
Im Februar 2022 bereiteten meine Freundinnen aus feministischen Gruppen und ich den jährlichen feministischen Marsch in den Städten der Ukraine anlässlich des Internationalen Frauentags am 8. März vor. Wir überlegten, ob es angemessen sei, in einer Situation zu marschieren, in der ein ausgewachsener Krieg drohte.
Friedliche Versammlungen waren damals zwar nicht verboten, doch bestand die Gefahr, dass der Marsch in der Öffentlichkeit als „unzeitgemäß“ kritisiert werden könnte. Im Team der Organisator:innen des Marsches in der Stadt Poltava beschlossen wir, ihn abzuhalten und geeignete Botschaften zu entwickeln, um das Ereignis der breiten Öffentlichkeit im Kontext der Sicherheitsherausforderungen zu vermitteln. Aus offensichtlichen Gründen haben wir den Marsch nicht durchgeführt. Die Überlegungen über die Bedeutung des Gleichstellungsproblems bleiben jedoch auch angesichts einer groß angelegten russischen Invasion bestehen.
Die Menschenrechte und die Gleichstellung der Geschlechter sind von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der Lage der Ukraine, die heute einen extrem hohen Preis für den Aufbau der Demokratie, für ihre Freiheit und Unabhängigkeit zahlt. Denn der Krieg findet nicht allein an der Front statt, er spielt sich auf der Ebene der Wahrnehmungen und der Diskurse ab.
Daher ist es jetzt, im Kontext des Krieges, wichtig, sich an die Fortschritte der Ukraine auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter zu erinnern und sie zu würdigen. Der ukrainische Staat ist mehrere Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte eingegangen, insbesondere nach 2014, als das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet wurde. Diese Prozesse bringen die ukrainische Gesellschaft näher an die Werte der Demokratie heran und unterscheiden uns gleichzeitig von der kolonialen Idee der „russischen Welt“ („Russkij mir“), in der diese Werte keinen Platz haben. Darüber hinaus haben die russischen politischen Eliten und die „Anti-Gender“-Bewegungen die einzigartige Mission Russlands stets auf den Schutz der Familienwerte ausgerichtet, indem sie die Ideen der Gleichstellung der Geschlechter bekämpften und das russische Volk vor dem „moralisch degradierten Westen“ und „Gayrope“ schützten.

Equality March, Kyiv, 19.9.2021: Quelle: reuters.com
Natürlich bleiben viele Probleme in der Ukraine ungelöst oder schwierig. In der ukrainischen Gesellschaft gibt es immer noch viele Vorurteile gegenüber den Ideen des Feminismus sowie gegenüber LGBT+-Menschen. Laut einer von der soziologischen Gruppe „Rating“ im August 2021 durchgeführten Umfrage haben 47 % der Ukrainer:innen eine negative Einstellung zu LGBT-Menschen. Der Anteil dieser Befragten ist jedoch in der Altersgruppe 16-24 Jahre am niedrigsten (24 %).
Die Ukraine war elf Jahre lang nicht imstande, die „Istanbul-Konvention“ zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen zu ratifizieren, vor allem wegen des Widerstands religiöser Organisationen, die aktive Gegner:innen der Gleichstellungsideen sind. Schließlich stimmte das ukrainische Parlament am 20. Juni 2022 für die Ratifizierung, die möglicherweise von der eigentlichen Absicht angetrieben wurde, der Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidatin zu verleihen.
Die Ukraine hat jedoch viele Errungenschaften auf dem Gebiet der Menschenrechte und der Gleichstellung der Geschlechter vorzuweisen: Forschung zu verschiedenen Themen, die Aktivitäten feministischer Organisationen und Initiativgruppen, viele Medien, die die Ideen der Gleichstellung der Geschlechter fördern, und eine entwickelte Gesetzgebung. So hat die Ukraine beispielsweise 2005 das Gesetz zur Gewährleistung gleicher Rechte und Chancen für Frauen und Männer verabschiedet, und seit 2018 ist häusliche Gewalt in der Ukraine strafbar. Jedes Jahr werden zahlreiche Gesetze zur Gleichstellung der Geschlechter verabschiedet, und ein nationaler Mechanismus für die nachhaltige Umsetzung der staatlichen Gleichstellungspolitik auf allen Regierungsebenen funktioniert.
Während des Krieges steht der ukrainische Feminismus vor der Herausforderung, neue Botschaften zu entwickeln, um die Gleichberechtigung der Geschlechter zu kommunizieren, insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Männer der militärischen Mobilisierung unterliegen und die große Mehrheit der Männer das Land während des Kriegsrechts nicht verlassen darf. Und während die Kritik am Feminismus, insbesondere im Zusammenhang mit der Mobilisierung, vor der umfassenden Invasion Russlands nur sporadisch auftrat, besteht jetzt die reelle Gefahr einer zunehmenden antifeministischen und gleichstellungsfeindlichen Rhetorik.
Militärdienst: seine Pflicht, ihr Recht

Quellle: euronews.com
In Kriegszeiten können traditionelle Vorstellungen von Frauen- und Männerrollen verstärkt werden, da in den meisten Ländern, auch in der Ukraine, Frauen nicht zum Wehrdienst eingezogen werden. Auch die Staatsbürgerschaft ist stark geschlechtsspezifisch geprägt. Demnach ist es die Pflicht eines Mannes als Bürger, sein Land im Krieg zu verteidigen. Es ist die Bürgerpflicht der Frauen, die Männer im Krieg zu unterstützen. So werden in Kriegszeiten Geschlechtervorstellungen konstruiert, die auf der essentialistischen Vorstellung beruhen, dass Männer Beschützer sind, während Frauen durch ihre angeblich verletzliche „Natur“ geschützt werden.
Das im Februar 2022 in der Ukraine verabschiedete Gesetz über das Kriegsrecht basiert auf dieser Perspektive: Die meisten zivilen Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren können mobilisiert werden und dürfen das Land nicht verlassen. Dieses Gesetz bedeutet nicht, dass alle Männer eingezogen werden: Verschiedene Mobilisierungswellen umfassen die Mobilisierung unterschiedlicher Gruppen von Männern. Vorwiegend wird nun die bisherige militärische Erfahrung berücksichtigt. Bestimmte Gruppen von Männern sind von der Mobilisierung ausgenommen und dürfen das Land verlassen, oder sie können nur mit ihrer Zustimmung mobilisiert werden. Es handelt sich um Männer, die von der medizinischen Kommission aus gesundheitlichen Gründen als wehrunfähig eingestuft wurden; Männer, die drei oder mehr Kinder unter 18 Jahren haben; Männer, die Kinder unter 18 Jahren allein erziehen; Männer, die ein Kind mit einer Behinderung erziehen, Studenten und andere.
Einige Gruppen von zivilen Frauen mit bestimmten Berufen können ebenfalls mobilisiert werden, z. B. Ärztinnen. Nach Angaben der Militärbehörden wurde bis Juni 2022 keine zivile Frau ohne ihre Zustimmung zum Militärdienst einberufen.
In der Zwischenzeit sind Frauen, die trans sind (sofern sie ihre Papiere nicht geändert haben), gezwungen, im Land zu bleiben. Sie können auch mobilisiert werden, es ist wahrscheinlich, dass sie im Militär Aggressionen und Diskriminierung durch Kameraden erfahren.
Auch wenn nicht alle Männer oder nicht einmal die Mehrheit von ihnen an der Front sind, sind die geschlechtsspezifischen Erwartungen, dass Männer kämpfen sollen oder müssen, ziemlich stark. Laut einer CEDOS-Studie über den ersten Monat des Krieges gaben einige Binnenvertriebene an, sie hätten eine negative Einstellung zu sich selbst. Dies galt vor allem für Männer, da die Vorstellung vorherrschte, Männer seien Verteidiger und sollten kämpfen, aber nicht in sicheren Gebieten bleiben. Einigen Befragten zufolge führten diese Vorurteile zu Hindernissen beim Zugang zu Wohnraum: Die Leute wollten Männern nicht immer eine Wohnung geben.
Das erhebliche geschlechtsspezifische Gefälle bei der Beteiligung von Frauen und Männern an den Streitkräften ist verständlich, da Frauen nie eingezogen wurden, sondern ihnen nur die Berufsarmee zur Auswahl stand.
Die Frage nach der Stellung der Frauen in der Armee ist in der Ukraine nicht neu. Ab 2014, als der Krieg im Donbass begann, nahm die Zahl der Frauen in der Berufsarmee zu. Allerdings waren die Frauen mit der Tatsache konfrontiert, dass ihnen viele Positionen in der Armee verwehrt waren.

Ambassadorinnen des Invisible Battalion; Quelle: invisiblebattalion.org
Die Situation hat sich im Rahmen des Beratungsprojekts des ‚Unsichtbaren Bataillons‘ im Jahr 2015 geändert, als eine erste Untersuchung über Probleme von Frauen in der Armee durchgeführt wurde. Es stellte sich beispielsweise heraus, dass eine Frau als Kämpferin agierte, aber laut den Unterlagen offiziell als Buchhalterin angestellt war, da zu dieser Zeit viele militärische Berufe für Frauen aufgrund traditioneller Geschlechterstereotypen über die Rolle der Frau in der Armee verboten waren. Dann wurde die Liste der für Frauen zulässigen Militärberufe erheblich erweitert. „Nachdem in der Studie festgestellt wurde, dass Frauen in ihrem Dienst mit rechtlichen Hindernissen konfrontiert sind und keine besonderen Dienstbedingungen für sie vorgesehen sind, wurde die Notwendigkeit einer vollständigen Gleichstellung der Geschlechter im Sicherheitssektor und die Beseitigung der ‚gläsernen Decke‘ zum Gegenstand der öffentlichen Debatte“, so Hanna Hrytsenko, Mitautorin der Studie.
Vor Beginn des Krieges dienten 31 757 Frauen bei den ukrainischen Streitkräften, was 22 % der Gesamtzahl der Militärangehörigen entspricht. Dennoch sehen sich Frauen innerhalb der militärischen Strukturen immer noch mit Herausforderungen und daher mit Vorurteilen und Sexismus konfrontiert.
Auf der Ebene der Vorstellungen und Erwartungen wurden die Streitkräfte in der Vorkriegszeit stark mit Männlichkeit assoziiert. So ist es beispielsweise in vielen ukrainischen Schulen Tradition, dass Jungen am ukrainischen Feiertag „Tag des Verteidigers“ (dem Ehrentag der ukrainischen Streitkräfte) als „zukünftige Verteidiger“ beglückwünscht werden.
Gleichzeitig gibt es öffentliche Diskussionen über die Relevanz dieser Praxis angesichts des hohen Frauenanteils in den Streitkräften der Ukraine. Im Jahr 2021 wurde der „Tag des Verteidigers“ auf Initiative von weiblichen Abgeordneten des Parlaments offiziell in „Tag der Verteidiger und Verteidigerinnen“ umbenannt („Den zakhystnyka ta zakhysnytsi“).
Es wird angenommen, dass der Krieg die Sichtbarkeit von Frauen in den Streitkräften erhöhen wird, insbesondere derjenigen, die an der Front sind. So werden beispielsweise in jeder Rede von Volodymyr Zelenskyj nach Kriegsbeginn die „Verteidiger:innen“ beider Geschlechter erwähnt.
Nicht nur ein Opfer: neue Bilder und Rollen von Frauen
Die ukrainischen Frauen leisten einen unglaublichen Beitrag zum Sieg der Ukraine: Sie leisten Freiwilligenarbeit, kümmern sich um die Bedürfnisse der Front und der Zivilbevölkerung, evakuieren Menschen aus Kampfgebieten, kümmern sich oft allein um Kinder und arbeiten weiter.
Auch die große Mehrheit der feministischen Organisationen in der Ukraine arbeitet weiter. Sie haben ihre Aktivitäten umstrukturiert, um humanitäre Hilfe für Frauen, einschließlich gefährdeter Gruppen, zu leisten. Die meisten feministischen Organisationen sind aktiv am Aufbau eines Systems beteiligt, mit dem auf Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt reagiert und den Opfern geholfen werden kann.

Quelle: genderindetail.org.ua
Feminist:innen und feministische Ressourcen tragen außerdem wesentlich dazu bei, die Sichtbarkeit von Frauen während des Krieges zu erhöhen. Anlässlich des Muttertags, der in der Ukraine im Mai begangen wird, rief die beliebte Internetseite „Gender in Detail“ dazu auf, Geschichten über die Rolle der Mütter während des Krieges zu erzählen.
Eine wichtige Botschaft dieser Geschichten und Frauenbilder ist nicht nur die Sichtbarkeit von Frauen während des Krieges, sondern auch die Herausbildung eines alternativen Diskurses über weibliche Subjektivität und Agency im Gegensatz zum Diskurs der Viktimisierung.
Es gibt einige Initiativen, die nicht als feministisch bezeichnet werden, die aber ebenfalls zur Bildung eines neuen Diskurses über die Handlungsmacht von Frauen während des Krieges beitragen, im Gegensatz zur Unterstützungsrolle der Frauen.
Geschlecht ist im Krieg kein Kriterium mehr für Nützlichkeit oder Unnützlichkeit. So stellt Natalya Savranska in einer Reihe von Zeichnungen unter dem Titel „Jeder hat seine eigene Front“ die Idee unterschiedlicher und gleichwertiger Beiträge zum Sieg verschiedener Gruppen von Frauen und Männern dar: „Danke an die Mütter“, „Danke an die Tierschützer:innen“, „Danke an die freiwilligen Psycholog:innenen“, „Danke an die Bäuer:innen“. In den ukrainischen Medien wird auch viel über das „alltägliche Held:innentum“ ukrainischer Frauen berichtet: Arbeiterinnen im Evakuierungszug, Verkäuferinnen, Ärztinnen, Postangestellte, Lehrerinnen. Und schließlich widmete das Kalush Orchestra, Gewinner des Eurovision Song Contest 2022, sein Musikvideo „Stefania“ den Frauen und Müttern im Krieg.

Kalush Orchestra, „Stefania“; Quelle: youtube.com
Natürlich ist das nur ein Ausschnitt aus der komplexen Situation der ukrainischen Gesellschaft, und meine Sichtweise ist durch meine feministische Position und teilweise durch meine eigene Informationsblase geprägt. Neben den positiven Tendenzen gibt es auch negative.

Lesia Nikituk; Quelle: instagram.com
Zum Beispiel konstruieren einige von ihnen immer noch die zweitrangige Rolle der Frau, wie ein Flashmob der ukrainischen TV-Moderatorin Lesia Nikitiuk „Schönheit für die Streitkräfte“ mit einem Aufruf an Mädchen, „Männer, die an der Front sind, durch die Schönheit der Frauen zu inspirieren“.
Es besteht die Gefahr, dass Frauenkörper im Diskurs über die Verantwortung der Frauen für den Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg instrumentalisiert werden, insbesondere in Bezug auf die Demografie. Kürzlich wurden am selben Tag, dem 23. Mai, vier Petitionen von verschiedenen Autoren zum Abtreibungsverbot registriert. Ich hoffe jedoch, und bin mir sogar sicher, dass sie nicht zur Grundlage politischer Entscheidungen werden (bis zum 7. Juni erhielt eine der Petitionen nur 903 von den erforderlichen 25.000 Stimmen).
Retraditionalisierung oder mehr Gleichstellung?
Kritik an Frauen, die für die Gleichstellung der Geschlechter eintreten, gab es und wird es geben. Die Aufgabe des ukrainischen Feminismus besteht jedoch darin, nicht zuzulassen, dass sie zur Richtschnur wird, wodurch die Sichtbarkeit der Frauen verloren geht und ihr unglaublicher Beitrag zum Sieg abgewertet wird. Einerseits kann man nach den zahlreichen Berichten über die ungeheuren Herausforderungen, mit denen Frauen im Krieg konfrontiert waren, und den herausragenden Beitrag der Frauen zum Sieg eine diskursive Verschiebung in der Gesellschaft in Bezug auf Gleichberechtigung der Geschlechter erwarten. Andererseits besteht auch die Gefahr, dass sich traditionelle Geschlechtervorstellungen und -erwartungen verfestigen. Ein komplexeres Szenario ist wahrscheinlicher, wenn verschiedene widersprüchliche Diskurse und Frauenbilder gleichzeitig von unterschiedlichen Akteuren rekonstruiert werden.
Die ukrainische Frauenbewegung wird nicht nur mit kommunikativen und diskursiven Herausforderungen konfrontiert sein, sondern auch mit komplexeren, institutionellen und strukturellen Problemen als Folge des Krieges. Dramatischer Rückgang der Wirtschaftstätigkeit von Frauen, erwarteter Anstieg der häuslichen Gewalt, Hilfe für Opfer kriegsbedingter sexueller Gewalt, Verringerung der institutionellen Ressourcen für die Kinderbetreuung (z. B. sichere Kindergärten), Verschlechterung der Lage gefährdeter Frauengruppen aufgrund gekürzter Sozialausgaben. All diese und viele andere Probleme werden große Anstrengungen der Frauenorganisationen der Ukraine erfordern.