Die politische Theorie der Migration ist vor allem mit der Frage befasst, wo die Trennlinie zwischen den angeblich ökonomischen Motiven für Migration und den angeblich politischen Motiven für Flucht verlaufe. Doch diese Linie lässt sich nicht ziehen.

  • Stefan Schlegel

    Stefan Schlegel hat mit einer Arbeit zum Migrationsrecht der Schweiz promoviert. Er ist gegenwärtig SNF-Ambizione Fellow am Institut für Öffentliches Recht der Universität Bern und arbeitet an einer Habilitation zur Eigentumsgarantie.

Es gibt wenig Gebiete, in denen ein Staat so starke Anreize hat und so starkem Druck ausge­setzt ist, Kate­go­rien zu bilden, um ein Phänomen verwaltbar zu machen, wie im Umgang mit Migra­tion, beson­ders im Umgang mit Flucht­mi­gra­tion. Staaten haben daher eine Defi­ni­tion des Flücht­lings einge­führt sowie ein Verfahren, um fest­zu­stellen, ob eine Person dieser Defi­ni­tion entspricht – und auch ein Verfahren, um die Person wieder loszu­werden, wenn das nicht der Fall ist. Staaten haben also im Umgang mit Migra­tion ein paar klare Linien gezogen.

Flucht verwaltbar machen

In der Meta­pher des Anthro­po­logen James C. Scott, die er seinem Buch Seeing like a State (1999) voran­stellt, tendieren Staaten gene­rell dazu, Bienen­stöcke in Bienen­häuser zu über­führen. Das heisst, an die Stelle von komplexen, unles­baren und unbe­re­chen­baren Struk­turen stellen sie solche, die sich durch Bere­chen­bar­keit und Hand­hab­bar­keit auszeichnen, durch die sich klare Schnitte und Linien ziehen lassen und die vor allem ihren eigenen Inter­essen der Verwalt­bar­keit dienen. Das Resultat dieser Hand­hab­bar­ma­chung ist eine Reduk­tion der Betrach­tung auf jene Aspekte des sozialen Lebens, die für den Staat gleich­zeitig von Inter­esse und verar­beitbar sind. 

Der histo­ri­sche Über­gang vom alten Vorrecht des Staates, Asyl zu gewähren, wann immer ihm dies ange­messen erschien, zu einem eigent­li­chen Migrations- und Flücht­lings­recht, das unter bestimmten Voraus­set­zungen einen Anspruch auf huma­ni­tären Schutz einräumt, wird übli­cher­weise als grosser Fort­schritt darge­stellt. Aber diese Entwick­lung war gleich­zeitig auch die Über­füh­rung eines Bienen­stocks in ein Bienen­haus und damit eine Reduk­tion von Flucht und Migra­tion auf jene Aspekte, die für den Staat lesbar und verwaltbar sind. Solange sich die Regu­lie­rung huma­ni­tärer Migra­tion an der Struktur von Rechten orien­tieren soll, d.h. an der Struktur von wenn-dann-Sätzen, die dazu führen, dass gewisse, recht­lich zwin­gende Konse­quenzen eintreten, wenn gewisse Kondi­tionen erfüllt sind, ist es schwierig sich vorzu­stellen, wie diese Reduk­tion komplexer Reali­täten auf Verwal­tungs­ka­te­go­rien vermieden werden könnte.

Aber wenn schon der Staat nicht anders „sehen“ kann als in verwalt­baren Kate­go­rien, wäre es umso wich­tiger, dass seine Beob­achter und Kritiker:innen selber nicht verlernen, in noch ganz anderer Weise zu sehen. Doch dieser Verlern­pro­zess ist mitt­ler­weile fast völlig abge­schlossen, auch in der poli­ti­schen Theorie zu Migra­tion. Abge­sehen von der Open-Border-Fraktion inner­halb der Diszi­plin, die staat­liche Beschrän­kungen von Migra­tion grund­sätz­lich als mora­lisch falsch ablehnt, setzt die Debatte inner­halb der poli­ti­schen Theorie zu Migra­tion fast ausnahmslos die Kate­go­rien, die der Verwalt­bar­keit halber geschaffen worden sind, norma­tiven Kate­go­rien gleich.

Die Trenn­linie zwischen den Flücht­lingen und allen anderen, die Linie zwischen jenen, die Anspruch auf Schutz haben und jenen, die wieder gehen müssen, wird zu einer normativ rele­vanten Linie, einer „morally meaningful line“, wie sie der poli­ti­sche Philo­soph David Miller in seinem 2016 erschienen Buch Stran­gers in Our Midst sucht. Wo genau diese Linie verlaufen soll, wird die normativ bedeu­tendste Frage.

„mixed migra­tion flows“

Dabei wird die viel grund­sätz­li­chere Frage vernach­läs­sigt, ob es über­haupt eine Möglich­keit gibt, ange­sichts ihrer exis­ten­ti­ellen Folgen solche Linien in einer mora­lisch vertret­baren Weise zu ziehen. Die Antwort fällt aus mehreren Gründen negativ aus. Dazu muss man wissen, dass die entschei­dende Kate­gorie, anhand der die frag­liche Linie im geltenden Recht gezogen wird, die Motive für eine Migra­tion sind, wie sie den Migrie­renden von einer Migra­ti­ons­ver­wal­tung zuge­schrieben werden. Es gibt nun aber keine Möglich­keit, unter notwen­di­ger­weise mehreren Motiven für eine Migra­tion das eine entschei­dende zu iden­ti­fi­zieren, das schliess­lich die Migra­tion ausge­löst hat. Noch weniger ist es möglich zu bestimmen, ob dieses eine Motiv, das Migrant:innen von Flücht­lingen trennt, bei einer bestimmten Person in abseh­barer Zukunft das entschei­dende Motiv werden würde.

Die mora­lisch entschei­dende Linie lässt sich also auch in zeit­li­cher Hinsicht nicht ziehen. Eben­falls unmög­lich ist es, die Linie in geogra­fi­scher Hinsicht zu ziehen und zu sagen, wie weit auf ihrer Migra­ti­ons­route eine Person noch Flücht­ling ist und ab welchem Punkt sie wieder Migrantin wird: Wo also die Weiter­mi­gra­tion von einem Punkt B zu einem Punkt C nicht mehr durch das eine entschei­dende Motiv diktiert war, das eine Migrantin an Punkt A ursprüng­lich zum Flücht­ling gemacht hatte, die dann aber aus anderen (z.B. ökono­mi­sche) Motiven weiterreist.

Es ist diese Unter­tei­lung in ökono­mi­sche Motive für Migra­tion und poli­ti­sche Motive für Flucht, die der Debatte (und dem Migra­ti­ons­recht) die Grund­struktur gibt. Die Vereinten Nationen spre­chen von „mixed migra­tion flows“, also von Migra­ti­ons­be­we­gungen, in denen Migrie­rende und Flücht­linge quasi durch­ein­an­der­ge­raten sind und wieder aussor­tiert werden müssen. Nicht die Motive für Migra­tion sind nach dieser Semantik gemischt, sondern die Menschen. Es muss dieser Logik gemäss ein Verfahren einge­richtet werden, sie vonein­ander zu unter­scheiden. Der Umstand, dass sie in zwei sehr unter­schied­liche Verwal­tungs­ka­te­go­rien einge­teilt werden, wird hier analy­tisch über die Lebens­rea­lität gelegt, als handle es sich tatsäch­lich um zwei quali­tativ verschie­dene Sorten von Menschen mit mora­lisch unter­schied­lich guten Ansprü­chen auf Schutz.

Die ideale Migrantin, der ideale Flüchtling

Allein, die mora­lisch bedeu­tende Linie liesse sich auch dann nicht ziehen, wenn Einig­keit darüber bestünde, dass es keine mixed migra­tion flows gibt, sondern nur gemischte Motive zu migrieren. Das wird klar, wenn wir versu­chen, verschie­dene Kate­go­rien von Migrie­renden auf einem Spek­trum zu karto­gra­fieren, das zwei Pole hat: einen ökono­mi­schen und einen poli­ti­schen. Migrant:innen wären demnach am ökono­mi­schen, Flücht­linge am poli­ti­schen Pol ange­sie­delt. Wir können für den Moment igno­rieren, dass für die Flücht­lings­ei­gen­schaft zu den zuge­schrie­benen poli­ti­schen Motiven noch weitere Elemente (v.a. Verfol­gung und zwar aus bestimmten Motiven) hinzu­treten müssen. Der eine Extrem­fall ist die Person, die aus wirt­schaft­lich prospe­rie­renden Verhält­nissen kommt, aber von ihrem Staat aus poli­ti­schen Gründen verfolgt wird: Das ist der Ideal­typus des Flücht­lings. Am anderen Pol ange­sie­delt ist die Person, deren Herkunfts­staat ihr alle poli­ti­schen Frei­heiten lässt, deren ökono­mi­sche Situa­tion aber so hoff­nungslos ist, dass sie keine andere Möglich­keit sieht, als auszuwandern.

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Die Abstu­fungen zwischen diesen beiden Ideal­typen – die weit häufiger sind, als die Ideal­typen selber – liegen verteilt auf diesem Spek­trum. Es gibt keine Möglich­keit, irgendwo durch dieses Spek­trum eine Linie zu ziehen, die mora­lisch sinn­voller ist, als eine andere. Wenn man über­dies noch ökolo­gi­sche Motive zu migrieren mit in Betracht zieht und so eine Fläche zwischen drei Polen entsteht, wird noch deut­li­cher, dass es eine mora­lisch vertret­bare, geschweige denn eine mora­lisch zwin­gende Linie durch dieses Dreieck nicht geben kann.

Voll­ends aussichtslos wird das Ziehen einer Linie, wenn man versucht, Migra­ti­ons­gründe in konkreter Weise poli­ti­schen, ökono­mi­schen oder ökolo­gi­schen Ursa­chen zuzu­ordnen. Sind etwa die sehr hohe Zahl an Vertrie­benen durch ein schweres Erdbeben in Haiti die Folge eines Umwelt-Ereignisses, oder die Konse­quenz einer kata­stro­phalen poli­ti­schen Situa­tion – oder die Folge einer kata­stro­phalen ökono­mi­schen Situa­tion? Wenn es die poli­ti­sche Situa­tion war, ist diese letzt­lich die Folge der vorherr­schenden Umwelt­be­din­gungen oder der ökono­mi­schen Rahmen­be­din­gungen? Und so weiter: Die Ursache-Wirkungs-Kette für jedes Migra­ti­ons­er­eignis muss über einen will­kür­li­chen Weg nach­ver­folgt und an einem will­kür­li­chen Ort abge­bro­chen werden, wenn wir – wie unser Migra­ti­ons­recht das verlangt – die einzelnen Gründe für Migra­tion als ökono­mi­sche oder poli­ti­sche (oder ökolo­gi­sche) Motive quali­fi­zieren müssen.

Von Motiven zu Bedürfnissen

Gibt es Auswege aus dieser Sack­gasse? Gibt es insbe­son­dere einen Ausweg, der einen Anspruch auf Schutz für bestimmte, beson­ders schutz­be­dürf­tige Personen auch weiterhin gewähren könnte? Ein erster Schritt wäre die Eman­zi­pa­tion der analy­ti­schen und mora­li­schen Kate­go­rien von den Kate­go­rien der Verwalt­bar­keit. Eine Alter­na­tive, die sich dank einer solche Eman­zi­pa­tion dann formu­lieren liesse, wäre eine, die nicht nach den (zuge­schrie­benen) Motiven für Migra­tion selek­tiert, sondern nach dem Bedürfnis nach Migra­tion. Im Unter­schied zu Motiven können Bedürf­nisse relativ zuein­ander vergli­chen werden. Jemand kann ein grös­seres Bedürfnis haben, als jemand anderes. Motive lassen sich nicht auf diese Art zuein­ander in Rela­tion setzen. Es gibt nur andere, nicht „grös­sere“ Motive. Wo wir von „stär­keren“ oder „schwä­cheren Motiven“ spre­chen, nehmen wir gerade jene norma­tive Hier­ar­chi­sie­rung vor, die hier für den Kontext der Migra­ti­ons­po­litik kriti­siert wird. Meinen wir, jemand habe ein stär­keres Motiv als jemand anderer zu fliehen, weil er inten­siver verfolgt werde, meinen wir eigent­lich, er habe ein grös­seres Bedürfnis.

Die Kontrolle über das Statt­fin­den­können eines indi­vi­du­ellen Migra­ti­ons­er­eig­nisses könnte nun als ein Gut aufge­fasst werden, das entweder dem entspre­chenden Staat oder der entspre­chenden Person zuge­ordnet werden kann. Es ist ein enorm wert­volles Gut – für beide. Beide sind besser dran, wenn sie es haben, als wenn der jeweils andere es hat. Für Migrie­rende bedeutet es mehr Auto­nomie, mehr poten­ti­elles Einkommen, mehr Sicher­heit, oft mehr Lebens­er­war­tung. Für Staaten bedeutet es mehr Kontrolle. Güter können entweder durch den Markt oder durch das Verwal­tungs­recht zuge­teilt werden. Hier geht es um eine Zutei­lung durch das Verwal­tungs­recht. Die Betrach­tung der Kontrolle über jemandes Migra­tion als Gut redet also noch nicht einer „commo­di­fi­ca­tion“ das Wort. Sie dient hier der besseren Güter­ab­wä­gung, nicht der Einfüh­rung einer Marktlogik.

Migra­ti­ons­recht besteht nach dieser Perspek­tive in erster Linie darin, das Gut «Kontrolle über jemandes Migra­tion» zuzu­ordnen (so wie das Verwal­tungs­recht über­haupt im Wesent­li­chen damit befasst ist, Güter zwischen dem Einzelnen und dem Staat zuzu­ordnen und zu trans­fe­rieren). Wenn nun das Gut «Kontrolle über Migra­tion» nicht grund­sätz­lich der entspre­chenden Person zuge­ordnet wird, also kein System der grund­sätz­lich freien Migra­tion einge­richtet werden soll, dann drängt es sich auf, es einer Person umso eher zuzu­ordnen, je höher ihr Bedürfnis danach ist, je wert­voller es also für sie ist – im Vergleich zu anderen Gütern und im Vergleich dazu, wie hoch andere Personen die Kontrolle über ihre eigene Migra­tion bewerten würden. Diese Zuord­nung erfolgte natür­lich weiterhin durch den Staat und wäre weiterhin mit einer Reihe von metho­di­schen Problemen konfron­tiert – wie jede Zuord­nung knapper Güter durch den Staat. Der Staat müsste immer noch einen Bienen­stock in ein Bienen­haus über­führen, müsste der Komple­xität von Lebens­sach­ver­halten immer noch Gewalt antun. Dennoch hätte sie eine Reihe von Vorteilen.

Zunächst wäre für die mora­li­sche Bewer­tung von Migra­tion nicht mehr das zuge­schrie­bene Motiv für eine Migra­tion entschei­dend, sondern die Dring­lich­keit und Alter­na­tiv­lo­sig­keit, gemessen an anderen Anpas­sungs­stra­te­gien. Auch der Zeit­punkt der Migra­tion und die Frage, ob an diesem Punkt die mora­lisch rele­vante Linie bereits über­schritten war, würde weniger entschei­dend. Wenn es absehbar wäre, dass Migra­tion bald die einzige verblei­bende Anpas­sungs­stra­tegie würde, dann bräuchte nicht bis zu diesem Zeit­punkt gewartet zu werden, sondern das Gut der Kontrolle über die eigene Migra­tion hätte jetzt bereits einen hohen Wert für die betrof­fene Person. Menschen von Kiri­bati, einer Reihe von Atollen, die allmäh­lich vom anstei­genden Meer verschluckt werden, würde ein Anspruch auf Schutz nicht mehr verwei­gert mit dem Argu­ment, gerade jetzt sei das Leben auf ihrem Atoll noch nicht voll­kommen uner­träg­lich. Heute findet diese Begrün­dung Anwen­dung, z.B. in der neueren Recht­spre­chung des UN-Menschenrechtsausschusses. Dies, obwohl im konkreten Fall niemand bezwei­felte, dass eine erneute Flucht in den kommenden 10-15 Jahren unum­gäng­lich sein wird. Migra­tion, die heute für die meisten Menschen und die meisten Desti­na­tionen nur eine ausnahms­weise erlaubte Anpas­sungs­stra­tegie darstellt, die erst dann erlaubt ist, wenn bereits vieles kaputt ist, würde damit in einer grös­seren Zahl von Konstel­la­tionen zu einer legi­timen Anpassungsstrategie.

Die Auto­nomie der Migrierenden

Flüchtlingsrechtler:innen werden in der Regel nervös, wenn andere Anknüp­fungs­punkte für einen beson­deren Status vorge­schlagen werden, als poli­ti­sche Verfol­gung. Sie haben nicht nur Angst, dass jede Neuver­hand­lung des Flücht­lings­be­griffs, der in einem histo­risch einzig­ar­tigen Zeit­fenster nach dem Zweiten Welt­krieg formu­liert worden ist, zu dessen Schwä­chung führen müsse, sondern bestehen auch auf dem quali­ta­tiven Unter­schied von Verfol­gung gegen­über anderen Gründen für Migra­tion. Der Bedürfnis-Zugang zu Migra­tion muss diesen quali­ta­tiven Unter­schied aber gar nicht in Frage stellen. Er kann ihn sogar unter­strei­chen. Es geht ihm gerade nicht darum, einen Anspruch auf Schutz aufzu­heben, sondern diesen auszu­weiten. Was Verfol­gung auszeichnet, ist, dass sie Migra­tion beson­ders alter­na­tivlos macht und das Gut der Kontrolle über die eigene Migra­tion daher im Verhältnis zu allen alter­na­tiven Anpas­sungs­stra­te­gien einzig­artig wert­voll. Hingegen kann dieser konzep­tio­nelle Ansatz einge­stehen, dass auch andere Situa­tionen zu einer ähnli­chen Alter­na­tiv­lo­sig­keit führen. Der quali­ta­tive Unter­schied von Verfol­gung verschiebt sich in dieser Betrach­tung weg von der mora­li­schen Anders­ar­tig­keit von Verfol­gung als Motiv für Migra­tion hin zu der Alter­na­tiv­lo­sig­keit, die sie schafft (und die auch noch aus weiteren Situa­tionen als aus Verfol­gung entstehen kann).

Was die Verwalt­bar­keit dieses Zugangs anbe­langt, so ist er auch – wie das heutige System – auf das Ziehen von Linien ange­wiesen, die genauso gut anderswo gezogen werden könnten. Dem Bedürfnis-Ansatz wäre aber einer­seits zugute zu halten, dass er wenigs­tens nur noch eine Linie ziehen müsste. Jene zwischen Kontrolle über die eigene Migra­tion als relativ wich­tiges Gut und Kontrolle über die eigene Migra­tion als relativ unwich­tiges Gut. Zwei­tens würden Menschen nicht länger ausge­grenzt, die alter­na­tivlos auf Migra­tion ange­wiesen sind, deren Motiv aber nicht poli­ti­sche Verfol­gung ist. Während die metho­di­schen Probleme also nicht mehr wesent­lich grösser wären, sondern wie bei anderen Güter­ab­wä­gungen und –zuord­nungen, würden die mora­li­schen Probleme gegen­über heute kleiner.

Und schliess­lich drit­tens: Die Linie litte weniger an einer Objek­ti­vi­täts­il­lu­sion, also jener der „objek­tiven“ Unter­scheid­bar­keit zwischen „ökono­mi­schen“ und „poli­ti­schen“ Motiven. Weil es für eine solche, neue Linie offen­sicht­li­cher ist als für die alte, dass es keinen mora­lisch gebo­tenen Ort gibt, an dem sie gezogen werden kann, zeigt sie die wich­tigste mora­li­sche Pflicht im Umgang mit Migra­tion auch deut­li­cher auf als das heutige System: Die Pflicht zur allmäh­li­chen Auswei­tung des Kreises derje­nigen, die über die eman­zi­pie­rende Auto­nomie verfügen, Kontrolle über ihre eigene Migra­tion auszu­üben. Diese Umdeu­tung einer zuvor stati­schen Linie in eine beweg­liche „Fron­tier“, die mehr und mehr Menschen in den Kreis der Anspruchs­be­rech­tigten aufnehmen kann, scheint die einzige vertret­bare Form zu sein, mit den unent­rinn­baren Linien umzu­gehen, die das Migra­ti­ons­recht ziehen muss.

 

Eine ausführ­liche Version dieses Argu­mentes ist soeben erschienen in: Wiebke Sievers, Rainer Bauböck, Chris­toph Rein­precht (Hg.), Flucht und Asyl – inter­na­tio­nale und öster­rei­chi­sche Perspek­tiven, Wien, 2021.