
ein typisches „Meanwhile in Canada“-Meme; Quelle: ranker.com
Mit dem liberalen Premierminister Justin Trudeau hat Kanada eine politische Gegenfigur zu Trump: Trudeau zelebriert Diversität, setzt sich für Gleichberechtigung ein, plant eine Entkriminalisierung von illegalen Drogen und so weiter. Er weiß sein Image auch mit Bildern zu unterstreichen, die mittlerweile eine eigene Kategorie des sympathischen „Meanwhile in Canada“ darstellen: Auf den beliebtesten und meistgeteilten Fotos jubelt Trudeau auf der Pride Parade, weint angesichts der Gewalt an First Nations in den düstersten Kapiteln der Geschichte Kanadas, hält Pandababys in seinen Armen und schenkt syrischen Flüchtlingen zur Begrüßung Winterjacken.
Cuteness-Overkill und/oder Horrorshow
In einem Guardian-Artikel weist Bill McKibben auf den Kontrast von Trudeau’schem Cuteness-Overkill und Trump’scher Horrorshow hin, allerdings um nachzulegen: „Stop swooning over Justin Trudeau. The man is a disaster for the planet.“ Es geht McKibben dabei darum, dass sich Trudeau einerseits für Klimaschutz ausspricht und das Übereinkommen von Paris unterzeichnete, andererseits aber gleichzeitig Ausweitungen von Pipelines vorantreibt, also 173 Millionen Barrels Öl ausgraben und verkaufen will. Trudeau unterstützte Trumps Entscheidung, für die von Obama aus Klimaschutzgründen abgelehnte Erweiterung der Keystone-Pipeline grünes Licht zu geben. In Bezug auf Kanadas reiche Ölressourcen steht für Trudeau Ökonomie vor Ökologie: Während die Regierung in British Columbia Maßnahmen gegen die „Kinder Morgan Trans Mountain“-Pipeline ergreifen will und die Pipeline vor allem als möglicher Auslöser von Öllecks und als Gefahr für die lokalen vom Aussterben bedrohten Killerwale wahrgenommen wird, betont Trudeau strikt, dass das Projekt weitergeführt wird und kein Land ein so wertvolles, wirtschaftsförderndes Exportgut einfach liegenlassen würde.

Proteste der First Nations gegen Kinder Morgan; Quelle: coastprotectors.ca
Wenn es um die Pipelines geht, ist es auch mit Trudeaus Einsatz für Anliegen der First Nations zu Ende. Einwände von indigenen Gemeinschaften gegen die „Kinder Morgan Trans Mountain“-Pipeline, die Mitte April in massiven Protesten gipfelten, stießen bei Trudeau auf taube Ohren. Bei den Protesten der indigenen Völker seht der Naturschutz im Zentrum. So meint Will George von der Tsleil-Waututh Nation:
This is the moment to either stand with Indigenous Nations in the fight for a safe climate and clean water, or else watch as Kinder Morgan continues business as usual and destroys any chance for a safe and livable planet.
Der Aufruf „Honour the Land“ zeugt von einer Geschichte, die vom Kampf um und für Land bestimmt ist, und von Traditionen, in denen ein enger, auch spiritueller Bezug zur Natur von fundamentaler Bedeutung ist.
Symbolpolitik: Mythos Wildnis
Eine identitätsbildende Funktion bekommt die Natur auch für den Staat Kanada, den Kolonisten auf indigenem Land entstehen ließen. Die nationale und kulturelle Identität Kanadas ist durch und durch geprägt von Bildern und Narrativen der heimischen Landschaften samt Fauna und Flora. Das Ahornblatt ziert die kanadische Flagge, auf den Geldmünzen tummeln sich Rentiere, Bieber, Bären und Eistaucher, jede Provinz hat eine typische Pflanze und ein Tier als ‚territorial symbol‘ und so weiter – bis hin zu den „Meanwhile in Canada“-Memes, auf welchen die Natur ein beliebtes Motiv ist. Analog zu den Alpen in der Schweiz wird die Wildnis in Kanada mythologisiert. Mit der Vorstellung einer ‚unberührten‘ Natur ist eine Projektionsfläche für kanadische Selbstbilder geschaffen. Die Protagonisten vieler Abenteuergeschichten kämpfen robinsonmäßig in einer Natur ums Überleben, die den First Nations als Lebensraum genommen wurde. Mittlerweile ist das zugänglicher gemachte great outdoors zum Schauplatz geworden, wo Freizeit mit Fischen, Campen und Kanufahren verbracht wird, sprich: Canadianess generiert und gepflegt wird.
Justin Trudeau inszeniert sich genau in diesem Sinne als Outdoorsman. In seiner als politische coming of age story aufgegleisten Biographie Common Ground macht er die Idee einer nationalen Einheit stark:
For all our differences of culture, history, and geography, we are bound together by shared values that define the Canadian identity … Everything I propose to do in my political career is built on this premise.

Justin Trudeau mit Frau und Kind beim Kanufahren, Quelle: . www.thestar.com
Drei Familienfotos dienen ihm dabei dazu, diese einheitsstiftende kanadische Identität gleich ganz am Anfang des Buchs zu illustrieren. Auf den beschriebenen Fotos sind drei Generationen der Trudeau-Familie zu sehen: Der Vater und ehemalige Premierminiester Pierre Trudeau mit dem jungen Justin, der den Sohn in einer „rite of passage“ durch die Stromschnellen leitet, dann, zwanzig Jahre später, der erwachsene Justin, der das Kanu steuert, während sein Vater die Wildwasserfahrt genießt, und schließlich Justin Trudeau mit Frau und Kindern auf einem ruhigen See. Die Fotos dieser Kanutouren durch die Wildnis sollen zeigen, wie über das Erlangen des kanadischen Selbst ein Gemeinschaftssinn vermittelt wird. „The outdoors was where we relaxed by getting in touch with who we were.“ Und: „Together, we learned to face down obstacles and overcome our fears and we developed an endless appreciation for our country and its great natural beauty.“ Die Natur vereint die Menschen mit sich selbst und verschweißt sie dann zu einem „we“ der Familie, und im weiteren Sinne zur Nation.
Realpolitik
Dass die Natur aber gerade dort, wo es um ihre „appreciation“ und ihren Schutz geht, nicht nur zur Einheit, sondern zum Konflikt zwischen Individuen und Bevölkerungsgruppen führt, zeigen zum Beispiel die Proteste gegen Kinder Morgan. Generell ist in Kanada die Wertschätzung der Natur nur ganz bestimmten Orten vorbehalten, die als schützenswert gelten: Ganz besonders den National und Provincial Parks, die den Status von national treasure und cultural heritage haben. Insgesamt betreibt Kanada auch abseits der Ölindustrie keine auf Nachhaltigkeit bedachte Umweltpolitik – so produzieren 22 Atomkraftwerke zum Beispiel um die 40’000 Tonnen radioaktiven Abfall – und das Umweltbewusstsein ist generell wenig ausgeprägt. Mit 7,7 ha pro Kopf ist der ökologische Fußabdruck weltweit nur von den USA und Australien geschlagen. Dadurch wird eine Spannung zwischen dem Zelebrieren der Natur und Umweltpolitik bzw. -bewusstsein deutlich. Dass der Ruf der Wildnis jährlich Millionen Kanadier zu langen Auto- und zu Flugreisen in die entlegenen Parks bewegt, ist in gewisser Weise symptomatisch dafür.

Tom Thomsons letztes Bild, The West Wind, gemalt kurz vor seinem Tod im Algonquin Park; Quelle: Wikipedia
Es gilt auch zu betonen, dass die Parks selbst auf einem Prinzip der Exklusion basieren. Bei der Frage, welche Natur schützenswert ist, und für wen, gibt es klar Ausgeschlossene: die Umwelt, deren Erhaltung nicht gefördert wird, die Leute, die nicht die Mittel haben, in die Naturparadiese zu reisen, und die Völker, die einst aus ihnen vertrieben wurden. Ein gutes Beispiel dafür, wie das Prädikat ‚wertvoll‘ die indigenen Völker und deren Geschichte geradezu ausklammert, ist ein Eintrag zum Algonquin Provincial Park im Canadian Register of Historic Places (CRHP):
Algonquin Provincial Park was designated a national historic site in 1992 because of its contributions to park management; its pioneering development of park interpretation programs; and the role, as an inspiration to artists such as the Group of Seven, it has played in giving Canadians a sense of Canada.
Das Gebiet, dessen Name noch an seine ersten Bewohner, die Algonquin, erinnert, wird in einem Moment historisch wertvoll, in dem von dieser früheren Geschichte keine Spur mehr da ist. Erst als Provincial Park erlangt es dann eine „profound importance to Canada“.
„Lake Fever“

Der Totempfahl von Jack Ridpath, Quelle: sometimeseventful.ca
Die angesprochene Group of Seven, ein Malerkreis, der im frühen 20. Jahrhundert einen kanadischen Impressionismus initiierte, wird wieder und wieder in nationalistische Narrative eingeflochten. Die Bilder von unkultivierten Landschaften und die sieben weißen Gründerväter der Gruppe machen sie durchaus anfällig für eine solche Rezeption. Dass im Algonquin Park zum Gedenken eines prominenten Mitglieds der Group of Seven, Tom Thomson, der 1917 während eines Malaufenthalts im Canoe Lake ertrank, mitten in der Natur von einem weiteren weißen Mann ein sehr gut sichtbarer Totempfahl errichtet wurde – ein Paradebeispiel für kulturelle Aneignung – ist eine bittere Ironie.
Im Falle eines anderen Provincial Parks, Killarney, war die Group of Seven maßgeblich daran beteiligt, dass ein solcher überhaupt entstand. Der Maler A.Y. Jackson, dem wie auch anderen seiner Künstlerfreunde die Quarzfelsen und Seen von Killarney Motive für Gemälde lieferten, setze sich für die Erhaltung seiner Inspirationsquelle ein und reichte zusammen mit der Ontario Society of Artists (O.S.A.) eine Petition gegen die Abholzung des Gebiets ein – nature for art’s sake, gewissermaßen. Dabei birgt die Schönheit Killarneys selbst ein schmutziges Geheimnis: Der Park ist besonders für seine glasklaren Seen bekannt, das Aushängeschild ist der nach seinen Rettern benannte O.S.A. Lake.

Der O.S.A. Lake im Killarney Provincial Park. Foto: Stefanie Heine
Was wie der Inbegriff reiner Natur anmutet, ist allerdings eine immer noch wirksame Folge von saurem Regen, der durch die Schwerindustrie im nahegelegenen Sudbury verursacht wurde. „Lake Fever“, der Titel eines Liedes von The Tragically Hip, der Band, die über die Landesgrenzen hinaus zwar kaum bekannt ist, in Kanada aber mehr gefeiert wird als Leonard Cohen, würde bestens zu Killarney passen. Der Lovesong referiert zwar auf eine Choleraepidemie in Ontario, doch in der nervösen, gespannten Erwartung des Sprechers, der ein erotisches Abenteuer antizipiert, klingt auch der Drang nach den Parks mit, die mit „We can take a bit of a breather“ und „want to be your stars of Algonquin“ auch explizit angesprochen werden.
Anthropozäne Szenarien
Gerade weil nationalistisch angehauchte Narrative und Bilder so hartnäckig an der kanadischen Natur haften, lohnt sich ein kurzer Blick auf andere Stimmen. Die Dichterin Sylvia Plath präsentiert in ihrem Gedicht „Two Campers in Cloud Courntry. (Rock Lake, Canada)“ zum Beispiel eine andere Perspektive auf Algonquin. Im Gegensatz zur Behauptung des CRHP, Algonquin gäbe „Canadians a sense of Canada“, schätzt Plath gerade den gegenteiligen Effekt der weiten Landschaft: „It is comfortable, for a change, to mean so little.“ Der Ort, an dem das nationale Selbst gefunden werden soll, ist für Plath einer des Selbstvergessens und der Selbstauflösung. Rock Lake wird zur Lethe, die die Sprecherin der anorganischen Natur ähnlich und Existenz wie Identität fraglich werden lässt: „I lean to you, numb as a fossil. Tell me I’m here.“ Während der Park anderen Künstlern als Inspirationsquelle dient, beschreibt Plath eine Expiration, ein Seufzen der Natur, das die Stimmen der Camper auslöscht: „The pines blot our voices up in their lightest sighs.“ Wenn Plath mit dem Fossil und Sätzen wie „The Pilgrims and Indians might never have happened“ ein prähistorisches Umfeld heraufbeschwört, reproduziert sie einerseits eine problematische Geschichtsvergessenheit und die Illusion einer unberührten Natur, die gerade durch die von Menschenhand eingerichtete Infrastruktur um die National und Provincial Parks möglich gemacht wird. Andererseits ist mit dem Fossil das Relikt einer ausgestorbenen Spezies der Urzeit angesprochen. Wo das Ich mit dem Fossil zusammenfällt, wird es auch zu dem, was als Brennstoff wieder aus der Erde herausgerissen wird – so imaginiert Plath 1960, also kurz nach dem Boom der kanadischen Pipelineindustrie in den 50er Jahren, auch ein anthropozänes Szenario, in dem das letzte Öl verbrannt ist und vielleicht nichts mehr lebt.
An ein solches Szenario erinnert auf den ersten Blick – um mit einer weiteren alternativen Perspektive zu schließen – auch die virtual reality Installation Biidaaban: First Light von der Anishinaabe Künstlerin Lisa Jackson.

„Biidaaban: First Light“ von Lisa Jackson; Quelle: engadget.com
Allerdings sehen wir dann, dass in diesem scheinbar postapokalyptischen Setting die Natur einen Weg zurückgefunden hat und das urbane Toronto einnimmt. Analog zu den Pflanzen durchwachsen in der Installation Sprachen den Raum, die vor langer Zeit auf diesem Boden gesprochen wurden: Wendat, Kanien’kéha und Anishinaabemowin. Lisa Jackson, die ihre Kunst im Indigenous Futurism verortet, wirkt mit dieser Arbeit der Tendenz entgegen, dass die indigene Kultur hauptsächlich mit der Vergangenheit in Zusammenhang gebracht wird und präsentiert eine Vorstellung von Natur, die mit Kanada-Klischees bricht.