Je lauter der Ruf nach einer „populistischeren“ Linken wird, desto mehr häufen sich die Vorwürfe, linker Populismus sei nichts als Anbiederung an völkische Ressentiments. Doch angesichts der Krise neoliberaler Hegemonie ist ein linker Populismus heute von entscheidender Bedeutung.

  • Jens Andermann

    Jens Anderman lehrt iberoamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Zürich und zuvor an Universitäten in London, Princeton, Duke, Buenos Aires und Rio de Janeiro.

Brexit, Trump, Le Pen und die AfD: allent­halben, so scheint es, laufen heute die ‚Globa­li­sie­rungs­ver­lierer‘ demago­gi­schen Bauern­fän­gern zu, die ihnen die Rück­kehr in die Goldenen Sieb­ziger verspre­chen – oder wenigs­tens das Ausmerzen der ‚Schma­rotzer‘, von den Auslän­dern bis zu den Eliten, von der ‚Lügen­presse‘ bis zu den ‚Sozi­al­be­trü­gern‘.

Cris­tina Kirch­ners letzter ‚Plaza de Mayo‘ im Dezember 2015.

Der Ruf nach einem ‚linken Popu­lismus‘, der den Rechten nicht kampflos das Feld der Globa­li­sie­rungs­kritik über­lässt, ließ nicht lange auf sich warten. „Popu­lismus? Aber gerne!“ titelte die taz im April 2015. Und die Poli­to­login Chantal Mouffe rief in einer Reihe von Essays und Inter­views nach einem „plebe­ji­schen Repu­bli­ka­nismus“, der – wie Syriza und Podemos im Süden Europas oder die links­na­tio­na­lis­ti­schen Koali­tionen der latein­ame­ri­ka­ni­schen „rosa Welle“ – gegen den „post­po­li­ti­schen“ Status quo des Neoli­be­ra­lismus rebel­lieren müsse, um die radi­kale Agenda von Gleich­heit und sozialer Gerech­tig­keit erneut in Stel­lung zu bringen.

Ein Spiel mit dem Feuer, warnten Kritiker wie der ‚Extre­mis­mus­experte‘ Eckhard Jesse in der NZZ: Wer wie „Syriza mit ihren Bluffs, Provo­ka­tionen und Tricks“ die „Volks­seele“ anheize, der dürfe sich nicht wundern, wenn mit „unein­lös­bare Verspre­chungen mit Blick auf das Füll­horn sozialer Wohl­taten“ auch frem­den­feind­liche Ressen­ti­ments geschürt würden. Linke wie rechte Popu­listen seien sich gar, so Robert Pausch in Cicero, still­schwei­gend einig in ihrem Glauben an „Natio­na­lismus, Chau­vi­nismus [und] Klein­staa­terei“. Popu­lismus, so warnte auch Slavoj Žižek in einer Replik auf das 2005 erschie­nene Buch On Popu­list Reason von Ernesto Laclau – Mouffes 2014 verstor­benem Lebens­partner – sei immer tenden­ziell „proto­fa­schis­tisch“, selbst im „linken“ Gewand. Denn reale Konflikte würden im popu­lis­ti­schen Diskurs durch den mythi­schen Gegen­satz zwischen dem geeinten Volk und dessen externen Feinden ersetzt (den Eliten, der EU, den Muslimen, den Juden).

Latein­ame­rikas anti­po­pu­lis­ti­sche Trumps

Doch die Popu­lis­mus­kri­tiker gehen von einer ganzen Reihe falscher Annahmen aus. Tatsäch­lich bestand Donald Trumps Wähler­schaft nicht nur aus hinter­wäld­le­ri­schen Moder­ni­sie­rungs­ver­lie­rern: 54 Prozent aller männ­li­chen weißen College-Absolventen stimmten für ihn, ebenso wie die Mehr­heit der Besser­ver­die­nenden. Wähle­rInnen mit einem Jahres­ein­kommen von weniger als U$ 50,000 stimmten dagegen mehr­heit­lich für Hillary Clinton. Auch sind auto­ri­täre, rassis­ti­sche und frau­en­feind­liche Inhalte keines­wegs das Monopol der Popu­listen. Argen­ti­niens rechts­li­be­raler Präsi­dent Mauricio Macri, der sich nach eigenen Worten den Kampf gegen „den Feind Nummer eins: den Popu­lismus“ auf die Fahnen geschrieben hat, setzt seit Amts­an­tritt selbst das Dreh­buch der Trumps und Le Pens in die Tat um: Sonder­ge­fäng­nisse für Auslän­de­rInnen, ein weit­rei­chendes Einrei­se­verbot für Migran­tInnen aus den latein­ame­ri­ka­ni­schen Nach­bar­län­dern, die von der Regie­rung pauschal als Krimi­nelle und Drogen­schmuggler diffa­miert werden. Gesetz­liche Garan­tien des Medi­en­plu­ra­lismus wurden per Dekret außer Kraft gesetzt, Gelder für Menschen­rechts­pro­gramme gestri­chen, millio­nen­schwere Staats­auf­träge an Macris eigene Unter­neh­mens­gruppe vergeben, Oppo­si­tio­nelle entgegen Protesten der UNO und der Inter­ame­ri­ka­ni­schen Menschen­rechts­kom­mis­sion inhaftiert.

In Brasi­lien elimi­nierte die ‚libe­rale‘ Regie­rung Temer gesetz­liche Bestim­mungen gegen Skla­ven­ar­beit, die vor allem Frauen und Kinder schützten; das Justiz­mi­nis­te­rium geht unter dem Applaus der Agrar­lobby mit offen rassis­ti­scher Propa­ganda gegen indi­gene Land­recht­le­rInnen vor.

Néstor Kirchner und „Madres de la Plaza de Mayo“ bei der Eröff­nung des staat­li­chen Gedächt­nis­ar­chivs, 2003, Quelle: lacapital.com.ar

Wie auch anderswo in Latein­ame­rika waren es dagegen die „popu­lis­ti­schen“ Regie­rungen der Kirch­ners, Lulas und Morales, die sich für liberal-demokratische Anliegen wie den Ausbau des Bildungs­sys­tems, die Rechte von Indi­genen und Migran­tInnen, allein­ste­henden Müttern oder gleich­ge­schlecht­li­chen Part­ne­rInnen einsetzten und die Aufar­bei­tung der Dikta­turen und die Vertei­di­gung der Menschen­rechte voran­trieben. Selbst Papst Fran­ziskus wies kürz­lich in einem Inter­view auf die „miss­ver­ständ­liche Bedeu­tung des Begriffs Popu­lismus“ hin, unter dem in Europa und Nord­ame­rika die Vertei­di­gung einer als bedroht erlebten Iden­tität „mit Mauern und Stachel­draht“ verstanden würde. In Latein­ame­rika dagegen „hat Popu­lismus eine andere Bedeu­tung. Dort ist er gleich­be­deu­tend mit dem Prot­ago­nismus der Völker, zum Beispiel der popu­lären Bewegungen“.

Wenn Popu­lismus also, wie Mouffe schreibt, keinem „spezi­fi­schen program­ma­ti­schen Inhalt“ zuge­ordnet werden kann, ist er auch nicht gleich­be­deu­tend mit Demagogie und Verein­fa­chung. Hier liegt die Schwäche der historisch-soziologischen Erklä­rungs­muster Marga­reth Cano­vans, Gino Germanis oder Ernest Gell­ners, wie sie auch die aktu­elle Popu­lis­mus­de­batte domi­nieren. Popu­lismus ist für diese die „atavis­ti­sche“ Sprache einer nur partiell und dysfunk­tional in die indus­tri­elle Moderne inte­grierten Masse (z. B. der entwur­zelten Bauern­schaft der indus­tri­ellen Revo­lu­tion, des ‚Lumpen­pro­le­ta­riats‘, oder der ‚unter­ent­wi­ckelten‘ Land­be­völ­ke­rung der kolo­nialen Peri­phe­rien). Popu­lismus dient als Sammel­be­griff für diverse Formen ‚präpo­li­ti­scher‘ Agita­tion, denen Staat und Parteien mit der Erzie­hung eines ‚poli­ti­schen Bewusst­seins‘ zu begegnen hätten. Statt eines analy­ti­schen Konzepts ist Popu­lismus hier eine rein nega­tive Kate­gorie, ein irra­tio­naler, affek­tiver Exzess. Dieser Auffas­sung aber liegt eines unaus­ge­spro­chenes norma­tives Demokratie- und Poli­tik­ver­ständnis zugrunde.

Im Namen des Volkes

Der post­mar­xis­ti­schen Popu­lis­mus­theorie von Laclau/Mouffe hingegen gebührt das Verdienst, mit diesem rein nega­tiven und damit letzt­lich belie­bigen Popu­lis­mus­be­griff gebro­chen zu haben. Sie ersetzen diesen, im Anschluss an Antonio Gramscis Theorie der Hege­monie und Louis Althussers Konzept der ideo­lo­gi­schen Inter­pel­la­tion (Anrede), durch das Modell einer bestimmten Form poli­ti­scher Rede. Der popu­lis­ti­sche Sprech-Akt ist die Herstel­lung einer Äqui­va­lenz­kette zwischen diversen Ansprü­chen (‘demands’) in deren Bezie­hung auf einen allen gemein­samen Gegner hin. Der Protest einer Nach­bar­schaft an den Stadtrat wegen einer Tarif­er­hö­hung im Nahver­kehr, schreibt Laclau, ist ein ‚diffe­ren­zi­eller Anspruch‘, der im Rahmen der bestehenden poli­ti­schen Ordnung erfüllt oder enttäuscht werden kann. Erst in dem Masse, in dem er sich (wie etwa bei den brasi­lia­ni­schen Protesten anläss­lich des Confe­de­ra­tions Cup von 2013) mit Forde­rungen nach besserem Zugang zu Bildung, Gesund­heits­wesen, Renten, Wasser und Elek­tri­zität verbündet, erwächst daraus eine popu­lis­ti­sche Bewe­gung, deren Ziel nicht mehr ‚der Stadtrat‘ ist, sondern das als unge­recht erfah­rene System selbst.

Luiz Inácio Lula da Silva auf einer Kunge­bung in Ceará, Nord­ost­bra­si­lien, 2016.

Der popu­lis­ti­sche Diskurs ist somit für Laclau und Mouffe immer konsti­tutiv. Er legt das Feld des Poli­ti­schen neu aus, indem er die hori­zon­tale Äqui­va­lenz­kette mit einem verti­kalen Antago­nismus (‚wir das Volk‘ gegen ‚die da oben‘) verbindet. Die Bezie­hung auf einen externen Feind voll­zieht sich also parallel mit der ‚katachres­ti­schen‘ Produk­tion des eigenen Namens (die Katachrese oder ‚konven­tio­na­li­sierte Meta­pher‘ ist jene Figur, die – wie beim Stuhl­bein – durch Begriffs­ent­leh­nung eine ‚Sprach­lücke‘ schließt). Popu­lismus ist also für Laclau und Mouffe eine Form poli­ti­scher Rhetorik: aber nicht, wie Žižek glaubt, weil sie einen ‚realen‘ Gegen­satz entstellt oder verzerrt. Der „leere Signi­fi­kant“ des Popu­lismus – die Farbe Orange in der ukrai­ni­schen ‚Revo­lu­tion‘, der Name des charis­ma­ti­schen Anfüh­rers im argen­ti­ni­schen Pero­nismus, oder, wie in der polni­schen Solidarność-Bewegung, der Kampf der Danziger Werft­ar­beiter um Streik­recht und kürzere Schichten – wird zum Symbol einer nicht anders benenn­baren kollek­tiven Identität.

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Dabei steht zumeist ein einzelnes Element der Äqui­va­lenz­kette für die Summe der in dieser arti­ku­lierten Ansprüche; aber nicht, weil es die ‚Essenz‘ der Bewe­gung ausdrü­cken würde. Viel­mehr ist die Produk­tion des Eigen-Namens für Laclau und Mouffe der entschei­dende, histo­risch kontin­gente Akt poli­ti­schen Handelns. Folgen wir dieser These, dann ist die Frage nach einem ‚Popu­lismus von links‘ keines­wegs die, wie mit volks­tü­melnder Rhetorik ‚die Leute‘ wieder abzu­holen wären, die  ­– wie Jakob Augstein es im Spiegel formu­liert – ‚da in Heidenau, Freital, Suhl und anderen Orten […] gegen Flücht­linge anschreien‘. Das Volk eines linken Popu­lismus wäre gerade kein resi­duales, sondern ein emer­gie­rendes ­– eines, das erst noch benannt werden müsste.

Norma­tiver und puni­tiver Neoliberalismus

In einem lesens­werten Aufsatz zur aktu­ellen Krise neoli­be­raler Hege­monie unter­scheidet der Ökonom William Davies eine erste, ‚kämp­fe­ri­sche‘ Phase zwischen 1979 und 1989 unter der Ägide That­chers und Reagans von der ‚norma­tiven Phase‘ der Clin­tons, Blairs und Schrö­ders, in der progressiv-liberale Kräfte die Konso­li­die­rung der Markt­logik als gesell­schaft­li­ches Natur­ge­setz in die Hand nahmen  – mora­lisch legi­ti­miert durch die Asso­zia­tion ökono­mi­scher Eigen­in­itia­tive und Krea­ti­vität mit kultu­rellen Werten der Diver­sität, Tole­ranz und Multikulturalität.

Néstor Kirchner und Hebe de Bona­fini am Staats­ge­denktag für die Opfer der Diktatur, 2005, Quelle: lacapital.com.ar

Seit der globalen Banken­krise von 2008 sei dieser ‚norma­tive‘ zuneh­mend einem ‚puni­tiven‘ Neoli­be­ra­lismus gewi­chen, für den Austerität gegen alle Evidenz und Vernunft zum unhin­ter­frag­baren Dogma geworden sei. Je tiefer die ‚unaus­weich­li­chen‘ Einschnitte in Sozial-, Bildungs- und Gesund­heits­netze, so Davies, desto wich­tiger die ‚Bestra­fung‘ der Schul­digen ­– Migran­tInnen, Sozi­al­hil­fe­emp­fän­ge­rInnen, Jugend­liche, Kranke: eben jene, die „aus unseren Steu­er­gel­dern“ diese Netze in Anspruch nehmen. Der „popu­lis­ti­sche Moment“ ­– wie Mouffe die Krise des norma­tiven neoli­be­ralen Konsenses (in ihren Worten: der „Post­po­litik“) nennt – ist für Davies zunächst eine Rekon­fi­gu­ra­tion neoli­be­raler Hege­monie, die Erset­zung eines normativ-inklusiven durch einen punitiv-exklusiven Impe­rativ. Mouffe zufolge bietet diese Krise auch die Chance einer radi­kalen Infra­ge­stel­lung der Markt­logik selbst durch eine „breite Koali­tion unter Einschluss von Migran­tInnen, Umwelt und LGTB-Bewegungen“, wie sie etwa Jean-Luc Mélen­chon in Frank­reich zu mobi­li­sieren versuche.

Die große Schwie­rig­keit ­– das haben nicht zuletzt die jüngsten Rück­schläge der latein­ame­ri­ka­ni­schen Linken oder der Flügel­streit bei Podemos gezeigt – ist aller­dings, wie eine solche ‚Regen­bo­gen­ko­ali­tion‘ das Kunst­stück fertig­bringen kann, zwischen den Rück­zugs­ge­fechten des norma­tiven Neoli­be­ra­lismus und der aggressiv ‚antago­nis­ti­schen‘ Rhetorik der Kräfte des puni­tiven Neoli­be­ra­lismus (ob nun ‚popu­lis­tisch‘ wie Trump und Le Pen oder ‚anti­po­pu­lis­tisch‘ wie Macri und Temer) eine radi­kale Zäsur und ein neues, inklu­sives ‚Wir‘ zu formulieren.

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