„Tugendwächter“ und „Moralapostel“ sind gerade die Lieblingswörter im nicht mehr nur konservativen Feuilleton. Es wird Kunstzensur gewittert. Proteste einzelner werden als „moralischer Totalitarismus“ gedeutet. Doch was passiert, wenn Protest als Zensur interpretiert wird?

„Wenn wir jetzt anfangen in der Kunst alle die, die salopp gesagt, Arsch­lö­cher sind, heraus­zu­schneiden, dann fürchte ich, dass es in unseren Biblio­theken, in unseren Museen, in den Kinos wahn­sinnig leer wird“, sagte Thea Dorn pole­misch auf die Ankün­di­gung Ridley Scotts, Kevin Spacey aus seinem neuen Film Alles Geld der Welt heraus­zu­schneiden. Diese Vorstel­lung ist natür­lich furchtbar: Lolita ohne Humbert Humbert, Effi Briest ohne Geert von Innstetten, Manhattan ohne Isaac.

Aber geht es viel­leicht auch etwas weniger drama­tisch? Warum sollte man anhand dieses einen Beispiels gleich eine apoka­lyp­ti­sche Vision entwi­ckeln, zumal in diesem Fall die kommer­zi­ellen Gründe des Studios und die Angst, alle Chancen auf einen Oscar zu vermas­seln, wahr­schein­lich wich­tiger waren als moralische?

Kelley Walker, schema; Aquaf­resh plus Crest with Whitening Expres­sions (Kelis), 2006. CD Rom with color poster, dimen­sions variable. Cour­tesy the artist; Paula Cooper Gallery, New York; Thomas Dane Gallery, London; and Galerie Gisela Capi­tain, Cologne, Quelle: news.artnet.com

Aller­dings ist Dorn bei weitem nicht die Einzige, die sich gerade zu solchen Über­trei­bungen hinreißen lässt. Mehrere Artikel spre­chen in diesem Jahr von einer neuen Zensur, einer „Zensur von unten“ oder etwas pole­mi­scher von einem „Tanz der Tugend­wächter“ – so Hanno Rauter­berg in der Zeit. Rauter­bergs Artikel beginnt mit der Ankün­di­gung: „Skulp­turen werden vernichtet, Gemälde wegge­sperrt: Poli­tisch korrekte Kunst erobert die Museen von Kassel bis New York. Es trium­phiert der Bieder­sinn“. Allein: Im Artikel werden nur drei einzelne Fälle genannt, Kelley Walker, Dana Schutz, Sam Durant, bei denen es ausserdem gar nicht um Zensur, sondern um einige protes­tie­rende Dakota-Indianer, einige protes­tie­rende Afro­ame­ri­kaner und einige protes­tie­rende „ansonsten libe­rale“ Künst­ler­kol­le­gInnen ging. Der Autor muss nach seinem alar­mis­ti­schen Anfang irgendwo in der Mitte des Arti­kels selbst zugeben, dass in Europa bislang kein Fall dieser Art bekannt ist… Da hatte er wohl nicht mitbe­kommen, dass gerade der AStA der Alice Salomon Hoch­schule in Berlin mit einem freund­li­chen Brief gegen ein auf die Fassade des Univer­si­täts­ge­bäudes geschrie­benes Gedicht von Eugen Gomringer protes­tierte. „Wir sind zutiefst beun­ru­higt über eine Entwick­lung, die darauf abzielt, der Kunst einen Maul­korb vorzu­spannen oder sie gar zu verbieten“, erklärte darauf der deut­sche PEN.

Die Realität ist viel schlimmer, hat aber in der PC-Erzählung keinen Platz

Keine Frage, auch diese Proteste gegen künst­le­ri­sche Arbeiten müssen kritisch disku­tiert werden. Das wird ja auch auf allen Kanälen getan, und zwar ohne jede Einschrän­kung. Auch mir geht es über­haupt nicht darum, die genannten Proteste oder gar die Selbst­zensur von Scott zu vertei­digen. Die Frage, die mich beschäf­tigt, ist viel­mehr: Was bedeutet es für die Kunst­kritik, wenn sich Erklä­rungen wie jene des PEN Zentrums inzwi­schen ganz selbst­ver­ständ­lich das Voka­bular und den Plot des Kampfes gegen die angeb­liche Bedro­hung durch „poli­ti­sche Korrekt­heit“ zu Eigen machen: Warum werden diese wenigen, immer glei­chen Fälle dazu verwendet, „Poli­tical Correct­ness“ als neuen Kunst­zensor darzustellen?

Denn Tatsache ist, dass welt­weit ganz andere Prot­ago­nisten gegen Kunst protes­tieren, die Kunst­pro­duk­tion beschränken und Kunst tatsäch­lich zensieren. Fragt man nicht danach, über­sieht man die poli­ti­sche Dimen­sion dieser neuen Metaer­zäh­lung. In dieser Erzäh­lung will der Femi­nismus die Kunst steri­li­sieren, wollen ethni­sche Minder­heiten die Perspek­tive der Mehr­heit gefährden und soll Protest als Zensur erscheinen.

Alek­sandr Savkos Gemälde „Die Reise von Micky Mouse durch die Kunst­ge­schichte“ gilt seit 2010 in Russ­land als „extre­mis­tisch“ und darf nicht gezeigt werden.

Dass die Realität der Kunstzensur- und -beschrän­kung viel schlimmer und ganz anders ist als in der Political-Correctness-Erzählung, kann man leicht recher­chieren: Über Zensur und Angriffe auf Kunst­werke erscheint jedes Jahr ein Report von der NGO free­muse. Dort wird frei­lich eine andere Geschichte doku­men­tiert; auch weil es nicht nur um die USA und um West­eu­ropa geht. Nach wie vor wird Zensur welt­weit in den meisten Fällen durch auto­kra­ti­sche Regime, durch reli­giösen Funda­men­ta­lismus und durch Natio­na­lismus ausgeübt. Doch selbst wenn man bei hiesigen Debatten den Rest der Welt wie gewohnt vergisst, lässt sich auch für die west­liche Welt eine Bedro­hung durch Minder­heiten und Femi­nis­tinnen nur durch das Ausblenden anderer Akteure konstruieren.

Anhand der syste­ma­tisch erho­benen Daten müsste man sagen: Es gibt immer wieder neue Gruppen, die anfangen, gegen Kunst zu protes­tieren. Und richtig wäre es zu fragen, warum die Proteste dieser Gruppen anders inter­pre­tiert werden als die Proteste der Gruppen, die das seit Jahren zum Teil orga­ni­siert machen: die grosse Gruppe der Katho­liken bzw. reli­giösen Funda­men­ta­listen verschie­dener Reli­gionen, die oft nicht nur protes­tieren, sondern auch mal Kunst­werke, die ihnen zu obszön oder gar blas­phe­misch erscheinen, kurzer­hand zerstören (die ehema­ligen „Tugend­wächter“). Oder die Gruppe der Poli­tiker ganz unter­schied­li­cher Parteien, die sich aus ebenso unter­schied­li­chen Gründen dafür einsetzen, dass Förder­gelder gestri­chen werden. Legendär war z.B. der repu­bli­ka­ni­sche Senator Jesse Helms in den 80er Jahren, der den Verein National Endow­ment for the Arts auffor­derte, den Künstler Robert Mapp­le­thorpe nicht mehr finan­ziell zu unter­stützen, weil er auf seinen Fotos Homo­se­xua­lität darstelle. Oder der New Yorker Bürger­meister Rudolph Giuliani, der 1999 nach der Eröff­nung der Ausstel­lung Young British Artists from the Saatchi Coll­ec­tion forderte, die städ­ti­schen Subven­tionen für das Museum zu strei­chen. Oder die Gruppe der Firmen, die gegen die Verwen­dung von Logos und Marken in künst­le­ri­schen Arbeiten klagen, die Gruppe der Eltern, die Angst haben, dass ihre Kinder früh­zeitig durch Lite­ratur oder Kunst ‚verdorben‘ werden, oder die Gruppe der Künst­ler­kol­le­gInnen, die aus ganz unter­schied­li­chen Gründen durch Gutachten oder Jury­mit­glied­schaft oder Proteste künst­le­ri­sche Arbeiten verhindern.

Protest oder Zensur?

Gegen Manaf Halbounis Instal­la­tion mit dem Titel „Monu­ment“, die an ein Bild aus Aleppo erin­nert, das 2015 um die Welt ging, hat Pegida in Dresden protestiert.

Schaut man sich die Bericht­erstat­tung über Proteste gegen Kunst an, dann ist letzt­lich entschei­dend, wie diese erzählt werden. Wird der Protest einfach als Protest erzählt? Oder schon als Zensur? Dazu viel­leicht ein paar andere Beispiele: 2017 wurde in Deutsch­land schon im Februar gegen das „Monu­ment“ – die drei ausran­gierten Buswracks – von Manaf Halbouni in Dresden protes­tiert. Es versam­melten sich Hunderte Pegi­da­an­hänger, sie beschimpften Poli­tiker als „Volks­ver­räter“, spra­chen von „Entar­teter Kunst“, forderten, das „Monu­ment“ zu entfernen. Niemand sprach in der Presse von Zensur durch Pegida. Sogar als der Ober­bür­ger­meister Dirk Hilbert Poli­zei­schutz wegen Mord­dro­hungen bekam, Mord­dro­hungen an den Künstler gingen, wurde nicht von versuchter Zensur gespro­chen. Man hat das Ganze beschrieben als das, was es war: als ein Protest mit rassis­ti­schen Parolen und verbaler Gewalt gegen einen Künstler.

Ähnlich ist es, wenn einige Katho­liken oder Protes­tanten bzw. ortho­doxe Gläu­bige gegen Kunst­werke demons­trieren und diese sogar zerstören, wenn diese ihre reli­giösen Gefühle verletzt sehen – das sind in der west­li­chen Welt immer noch die meisten Fälle. Niemand schreibt dann von einer katho­li­schen Zensur oder von einer reli­giösen Zensur. Dies nicht mal dann, wenn wie im Fall von Andres Serranos Arbeit Piss Christ – ein Christus-Kreuz in einer rötlich-gelben Mischung aus Urin und Blut – die Arbeit mehr­fach zerstört wurde und die Proteste zu einer Verän­de­rung des Förder­ge­setzes in den USA führten. Der Protest erwirkte die Einfüh­rung des soge­nannten Helmes-Amendments, das die Förder­mittel des National Endow­ment for the Arts (NEA), die Serranos Arbeit zum Teil geför­dert hatte, beschnitt und für alle stren­gere Förder­kri­te­rien einführte.

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Genauso wenig führten die vielen Gerichts­pro­zesse, die Firmen seit 1998 wegen der angeb­li­chen Verlet­zung von Marken­rechten gegen künst­le­ri­sche Arbeiten führen (Einfüh­rung des Digital Mill­en­nium Copy­right Act, der die Rechte der Copyright-Inhaber stärkt), zu Schlag­zeilen wie „Kapi­ta­lismus zensiert Kunst“ oder „Pop-Art heute nicht mehr möglich“ – obwohl diese Schlag­zeilen durchaus ihre Berech­ti­gung hätten. Oder als zwischen 2001 und 2004 in Deutsch­land gleich vier Roman­au­torInnen (Birgit Kempker, Maxim Biller, Alban Nikolai Herbst, Rein­hard Lieber­mann) wegen Verlet­zung des Persön­lich­keits­rechtes ange­klagt wurden, wurde kaum darüber disku­tiert, ob es nun in Zukunft nicht mehr möglich sei, Auto­bio­gra­fien (selbst stark fiktio­na­li­sierte) zu schreiben.

Protest als Zensur

Bei den nun auch den Kunst­be­trieb errei­chenden Pole­miken gegen „Poli­tical Correct­ness“ wird über­deut­lich, dass es sich nicht etwa um einen Frei­heits­kampf oder um eine Tole­ranz­er­zäh­lung handelt. Die Erzäh­lung über die Angst, die „Arsch­lö­cher“ könnten aus der Kunst entfernt werden, oder die Angst, alle Schwarzen könnten jetzt gegen die Darstel­lung von Schwarzen durch Weiße protes­tieren, basiert ja bereits auf einer retro­ak­tiven Logik, die den Protest als Ursache des gesamten Problems liest. Jenseits des Kunst­be­triebs führt das inzwi­schen dazu, dass das im Übrigen grund­ge­setz­lich geschützte Recht auf Protest nicht nur als Zensur, sondern sogar als Einschrän­kung von Meinungs­frei­heit umge­deutet wird. So soll der Protest gegen Sexismus als das eigent­liche Problem wahr­ge­nommen werden, nicht der Sexismus, der Protest gegen Rassismus als das Problem, nicht der Rassismus.

P.S. Dass umge­kehrt Arsch­lö­cher jetzt als solche benannt werden und dass ihre Kunst sie nicht davor rettet, auch als solche wahr­ge­nommen zu werden, steht auf einem anderen Blatt. Nabokov hat genau darüber einen Roman geschrieben, der selbst viel­fach auf dem Verbots­index stand: Lolita. In Lolita gesteht der Verge­wal­tiger Humbert Humbert in einem, wie er es selbst nennt, „extra­va­ganten Prosa­stil“ seine Schwäche für präpu­ber­täre Mädchen. Weil viele Leser nicht verstanden hatten, dass da nicht Nabokov spricht, sondern eine lite­ra­ri­sche Figur, hatte es immer wieder Verbots­pro­zesse um das Buch gegeben. Dabei hatte doch Nabokov in einem fiktiven Vorwort das gesamte Geständnis von Humbert Humbert als ein Rezep­ti­ons­expe­ri­ment ange­kün­digt: Wird Humbert Humbert mit seiner verfüh­re­ri­schen Rhetorik, mit seiner „singenden Violine“, die Geschwo­renen bzw. die Lese­rInnen von der Tat ablenken können? Fallen wir am Ende alle auf Humbert Humbert, den begna­deten Wort­künstler, herein?