblick auf die zahl­rei­chen Fälle von sexu­ellem Miss­brauch durch Ange­hö­rige der Katho­li­schen Kirche in Polen und deren margi­nale Bericht­erstat­tung in keinster Weise der Realität entspricht, zielte Duda auf die Vorfälle von Köln in der Sylves­ter­nacht 2015/2016.

Duda wieder­holte so zur Ablen­kung von der eigenen Innen­po­litik einen vermeint­li­chen Zusam­men­hang, der von der PiS ständig ange­führt wird: Dass die euro­päi­sche Flücht­lings­po­litik zu Verge­wal­ti­gungen führe. Anders als in Deutsch­land beispiels­weise, wo die Lage naiv beur­teilt und beschö­nigt werde, scheue sich Polen nicht, auf Probleme mit geflüch­teten Personen hinzu­weisen und eine restrik­ti­vere Flücht­lings­po­litik zu fordern. Unter­schlagen wird dabei, dass Polen von den Haupt­flucht­routen der letzten Jahre kaum betroffen war und nur wenige Menschen aus dem arabi­schen oder afri­ka­ni­schen Raum über­haupt nach Polen gekommen sind oder in Polen bleiben. Der Anteil der Menschen mit auslän­di­scher Staats­bür­ger­schaft liegt in Polen bei 0.6%, die meisten von ihnen stammen aus Weiss­russ­land und der Ukraine. In seiner Not versechs­fachte der polni­sche Premier Mateusz Mora­wi­ecki im Gespräch mit Angela Merkel im Juni 2018 die Zahl der tsche­tsche­ni­schen Geflüch­teten – statt von 4000 Personen sprach Mora­wi­ecki plötz­lich von 25‘000.

Proteste vor dem Obersten Gericht, (c) agata kubis.

Um die Lüge medial zu verstärken, veröf­fent­lichte die PiS vor den Kommu­nal­wahlen am 21. Oktober 2018 ein dras­ti­sches Video, das eine Flücht­lings­apo­ka­lypse für das Jahr 2020 herauf­be­schwört. Im Video werden Bilder wie aus dem Bürger­krieg gezeigt und wird sugge­riert, in west­eu­ro­päi­schen Staaten seien „Über­fälle mit sexu­ellem Hinter­grund und Gewalt­akte“ von Geflüch­teten an der Tages­ord­nung. Das Video wurde auch in Polen stark kriti­siert, selbst von konser­va­tiver Seite und parteiintern.

Natio­na­lis­ti­scher Angriff auf das Anderssein

Die Kommu­nal­wahlen brachten jedoch auch eine natio­na­lis­ti­sche Masse zum Vorschein, die bislang im poli­ti­schen Schat­ten­be­reich operiert hat. Eine Zusam­men­stel­lung der Website stopnacjonalizm.pl machte deut­lich, dass über 600 Nationalist*innen zur Wahl für die Lokal­par­la­mente (Sejmiki) und Stadt­prä­si­dien aufge­stellt waren – flächen­de­ckend über das ganze Land verteilt wie auch in den grös­seren Städten. Einige der Kandi­die­renden sind rechts­extremen und neofa­schis­ti­schen Grup­pie­rungen zuzu­rechnen. So waren etwa Mitglieder des Natio­nal­ra­di­kalen Lagers (ONR), der bekann­testen und grössten rechts­extremen und reli­giös funda­men­ta­lis­ti­schen Orga­ni­sa­tion in Polen, vertreten. Der ONR trägt die glei­chen Symbole (die Falanga) wie die gleich­na­mige faschis­ti­sche Partei der polni­schen Zwischenkriegszeit.

Es ist vor allem die Präsenz dieser Kräfte im gesell­schaft­li­chen Leben, die zunimmt. Mit der PiS-Regierung werden homo­phobe und gene­rell anti-tolerante Haltungen salon- und medi­en­fähig, die sich für jene, die wagen, anders zu sein als die katholisch-nationale Norm, als physi­sche Gefähr­dung im öffent­li­chen Raum zeigen. Gleich­zeitig wird ersicht­lich, dass es gerade auf dem Gebiet der Geschlech­ter­rollen und sexu­ellen Orien­tie­rung eine immer tiefer­rei­chende Spal­tung gibt. Nachdem bereits um 2013 das „Gender-Monster“ als Schreck­ge­spenst durch die Medien ging, ist das Schlag­wort im Jahr 2019 „LGBT“: Seit der Warschauer Stadt­prä­si­dent Rafał Trzas­kowski die soge­nannte Charta LGBT+ unter­zeichnet hat, laufen die konser­va­tiven Medien und Politiker*innen Sturm. Die Charta, die vor allem Aufklä­rungs­ar­beit in Schulen in Bezug auf Sexua­lität und Diskri­mi­nie­rung vorsieht, wird zur Attacke auf „unsere“ polni­schen Kinder und Anlei­tung zur Perver­tie­rung verzerrt – die Rede ist beispiels­weise von einer „Sexua­li­sie­rung“ im Alter von 0-4 Jahren oder von prak­ti­schem Mastur­ba­ti­ons­un­ter­richt im Kinder­garten. Im Gegenzug werden von katho­li­schen Orga­ni­sa­tionen seit längerem Unter­richts­ma­te­ria­lien in Umlauf gebracht, die es Mädchen etwa verbieten, über­haupt „Nein“ zu sagen.

From left to right: Illegal abor­tion market in Poland – Poli­tyka maga­zine, Poster desi­gned for DŁUG / DEBT – Polish Poster Exhi­bi­tion at The Living Theatre, NYC, Illus­tra­tion for story in Poli­tyka maga­zine, Quelle: artslant.com

Nach der eher erfolg­losen Angst­ma­cherei mit der Flücht­lings­welle und einem weiteren Popu­la­ri­täts­ein­bruch der PiS in Folge ihrer abschät­zigen Reak­tion auf die Ermor­dung des libe­ralen Danziger Stadt­prä­si­denten Paweł Adamo­wicz im Januar 2019 scheint es, als wolle die Partei mit dem Tumult um die Charta LGBT+ im Vorfeld der Euro­pa­wahlen die konser­va­tive Stim­mung wieder anheizen. Momentan sieht es aus, als würde die funda­men­ta­lis­ti­sche Propa­ganda immer stärker und erfolg­rei­cher kontras­tiert. So ist etwa die Anfang Februar 2019 neu gegrün­dete Partei „Früh­ling“ (Wiosna) des popu­lären Poli­ti­kers Robert Biedroń laut Umfragen bereits nach wenigen Tagen zur dritt­stärksten Partei in Polen geworden – und das mit pro-europäischen, femi­nis­ti­schen, ökolo­gi­schen, welt­li­chen, gesell­schafts­li­be­ralen und wirt­schaft­lich sozial ausge­rich­teten Anliegen. Den natio­nal­kon­ser­va­tiven Kreisen ist Biedroń als Schwuler ohnehin ein Dorn im Auge. Die PiS geht mit Schlag­wör­tern wie einem „Europa der Werte“ oder einem „Europa der Fami­lien“, in dem Eltern das Recht behalten sollen, ihre Kinder zu erziehen, als primären Forde­rungen eines Zwölf­punk­te­pro­gramms in die Euro­pa­wahlen. Und obwohl zum Beispiel fast ein Drittel der PiS-Wähler*innen die Einfüh­rung gleich­ge­schlecht­li­cher Part­ner­schaften befür­wortet, könnte die anti­to­le­rante Haltung der Regie­rungs­partei letzt­lich doch aufgehen – wenn sie die konser­va­tivsten Wähler*innen zu mobi­li­sieren versteht, sich mit dem rechten Rand verban­deln und die Linke im Kontext der Oppo­si­tion dämo­ni­sieren kann. Hetze und Hass als Motor der Wahl­un­ter­stüt­zung – es wäre nicht das erste Mal, dass eine geschickte Mani­pu­la­tion von Affekten letzt­lich das Wahl­er­gebnis bestimmt. Bislang zeigen Umfragen, dass sowohl PiS als auch die bürger­liche PO (Bürger­platt­form) in den Euro­pa­wahlen jeweils 19-21 Sitze erringen könnten, während „Früh­ling“ mit 5-7 Sitzen auskommen muss, dicht gefolgt von recht(sextrem)en Koalitionen.