Vater Lueger, der Du wohnst in Wien, gelobt sei Dein Name, beschütze unser christliches Volk, Dein Wille geschehe allen christlichen Völkern dieser Erde, verschaff’ uns keine Börse, sondern nur christliches Brod, Vergieb uns allen Schuldnern, die durch jüdische Wucherhände sind betrogen worden, auch wir wollen ihnen vergeben, führe uns nicht in Versuchung eines anderen Sinnes zu werden, sondern erlöse uns von dem Juden-Übel Amen. (sic; Flugblatt 1896)
Neun Personen mit enger Verbindung zur Stadt Wien, acht, die vor dem Nationalsozialismus aus Österreich geflohen sind, um ihr Leben zu retten, einer, der Auschwitz überlebte. Ihre Namen sind: Evelyn Torton Beck, Elazar Benyoëtz, Riane Eisler, Zvi Jagendorf, Eric Kandel, Kurt Rosenkranz, Lore Segal, Fred Terna und Georg Stefan Troller. Neun Personen, Größen ihrer jeweiligen Disziplinen, vielfach ausgezeichnet – auch von der Stadt Wien und der Republik Österreich –, Personen, die vom Land, das sie verlassen mussten, gerne vereinnahmt wurden, haben der Stadt Wien ein Geschenk gemacht. Dieses Geschenk war, sich trotz allem dieser Stadt zuzuwenden, sich mit ihr zu beschäftigen und an ihren Bürgermeister in einem offenen Brief eine Bitte zu richten. Die Bitte, den Lueger-Platz im Herzen der Stadt umzubenennen und das darauf errichtete Karl-Lueger-Ehrenmal zu entfernen. So gern man sich auch noch gestern mit den Namen dieser neun Personen geschmückt hat, so wenig sind sie heute dem Bürgermeister, der sich selbst als Antifaschist bezeichnet, eine Antwort wert.
Ein stolzer Antisemit

Hans Zatzka, Apotheose auf Dr. Karl Lueger, ca. 1910; Quelle: wikipedia.com
Als ein Kind des Vormärz’ unternahm Karl Lueger in den 1870er-Jahren erste politische Gehversuche im liberalen Lager. Bald aber wandte er sich von diesem ab und trat ab 1887 offen antisemitisch auf. Wie sehr Luegers Programm fortan vom Antisemitismus bestimmt war, verdeutlichen die Namen der Listen Antisemitenliga und Vereinigte Antisemiten, auf denen er kandidierte. 1895 wurde er erstmals zum Bürgermeister der Stadt Wien gewählt, doch versagte ihm Kaiser Franz Joseph I. zunächst die Bestätigung im Amt. Erst nach der fünften Wahl und einer Intervention von Papst Leo XIII. beim Kaiser konnte Lueger 1897 das Amt antreten. Gemeinsam mit Adolf Stoecker in Deutschland stand Lueger an der Spitze der christlich-sozialen Bewegung, die den althergebrachten christlichen Antijudaismus auf das sozio-ökonomische Feld ausweitete und mit moderner Demagogie verband.
Gemeinsam mit seinem Widersacher Georg Schönerer, den er in politischer Bedeutung bald überragte, bildete Lueger das geistige Zentrum der, nach dem Historiker John Weiss, „schrillsten und populärsten rechtsradikalen Sozialbewegung, die Europa vor den Tagen Mussolinis und Hitlers gesehen hat“. Lueger forderte zur Zeit der Pogrome im Russischen Zarenreich auch in Wien Juden zu köpfen und wetterte, der Antisemitismus werde erst dann zugrunde gehen, wenn der letzte Jude zugrunde gegangen sei. Hitler – der noch in der „Kampfzeit“ eine Lueger-Medaille als Talisman um den Hals trug – bemerkte anerkennend, Lueger habe die Rettung des Staates im Antisemitismus gesehen. Luegers Antisemitismus war nicht, wie gelegentlich behauptet, „ein Produkt seiner Zeit“, hingegen war die Zeit, die auf Lueger folgte, mit ein Produkt seiner Rhetorik.
Denjenigen, die diese Zeit der Demütigung, Verfolgung und Vernichtung überlebten, eine Antwort zu versagen, wäre für sich genommen peinlich genug, doch beließ es die Stadt nicht bei dieser einen Ungeheuerlichkeit. Nein, sie weiß es auch besser; weiß besser als diese neun Shoa-Überlebenden, wie mit den Verletzungen der Vergangenheit umzugehen ist: „Wir müssen“, sagt Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, „späteren Generationen die Möglichkeit geben, sich kritisch zur Geschichte zu verhalten.“ Der einfachste Weg, das zu tun, ist, selbstredend, es selbst nicht zu tun, sondern die ganze Arbeit „späteren Generationen“ zu überlassen. Jene können dann gleich noch die Überheblichkeit und den Mangel an Empathie der vorangegangenen Generation mitaufarbeiten. Diejenigen, die fürchten, dass es, wenn dieser kleinste Schritt des Anstands gegangen ist, keine Möglichkeit mehr geben werde, sich im öffentlichen Raum mit den dunklen Kapiteln der Vergangenheit auseinanderzusetzen, kann ich beruhigen.

Das Lueger-Denkmal wird gereinigt, 1935; Quelle: sueddeutsche.de
Schließlich schrieb, wie die bis 1936 erschienene Wiener Sonn- und Montagszeitung einmal formulierte, Lueger „seinen Namen auf jeden irgendwie bekritzelbaren Stein“, „gemäß dem Gedanken“, wie Hitler anerkennend bemerkte, „daß, wenn die Worte nicht mehr reden, dann die Steine sprechen müssen.“ Auch vom „gottbegnadeten“ Nazi-Bildhauer Josef Müllner, der das Ehrenmal entworfen hat, steht noch allerlei Kitschiges und Deutschnationales in Wien herum. Von der angeblich drohenden „gereinigten“ oder „aseptischen“ Stadt, vor der die Kulturstadträtin wiederholt gewarnt hat, kann also keine Rede sein. Selbst wenn das Lueger-Ehrenmal irgendwann entfernt werden sollte – wir Jüdinnen und Juden wissen schon noch, wo wir sind.
Wessen Fleisch, wessen Wunde?
Nun liegt die Frage nahe, warum wir der nächsten Generation nicht das Geschenk machen, die Apotheose Luegers durch Müllners Ehrenmal nicht ertragen zu müssen? Die Antwort ist: weil es Jüdinnen und Juden sind, welche die schmerzliche Demütigung und die herablassende Provokation, die mit seinem Fortbestehen einhergeht, fühlen. „Wir halten das aus“, sagt die Kulturstadträtin und impliziert: dass ihr es nicht tut, ist nicht unser Problem. Darüber, in welches „Wir“ sich der Historiker Oliver Rathkolb einschließt, wenn er sagt: „zu suggerieren, wir sind besser als Lueger, finde ich nicht richtig“, lässt sich hingegen nur spekulieren. Kaup-Hasler und Rathkolb sind sich mit der Historikerin Heidemarie Uhl einig, dass der „Stachel im Fleisch“ erhalten bleiben müsse.
Gemeint ist das Fleisch der österreichischen Mehrheitsgesellschaft; für die jüdischen Perspektiven ist man blind und taub. Uhl spricht im Zusammenhang mit der Forderung nach Entfernung des Ehrenmals von der „Sehnsucht nach Unschuld und Reinheit“ und plädiert dafür, „die Wunde“ offen zu halten. Die Sprache, die hier verwendet wird, ist unverkennbar von katholischem Denken geprägt und alle drei reihen sich damit in die tief katholische Tradition ein, den Schmerz von Jüdinnen und Juden als den eigenen zu fetischisieren. Unsere Wunde. Unser Fleisch. Unser Lueger. Unser Wiener Kulturerbe des Antisemitismus, das wir schützen müssen. Schützen vor den Juden, die uns den Lueger wegnehmen wollen. Wir brauchen den Stachel für unsere Performance der Läuterung, für unseren Katechismus. Wir brauchen den Verweis auf die brutale Vergangenheit, um die auch nicht ideale Gegenwart milder erscheinen zu lassen. Euer Begehren aber ist uns nichts. Diese zynische und herablassende Haltung der Stadtpolitik entlarvt ihre vorgebliche Opposition zum Antisemitismus als etwas, das sie für sich selbst performt und nicht für Jüdinnen und Juden tut.
Reaktion anstelle einer Antwort
Diese Haltung ist am Lueger-Platz bereits in Bronze gegossen und in Stein gemeißelt, zur Sicherheit ist sie nun auch noch in Holz gefräst worden. Nicht genug, dass es am Anstand fehlte, den Überlebenden zu antworten, nicht genug, dass man überheblich behauptet hat, es besser als sie zu wissen, schließlich hat man auch noch beschlossen, dass es medientaktisch opportun sei, den Appell der Überlebenden zu übertönen. Denn es gab zwar keine Antwort, sehr wohl aber eine Reaktion auf den Appell: Eilig hat die Stadt Wien eine Pressekonferenz einberufen, um eine künstlerische Intervention vorzustellen, so unfertig, dass nicht einmal eine Baugenehmigung vorlag. Damit wird auch noch die Kunst herabgewürdigt und zu einem Spielball der Politik degradiert.

Die „Intervention“ beim Lueger-Denkmal; Foto: privat
Diese „Intervention“ ist nun eröffnet worden. Künstlerisch ist sie ein Versagen auf ganzer Linie und rief Reaktionen hervor, die von Unverständnis bis zu Entsetzen reichten. In einer groben, überaffirmativen Setzung vervielfachte das Künstlerinnenduo Six/Petritsch die Ehrung Luegers noch dadurch, dass es Holzsilhouetten von sechzehn Lueger-Ehrungen, die auf das Gebiet der Stadt Wien verteilt sind, auf dem Lueger-Platz aufstellen ließ. Als sei es der Luegerehrung noch nicht genug gewesen. Nebenbei sei bemerkt, dass es in Wien hunderte Errichtungs- und Eröffnungstafeln gibt, die während Luegers Amtszeit angebracht wurden. Weder Luegers Antisemitismus noch Müllners Nationalsozialismus werden von der „Intervention“ thematisiert. Dieses Projekt zeigt nur eines eindrücklich, nämlich, dass dem über zehn Meter hohen Ehrenmal mit den Mitteln einer „künstlerischen Kontextualisierung“ nicht beizukommen ist. Der Wunsch, die Verantwortung auf die Kunst abzuwälzen, ist nichts als Ausdruck der Feigheit, eine politische Frage auch mit politischen Mitteln zu lösen.
Gewollt bzw. geduldet
Die Kulturstadträtin sieht das freilich anders: „Das kann Kunst“, konstatierte sie im Rahmen eines Kolloquiums zum Thema im Wiener Museum moderner Kunst mumok. Nachsatz, nicht ohne einen Hauch von Arroganz gegenüber dem Fachpublikum aus Politik, Kunst und Geisteswissenschaften: „davon verstehe ich was.“ Immer wieder wurde von Seiten der Stadt betont, dass man für die auf die temporäre Intervention folgende permanente Umgestaltung des Ehrenmals „der Kunst“ möglichst viel Freiheit lassen wolle. Herausgekommen ist folgende erstaunliche Feststellung in den Unterlagen zur Ausschreibung, die bei einer Veranstaltung im Bezirksmuseum Wieden zitiert wurde:
Das Werk spiegelt mit seiner künstlerischen Ausgestaltung, seinen ikonographischen Inhalten und (in der Gesamtschau) seinen ikonologischen Zusammenhängen die offizielle, von der Stadtregierung gewollte bzw. geduldete Auffassung wider. Damit ist es ein historisches Dokument, das, wie jede andere Bild- und/oder Schriftquelle, authentisch, also unverfälscht zu erhalten ist. Jegliche Veränderung des mit dem Lueger-Denkmal überlieferten historischen Erscheinungsbildes durch substantielle Eingriffe ist daher nicht möglich.
Die gewollte bzw. geduldete Luegerehrung, der also um eine halbe Million Euro eine bessere Kontexttafel verpasst werden soll, will die Stadt nun möglichst schnell einzementiert sehen. Von ihrem „wir wissen es besser“ ließ sich die Stadt nicht durch die im mumok vorgebrachten wissenschaftlichen Argumente abbringen, nicht von den Stimmen der Shoa-Überlebenden, nicht davon, dass sich der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Oskar Deutsch ihrer Forderung mehrfach öffentlich angeschlossen hat, und auch nicht davon, dass ihr für die Jury reihenweise jüdische Menschen, von denen sie so gerne einen Koscher-Stempel wollte, abgesagt haben. Nichts aber illustriert diese Haltung treffender als das lässige „Schalom“, das die Kulturstadträtin einer Demonstration der Jüdischen Hochschüler:innen bei der Eröffnung der Intervention zugeworfen hat, um ihnen postwendend den Rücken zuzukehren und vor den Betroffenen von Antisemitismus zu erklären, was dieser sei und wie man mit ihm richtig umgehe.
Wird dieser Weg weiter beschritten, ist glasklar, für wen und gegen wen hier gehandelt wird. Der Wiener Theodor Herzl gründete die Zionistische Weltorganisation 1897, nicht zufällig in dem Jahr, in dem Lueger als Bürgermeister antrat. Herzl war kein Utopist, er erkannte, dass Jüdisches Leben unter Nicht-Juden zunehmend gefährlicher wurde. Heute, 125 Jahre später, werden Jüdinnen und Juden immer noch herablassend behandelt und ihre Sorgen werden ignoriert. Aus der Geschichte lernen? Vielleicht anderswo. Unsern Lueger lass ma uns net neman. Hätten die Alliierten nicht die Hitlerbüsten aus dem öffentlichen Raum entfernt, so würde die sozialdemokratische Stadtregierung wohl auch diese noch als der Geschichte mahnend verteidigen. Nur zu, wenn sie es ernst meinen mit dem Stachel: stellen wir sie wieder auf, nennen wir den Rathausplatz wieder Adolf-Hitler-Platz, vielleicht mit „kontextualisierender Zusatztafel“ früher Dr.-Karl-Lueger-Platz, von ihm so benannt während seiner Amtszeit als Bürgermeister. Sie wissen schon – niemals vergessen. Damit nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern alle, wissen, wo sie sind.