Wer nach Kalifornien reist, kommt eigentlich nicht ins Trump-Land. Kalifornien steht der neuen Regierung in Washington seit ihrem Antritt mehrheitlich kritisch gegenüber. Wen es gar an die Stanford Universität, nur wenig südlich von San Francisco, verschlägt, hat sogar den Eindruck, in dieser Elite-Schmiede mit ihrem grotesk schönen Campus hätten sich die letzten Marxisten des Planeten versammelt. Anders sieht es aus, wenn man ins ländliche Innere Kaliforniens gelangt, zu den riesigen Feldern, Rinderweiden und Obstplantagen rund um Fresno oder Bakersfield. Hier hängen immer noch ‚Support Trump!‘-Plakate des letzten Wahlkampfs an Laternen und Zäunen und auch neuere Bekundungen dieser Art finden sich regelmäßig am Straßenrand.
Leben hier also die so genannten Abgehängten, Vergessenen, von der Globalisierung Überrollten und Ausgespuckten, von denen wir in den Analysen zum heutigen Populismus immer wieder lesen? Es gibt hier sicher wirtschaftliche Probleme, aber ‚abgehängt‘ ist hier niemand. Kalifornien alleine ist die sechst-größte Volkswirtschaft der Welt. Wer hier weniger als 100.000 Dollar im Jahr verdient, zählt zur unteren Einkommensklasse. Die wirklich Abgehängten findet man in den Städten: überwiegend schwarze Obdachlose, die mit ihren Einkaufswagen umherwandern, um Dosen und Flaschen aus den Mülleimern zu sammeln. Noch sind es nicht so viele wie in den 1980er Jahren, aber ihre Zahl steigt. Trump-Wähler wird man unter diesen wahrhaft Abgehängten jedoch kaum finden – mal davon abgesehen, dass in den USA niemand, der einmal eingesperrt war, überhaupt noch wählen darf.
Wie jeder weiß, wird der Reichtum Kaliforniens vor allem in jenem Landstrich zwischen San Francisco und San José produziert, in dessen Mitte die Stanford Uni mit ihren teils erstaunlich linken Studenten liegt: im Silicon Valley. Wer als Gast der Uni keine Campus-Wohnung gestellt bekommt, muss sich hier nach einer Unterkunft umsehen und darf dann für ein Einzel-Zimmer in einem Privathaushalt durchschnittlich 2000 Dollar im Monat zahlen. Dafür aber kommt er mit den sonderbaren Bewohnern dieses Tals in Kontakt, mit jenen Menschen, für die die Digitalisierung längst eine Lebensform geworden ist. Neben den Giganten wie Google und Facebook gibt es hier hunderte weitere Firmen und Start-ups, die Tausende von Managern, Programmierern, Tech-, Sales- und Business-Leuten beschäftigen, mit sagenhaften Gehältern, aber ohne jegliche Absicherung.

Der Apple Campus im Silicon Valley; Quelle: cnbc.com
Da es hier ausschließlich um Virtuelles geht – soft-ware und soft-skills – brauchen diese Menschen oft nur ein Smartphone, um ihren Job zu machen. Mit ihm sind sie gefühlt 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche beschäftigt – zu Hause, bei Starbucks, am Strand. Von den mehreren Hunderttausend Dollar, die sie im Jahr verdienen, kaufen Sie sich Häuser und sehr oft Sportgeräte. Hinzu kommt der fast schon obligatorische ‚Tesla‘ oder zumindest ein Fahrzeug mit Hybridantrieb.
Anti-populistischer Populismus
Man könnte meinen, dass diese Menschen in einer abgeschlossenen Welt des informationstechnologisch-grünen Hyperkapitalismus leben. Doch das stimmt so nicht ganz. Zum einen haben sie alle sehr normale Herkunftshintergründe. Kaum einer von ihnen ist hier geboren, sie kommen aus den gesamten USA und zu großen Teilen auch aus der gesamten Welt hierher – gleichen sich dann aber zumindest äußerlich und habituell erstaunlich schnell einander an. Zum andern sind sie auch nur bedingt abgeschottet. Ob es nun um das gerade gefallene WM-Tor, Trumps siebzehnten Tages-Tweet oder auch Horst Seehofers jüngsten Vorschlag geht, wie man Deutschlands Grenzen doch noch schließen kann – diese Menschen in Kalifornien wissen es sofort. Nachrichten fast ohne Verzögerung konsumieren zu können, ist Teil der medialen Welt, die sie geschaffen haben.
Wenn man allerdings mit ihnen über diese Dinge spricht, wird man manches erklären müssen: „Who the fuck is Seehofer?“ Ansonsten aber sind die Bewohner des Tals politisch informierter und – oft mit Abschlüssen der Top-US-Universitäten – auch gebildeter als man europäisch-vorverurteilend meint. Und wenn dann der Name Trump fällt, versichern sie einem unmittelbar, ungefragt und mehrfach: „I hate him, I really hate him!!“ In so einem Moment sollte man am besten still sein und abwarten. Denn dann, nach einer kleinen Pause, kommt fast unweigerlich der Zusatz: „But, you know, to be honest…“
Was dann folgt, lässt sich vielleicht am besten als anti-populistischer Populismus bezeichnen. Sie mögen Trump persönlich nicht, und auch nicht seine höchst unamerikanische ruppige Art, seine peinliche sprachliche Eindimensionalität oder seinen übertriebenen Nationalismus. Dass Amerika aber wieder ‚groß gemacht‘ werden muss, dass das Land und eigentlich die ganze Welt dringend einer Erneuerung bedürfen – das stellt sich in den Gesprächen relativ schnell als ein Konsens heraus, der offenbar weit über jene 35% bedingungsloser Zustimmung hinausgeht, die Trump immer noch genießt. Man muss nachbohren, um zu verstehen, was diese Leute umtreibt. Dann zeigt sich, die Menschen im Silicon Valley leiden an einer Antinomie; sie leiden an zwei sich ausschließenden Wünschen: dass der Rest der Welt doch endlich auch so leben, denken und fühlen sollte wie sie selbst – und dass sie, wie alle anderen auch, ihre mediale Kunstwelt endlich auch als eine echte partikulare Heimat sehen und erleben können.

Campus der Stanford University; Quelle: diarystore.com
Ihnen ist durchaus bewusst, dass jeder dieser Wünsche für sich irreal und irrational ist. Da draußen gibt es nun mal Gegenden und Verhältnisse, die mit Kalifornien nicht vergleichbar sind, und zumindest heimlich wissen sie, dass alles Fahrradfahren, alles Arbeiten und alle Häuser mit Garage, Pool und Toreinfahrt aus dem Valley keine Heimat machen. Wie der Stanford-Campus so ist das ganze Tal eine paradiesische Blase, eine Art sozioökonomischer Nationalpark, in dem man zu Gast ist, aber niemals ‚lebt‘. Von den sozialen und kulturellen Wirklichkeiten des nahen San Franciscos, Chicagos oder New Yorks und erst Recht Europas, Afrikas oder Asiens scheint das Valley weiter entfernt als der Mond.
Je mehr die Bewohner des Valley wissen, dass sie in einer paradiesischen Blase leben, desto mehr scheint sich bei ihnen eine eigenartige Eifersucht auf alle anderen im Land und in der Welt zu entwickeln: auf diejenigen, die ökonomisch viel weniger leisten, viel mehr soziale Probleme und damit eigentlich ein viel schlechteres Leben haben, dafür aber etwas Besonderes besitzen, eine partikulare Identität, eine Tradition und eine gewachsene Zugehörigkeit. Dagegen gibt es im Valley ausschließlich die Dinge, die sich überall finden lassen: Apple, Google, Facebook, Starbucks… In gewisser Weise ist das Silicon Valley eine radikalisierte Version dessen, was generell ein Aspekt der amerikanischen Selbstwahrnehmung ist. Wie es mir ein amerikanischer Freund einmal erklärte: Stell Dir vor, die Nationen versammeln sich, wie zu einem Familientreffen, in einem großen Haus. Anfänglich sind alle im großen Wohnzimmer, aber nach und nach werden sich die verschiedenen Nationen in ihre ganz eigenen, besonderen Räume und Zimmer zurückziehen: die Finnen in ihr hölzernes Dachgeschoss, die Deutschen in ihre Bibliothek, die Japaner in ihr Washitsu und so weiter. Die einzigen, die am Ende im großen Wohnzimmer zurückbleiben und fernsehen, sind die Amerikaner – denn sie haben kein anderes Zimmer, keinen eigenen Rückzugsort.
Leere Räume: Silicon Valley und amerikanische Heartlands
Das Wissen der Amerikaner um die sehr dünne Haut ihrer Nationalkultur, gerade angesichts der vielen Traditionen und Kulturen, die in den USA im Laufe der letzten 200 Jahre einen neuen Lebensort gefunden haben, sollte man nicht unterschätzen. Denn manchmal wird daraus ein Minderwertigkeitsgefühl, das sich in Aggression verwandeln kann. Damit wird konfrontiert, wer von Kalifornien aus nach Osten, ins so genannte amerikanische Heartland fährt, wo die Staaten so schöne indianische Namen haben wie Idaho oder Wyoming. Wer hier als Deutscher erkannt wird, kann von den ‚Einheimischen‘ schon mal gefragt werden, warum wir Deutschen denn nicht schon längst Merkel erschossen hätten. Das dabei zu Schau gestellte Augenzwinkern ist dann alles andere als beruhigend.

Jackson Hole, Wyoming; Quelle: vogue.com
Hier trifft man in der Tat den harten Kern der Trump-Wähler, die ihn für einen Messias halten, der gekommen ist, endlich das wahre Amerika wiederherzustellen. Sie inszenieren sich als einfache Leute, die ein einfaches Leben führen, auch wenn sich bei genauerem Nachfragen herausstellt, dass die meisten Jahre außerhalb ihres Heartlands verbracht haben: in den großen Küstenstädten oder als Geschäftsleute und Soldaten sogar weit jenseits der amerikanischen Heimat. Andere leben eigentlich als Rentner an den Stränden Floridas. In der ländlichen Idylle Wyomings aber fühlen und geben sie sich alle als Ur-Amerikaner.
Greift man das Merkel-Thema auf und spricht mit ihnen über Deutschland und Europa, das sie fast alle durch Reisen kennen, wird man belehrt, wie es in Europa wirklich sei: deutsche Bürger würden auf Merkels Anordnung aus ihren Wohnungen gejagt, um Platz für Flüchtlinge zu schaffen; ehemals schöne deutsche Städte wie Heidelberg oder München versänken in der Kriminalität ausländischer Banden; und Paris sei „the dirtiest city of the world“, denn man sehe dort überall Muslime. Auch sollten die Deutschen jetzt endlich mal diese Sache mit den Juden vergessen. Seit Trump müssten sie sich selber ja endlich auch nicht mehr wegen der Indianer und der Sklaverei entschuldigen. Das müsse man nur noch in Kalifornien, wo die „liberalen Nazis“ leben. Und überhaupt: „Wenn ich Sklaven hätte, wäre ich total nett zu ihnen.“
So schwer es fällt, bei solchen Gesprächen ruhig zu bleiben (dabei hilft das Wissen, dass diese Menschen alle bewaffnet sind), so merkt man doch rasch, wie hohl, leer und unbestimmt das ist, was diese Leute unter ihrer eigenen, ur-amerikanischen Identität verstehen. Die multiplen Feindbilder bilden eine Mauer, hinter der sich nichts verbirgt. Ihr Heartland besuchen und betrachten sie wie wir ausländischen Reisenden auch. Selbst wenn sie hier leben, bleiben die Prärien, Wälder und Berge Kulisse. Dem alltäglichen Leben gehört diese atemberaubende Wildnis schon längst nicht mehr an. Das meiste davon liegt in streng reglementierten Nationalparks, die man weder frei durchstreifen noch besiedeln kann. Der Alltag dieser selbsterklärten Ur-Amerikaner unterscheidet sich kaum von dem in Kalifornien: Familie, Schule, Haus und Google, Walmart, Starbucks.
Wie in Kalifornien, hat man auch hier das Gefühl, in einer unwirklichen Welt zu sein. Die Wüsten von Nevada, der Yellowstone-Park in Wyoming oder die Canyons von Colorado – das sind keine Landschaften, sondern Naturgärten, die uns aus Filmen so bekannt sind, dass man an ihrer Realität gerade dann zweifelt, wenn man mitten drinsteht. Auch den Eingeborenen hier gelingt es kaum, diese Natur mit ihrer Identität zu verbinden. Gleich mehrere dieser Landschaftsstaaten rund um die Rock Mountains nennen sich ‚big sky country‘. Das bezieht sich auf den Himmel, der hier in der Tat größer erscheint als anderswo; ebenso aber verrät der Slogan die völlige Leere dieser Räume. Weshalb auf ihre Bewohner, auch wenn sie sich schon vor Generationen dort angesiedelt haben, zutrifft, was die Menschen in den Küstenstädten sagen: „Nobody is actually living in Wyoming“.
Das Plurale aus der Welt vertreiben
Der populistische Slogan: „Make America great again“ zielt nicht zuletzt auf diese fast tragische Leere Amerikas, auf seinen heterotopischen Zustand. Trump selbst mag damit das Wirtschaftswunder-Amerika der 50er Jahre im Auge haben, das er mit seinem neoliberalen Protektionismus und der provokativen Suche nach echten Feinden wieder herbeizaubern will. Für seine Anhänger, Wähler und Dulder aber geht die Sache tiefer. Sie betrifft einen stark gefühlten Verlust an partikularer Zugehörigkeit in einem Land, das militärisch, technologisch und popkulturell weiterhin die letzte Weltmacht des Planeten ist.
Es scheint, als hätten viele Amerikaner vergessen, woher diese bis heute spürbare Überlegenheit ihres Landes wirklich kommt: nämlich aus der Kombination von Vielheit und Freiheit, von höchster Diversität und ältester modern-demokratischer Verfassung. Statt sich auf diese Tradition und somit darauf zu besinnen, dass das Wohnzimmer eigentlich nicht der schlechteste Ort zum Leben ist, suchen viele geradezu verzweifelt nach einer partikularen Kernidentität und echten Heimat. Da diese aber weder von der virtuellen Wirtschaftsleistung Kaliforniens noch von den leeren Naturräumen des mittleren Westens geliefert wird, greift man auf das zurück, was in Amerikas Identitätskrisen immer bereitlag, um künstlich und mit Hilfe bestimmter Ausschließungen aus ‚pluribus‘ ‚unum‘ zu machen: Race.
Je mehr es das ‚Heartland‘ eben nicht als eine gegebene Partikularität, sondern als ihre mühsam erzeugte Imitation herausstellt, desto plausibler erscheint jener Mythos von einer einstmals weißen Überlegenheit, die man verloren habe und die jetzt, zur Wiederherstellung des ‚echten‘ Amerikas, endlich durchgesetzt werden müsse. Die Vision eines homogenen Amerika, das es niemals gab, füllt die Blase mit einem imaginären Inhalt. Im Silicon Valley führt das zu einer verbissenen Arbeit am Utopischen, an einer technisch und medial, am Ende aber auch kulturell und ethnisch gleichgeschalteten ‚schönen neuen Welt‘. In Wyoming führt es zu Ressentiment und Phantasien der finalen Selbstverteidigung. Hier wie dort aber tendiert man derzeit dazu, den auf jedem Dollarschein abgedruckten Nationalslogan – e pluribus unum – als Aufruf zu verstehen, das Plurale endgültig aus dem Land und aus der Welt zu vertreiben.
Erträumte Paradiese auch in Europa?
Spätestens an dieser Stelle seiner Beobachtungen wird dem Reisenden aus Europa, der in die USA fast immer mit einem klammheimlichen Überlegenheitsgefühl fährt, unheimlich zumute. Denn ist es inzwischen bei uns nicht ganz ähnlich? Europa hat sich politisch, ökonomisch und kulturell in den letzten dreißig Jahren wahrscheinlich mehr amerikanisiert als jemals zuvor: Neoliberalismus, Einwanderung, High-Tech und das europäische Ringen um Bundesstaat oder Staatenbund – alles alte amerikanische Themen und Traditionen, über deren nachholende Diskussion in Europa sich manche Amerikaner durchaus ein wenig amüsieren können. Und auch unser Rechtspopulismus ist von demjenigen in den USA gar nicht so verschieden. Implizit redet er schon längst von einer wiederherzustellenden ‚weißen Überlegenheit‘ und sein Nationalismus bezieht sich schon längst nicht mehr auf die gegebenen nationalstaatlichen Gemeinschaften, sondern sucht diesseits wie jenseits der nationalen Grenzen nach dem bedrohlich Fremden, das es zu bekämpfen gilt. Das quer über Europa verteilte, vielstimmige Gerede von Heimat, Identität und dem ‚Eigenen‘ ist unschwer als mühsamer Erhalt einer Hohlwelt erkennbar, die allein in der Aktion gegen das erklärte Nicht-Zugehörige als ‚Eigenes‘ erfahrbar wird.
Und ist nicht auch die EU bislang eine recht mühsam aufrecht erhaltene Rahmenkonstruktion, deren innere politische Ordnung umso prekärer wird, je verflochtener die wirtschaftlichen Abhängigkeiten sind? Immer noch lebt das europäische Projekt, dem Silicon Valley nicht unähnlich, von einem utopischen Überschuss, von der paradiesischen Vision eines wahrhaft geeinten, freien und gleichen Kontinents. Doch ist es wohl gerade jetzt an der Zeit, diese Vision auch explizit und politisch zu verhandeln, sich nicht mehr auf die Vereinigungseffekte der ökonomischen Verflechtung zu verlassen, sondern eine internationale Debatte darüber zu führen, was Europa sein will und sein soll. Denn sonst tun das andere Leute, wie etwa die ‚Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes‘. Erträumte Paradiese können politisch hoch motivierend sein. Doch man kann sich in Ihnen auch komplett, und mit fatalen Konsequenzen, verlieren.