“Meanwhile in Canada”-Memes mit heiteren Bildern vom Land, wo Winter hart und Mensch und Tier dafür umso niedlicher sind, dienen in Zeiten der nicht enden wollenden Hiobsbotschaften aus den USA gerne als comic relief. Doch was geschieht "meanwhile" mit der Natur in Kanada?

  • Stefanie Heine

    Stefanie Heine ist SNF Postdoc.Mobility Stipendiatin an der University of Toronto und war davor Assistentin an der Abteilung Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich. Sie arbeitet zur Poetik des Atems.

ein typi­sches „Mean­while in Canada“-Meme; Quelle: ranker.com

Mit dem libe­ralen Premier­mi­nister Justin Trudeau hat Kanada eine poli­ti­sche Gegen­figur zu Trump: Trudeau zele­briert Diver­sität, setzt sich für Gleich­be­rech­ti­gung ein, plant eine Entkri­mi­na­li­sie­rung von ille­galen Drogen und so weiter. Er weiß sein Image auch mit Bildern zu unter­strei­chen, die mitt­ler­weile eine eigene Kate­gorie des sympa­thi­schen „Mean­while in Canada“ darstellen: Auf den belieb­testen und meist­ge­teilten Fotos jubelt Trudeau auf der Pride Parade, weint ange­sichts der Gewalt an First Nations in den düstersten Kapi­teln der Geschichte Kanadas, hält Panda­babys in seinen Armen und schenkt syri­schen Flücht­lingen zur Begrü­ßung Winterjacken.

Cuteness-Overkill und/oder Horrorshow

In einem Guardian-Artikel weist Bill McKibben auf den Kontrast von Trudeau’schem Cuteness-Overkill und Trump’scher Horror­show hin, aller­dings um nach­zu­legen: „Stop swoo­ning over Justin Trudeau. The man is a disaster for the planet.“ Es geht McKibben dabei darum, dass sich Trudeau einer­seits für Klima­schutz ausspricht und das Über­ein­kommen von Paris unter­zeich­nete, ande­rer­seits aber gleich­zeitig Auswei­tungen von Pipe­lines voran­treibt, also 173 Millionen Barrels Öl ausgraben und verkaufen will. Trudeau unter­stützte Trumps Entschei­dung, für die von Obama aus Klima­schutz­gründen abge­lehnte Erwei­te­rung der Keystone-Pipeline grünes Licht zu geben. In Bezug auf Kanadas reiche Ölres­sourcen steht für Trudeau Ökonomie vor Ökologie: Während die Regie­rung in British Columbia Maßnahmen gegen die „Kinder Morgan Trans Mountain“-Pipeline ergreifen will und die Pipe­line vor allem als mögli­cher Auslöser von Öllecks und als Gefahr für die lokalen vom Aussterben bedrohten Killer­wale wahr­ge­nommen wird, betont Trudeau strikt, dass das Projekt weiter­ge­führt wird und kein Land ein so wert­volles, wirt­schafts­för­derndes Exportgut einfach liegen­lassen würde.

Proteste der First Nations gegen Kinder Morgan; Quelle: coastprotectors.ca

Wenn es um die Pipe­lines geht, ist es auch mit Trudeaus Einsatz für Anliegen der First Nations zu Ende. Einwände von indi­genen Gemein­schaften gegen die „Kinder Morgan Trans Mountain“-Pipeline, die Mitte April in massiven Protesten gipfelten, stießen bei Trudeau auf taube Ohren. Bei den Protesten der indi­genen Völker seht der Natur­schutz im Zentrum. So meint Will George von der Tsleil-Waututh Nation:

This is the moment to either stand with Indi­ge­nous Nations in the fight for a safe climate and clean water, or else watch as Kinder Morgan conti­nues busi­ness as usual and destroys any chance for a safe and livable planet.

Der Aufruf „Honour the Land“ zeugt von einer Geschichte, die vom Kampf um und für Land bestimmt ist, und von Tradi­tionen, in denen ein enger, auch spiri­tu­eller Bezug zur Natur von funda­men­taler Bedeu­tung ist.

Symbol­po­litik: Mythos Wildnis

Eine iden­ti­täts­bil­dende Funk­tion bekommt die Natur auch für den Staat Kanada, den Kolo­nisten auf indi­genem Land entstehen ließen. Die natio­nale und kultu­relle Iden­tität Kanadas ist durch und durch geprägt von Bildern und Narra­tiven der heimi­schen Land­schaften samt Fauna und Flora. Das Ahorn­blatt ziert die kana­di­sche Flagge, auf den Geld­münzen tummeln sich Rentiere, Bieber, Bären und Eistau­cher, jede Provinz hat eine typi­sche Pflanze und ein Tier als ‚terri­to­rial symbol‘ und so weiter – bis hin zu den „Mean­while in Canada“-Memes, auf welchen die Natur ein beliebtes Motiv ist. Analog zu den Alpen in der Schweiz wird die Wildnis in Kanada mytho­lo­gi­siert. Mit der Vorstel­lung einer ‚unbe­rührten‘ Natur ist eine Projek­ti­ons­fläche für kana­di­sche Selbst­bilder geschaffen. Die Prot­ago­nisten vieler Aben­teu­er­ge­schichten kämpfen robin­son­mäßig in einer Natur ums Über­leben, die den First Nations als Lebens­raum genommen wurde. Mitt­ler­weile ist das zugäng­li­cher gemachte great outdoors zum Schau­platz geworden, wo Frei­zeit mit Fischen, Campen und Kanu­fahren verbracht wird, sprich: Cana­dia­ness gene­riert und gepflegt wird.

Justin Trudeau insze­niert sich genau in diesem Sinne als Outdoorsman. In seiner als poli­ti­sche coming of age story aufge­gleisten Biogra­phie Common Ground macht er die Idee einer natio­nalen Einheit stark:

For all our diffe­rences of culture, history, and geography, we are bound toge­ther by shared values that define the Cana­dian iden­tity … Ever­y­thing I propose to do in my poli­tical career is built on this premise.

Justin Trudeau mit Frau und Kind beim Kanu­fahren, Quelle: . www.thestar.com

Drei Fami­li­en­fotos dienen ihm dabei dazu, diese einheits­stif­tende kana­di­sche Iden­tität gleich ganz am Anfang des Buchs zu illus­trieren. Auf den beschrie­benen Fotos sind drei Gene­ra­tionen der Trudeau-Familie zu sehen: Der Vater und ehema­lige Premier­mi­niester Pierre Trudeau mit dem jungen Justin, der den Sohn in einer „rite of passage“ durch die Strom­schnellen leitet, dann, zwanzig Jahre später, der erwach­sene Justin, der das Kanu steuert, während sein Vater die Wild­was­ser­fahrt genießt, und schließ­lich Justin Trudeau mit Frau und Kindern auf einem ruhigen See. Die Fotos dieser Kanu­touren durch die Wildnis sollen zeigen, wie über das Erlangen des kana­di­schen Selbst ein Gemein­schafts­sinn vermit­telt wird. „The outdoors was where we relaxed by getting in touch with who we were.“ Und: „Toge­ther, we learned to face down obsta­cles and over­come our fears and we deve­loped an endless appre­cia­tion for our country and its great natural beauty.“ Die Natur vereint die Menschen mit sich selbst und verschweißt sie dann zu einem „we“ der Familie, und im weiteren Sinne zur Nation.

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Real­po­litik

Dass die Natur aber gerade dort, wo es um ihre „appre­cia­tion“ und ihren Schutz geht, nicht nur zur Einheit, sondern zum Konflikt zwischen Indi­vi­duen und Bevöl­ke­rungs­gruppen führt, zeigen zum Beispiel die Proteste gegen Kinder Morgan. Gene­rell ist in Kanada die Wert­schät­zung der Natur nur ganz bestimmten Orten vorbe­halten, die als schüt­zens­wert gelten: Ganz beson­ders den National und Provin­cial Parks, die den Status von national treasure und cultural heri­tage haben. Insge­samt betreibt Kanada auch abseits der Ölin­dus­trie keine auf Nach­hal­tig­keit bedachte Umwelt­po­litik – so produ­zieren 22 Atom­kraft­werke zum Beispiel um die 40’000 Tonnen radio­ak­tiven Abfall – und das Umwelt­be­wusst­sein ist gene­rell wenig ausge­prägt. Mit 7,7 ha pro Kopf ist der ökolo­gi­sche Fußab­druck welt­weit nur von den USA und Austra­lien geschlagen. Dadurch wird eine Span­nung zwischen dem Zele­brieren der Natur und Umwelt­po­litik bzw. -bewusst­sein deut­lich. Dass der Ruf der Wildnis jähr­lich Millionen Kana­dier zu langen Auto- und zu Flug­reisen in die entle­genen Parks bewegt, ist in gewisser Weise sympto­ma­tisch dafür.

Tom Thom­sons letztes Bild, The West Wind, gemalt kurz vor seinem Tod im Algon­quin Park; Quelle: Wikipedia

Es gilt auch zu betonen, dass die Parks selbst auf einem Prinzip der Exklu­sion basieren. Bei der Frage, welche Natur schüt­zens­wert ist, und für wen, gibt es klar Ausge­schlos­sene: die Umwelt, deren Erhal­tung nicht geför­dert wird, die Leute, die nicht die Mittel haben, in die Natur­pa­ra­diese zu reisen, und die Völker, die einst aus ihnen vertrieben wurden. Ein gutes Beispiel dafür, wie das Prädikat ‚wert­voll‘ die indi­genen Völker und deren Geschichte gera­dezu ausklam­mert, ist ein Eintrag zum Algon­quin Provin­cial Park im Cana­dian Register of Historic Places (CRHP):

Algon­quin Provin­cial Park was desi­gnated a national historic site in 1992 because of its contri­bu­tions to park manage­ment; its pionee­ring deve­lo­p­ment of park inter­pre­ta­tion programs; and the role, as an inspi­ra­tion to artists such as the Group of Seven, it has played in giving Cana­dians a sense of Canada.

Das Gebiet, dessen Name noch an seine ersten Bewohner, die Algon­quin, erin­nert, wird in einem Moment histo­risch wert­voll, in dem von dieser früheren Geschichte keine Spur mehr da ist. Erst als Provin­cial Park erlangt es dann eine „profound importance to Canada“.

„Lake Fever“

Der Totem­pfahl von Jack Ridpath, Quelle: sometimeseventful.ca

Die ange­spro­chene Group of Seven, ein Maler­kreis, der im frühen 20. Jahr­hun­dert einen kana­di­schen Impres­sio­nismus initi­ierte, wird wieder und wieder in natio­na­lis­ti­sche Narra­tive einge­flochten. Die Bilder von unkul­ti­vierten Land­schaften und die sieben weißen Grün­der­väter der Gruppe machen sie durchaus anfällig für eine solche Rezep­tion. Dass im Algon­quin Park zum Gedenken eines promi­nenten Mitglieds der Group of Seven, Tom Thomson, der 1917 während eines Malauf­ent­halts im Canoe Lake ertrank, mitten in der Natur von einem weiteren weißen Mann ein sehr gut sicht­barer Totem­pfahl errichtet wurde – ein Para­de­bei­spiel für kultu­relle Aneig­nung – ist eine bittere Ironie.

Im Falle eines anderen Provin­cial Parks, Killarney, war die Group of Seven maßgeb­lich daran betei­ligt, dass ein solcher über­haupt entstand. Der Maler A.Y. Jackson, dem wie auch anderen seiner Künst­ler­freunde die Quarz­felsen und Seen von Killarney Motive für Gemälde lieferten, setze sich für die Erhal­tung seiner Inspi­ra­ti­ons­quelle ein und reichte zusammen mit der Ontario Society of Artists (O.S.A.) eine Peti­tion gegen die Abhol­zung des Gebiets ein – nature for art’s sake, gewis­ser­maßen. Dabei birgt die Schön­heit Killar­neys selbst ein schmut­ziges Geheimnis: Der Park ist beson­ders für seine glas­klaren Seen bekannt, das Aushän­ge­schild ist der nach seinen Rettern benannte O.S.A. Lake.

Der O.S.A. Lake im Killarney Provin­cial Park. Foto: Stefanie Heine

Was wie der Inbe­griff reiner Natur anmutet, ist aller­dings eine immer noch wirk­same Folge von saurem Regen, der durch die Schwer­indus­trie im nahe­ge­le­genen Sudbury verur­sacht wurde. „Lake Fever“, der Titel eines Liedes von The Tragi­cally Hip, der Band, die über die Landes­grenzen hinaus zwar kaum bekannt ist, in Kanada aber mehr gefeiert wird als Leonard Cohen, würde bestens zu Killarney passen. Der Love­song refe­riert zwar auf eine Chole­ra­epi­demie in Ontario, doch in der nervösen, gespannten Erwar­tung des Spre­chers, der ein eroti­sches Aben­teuer anti­zi­piert, klingt auch der Drang nach den Parks mit, die mit „We can take a bit of a brea­ther“ und „want to be your stars of Algon­quin“ auch explizit ange­spro­chen werden.

Anthro­po­zäne Szenarien

Gerade weil natio­na­lis­tisch ange­hauchte Narra­tive und Bilder so hart­nä­ckig an der kana­di­schen Natur haften, lohnt sich ein kurzer Blick auf andere Stimmen. Die Dich­terin Sylvia Plath präsen­tiert in ihrem Gedicht „Two Campers in Cloud Courntry. (Rock Lake, Canada)“ zum Beispiel eine andere Perspek­tive auf Algon­quin. Im Gegen­satz zur Behaup­tung des CRHP, Algon­quin gäbe „Cana­dians a sense of Canada“, schätzt Plath gerade den gegen­tei­ligen Effekt der weiten Land­schaft: „It is comfor­table, for a change, to mean so little.“ Der Ort, an dem das natio­nale Selbst gefunden werden soll, ist für Plath einer des Selbst­ver­ges­sens und der Selbst­auf­lö­sung. Rock Lake wird zur Lethe, die die Spre­cherin der anor­ga­ni­schen Natur ähnlich und Exis­tenz wie Iden­tität frag­lich werden lässt: „I lean to you, numb as a fossil. Tell me I’m here.“ Während der Park anderen Künst­lern als Inspi­ra­ti­ons­quelle dient, beschreibt Plath eine Expi­ra­tion, ein Seufzen der Natur, das die Stimmen der Camper auslöscht: „The pines blot our voices up in their ligh­test sighs.“ Wenn Plath mit dem Fossil und Sätzen wie „The Pilgrims and Indians might never have happened“ ein prähis­to­ri­sches Umfeld herauf­be­schwört, repro­du­ziert sie einer­seits eine proble­ma­ti­sche Geschichts­ver­ges­sen­heit und die Illu­sion einer unbe­rührten Natur, die gerade durch die von Menschen­hand einge­rich­tete Infra­struktur um die National und Provin­cial Parks möglich gemacht wird. Ande­rer­seits ist mit dem Fossil das Relikt einer ausge­stor­benen Spezies der Urzeit ange­spro­chen. Wo das Ich mit dem Fossil zusam­men­fällt, wird es auch zu dem, was als Brenn­stoff wieder aus der Erde heraus­ge­rissen wird – so imagi­niert Plath 1960, also kurz nach dem Boom der kana­di­schen Pipe­lin­e­indus­trie in den 50er Jahren, auch ein anthro­po­zänes Szenario, in dem das letzte Öl verbrannt ist und viel­leicht nichts mehr lebt.

An ein solches Szenario erin­nert auf den ersten Blick – um mit einer weiteren alter­na­tiven Perspek­tive zu schließen – auch die virtual reality Instal­la­tion Biidaaban: First Light von der Anis­hi­naabe Künst­lerin Lisa Jackson.

„Biidaaban: First Light“ von Lisa Jackson; Quelle: engadget.com

Aller­dings sehen wir dann, dass in diesem scheinbar post­apo­ka­lyp­ti­schen Setting die Natur einen Weg zurück­ge­funden hat und das urbane Toronto einnimmt. Analog zu den Pflanzen durch­wachsen in der Instal­la­tion Spra­chen den Raum, die vor langer Zeit auf diesem Boden gespro­chen wurden: Wendat, Kanien’kéha und Anis­hi­na­abe­mowin. Lisa Jackson, die ihre Kunst im Indi­ge­nous Futu­rism verortet, wirkt mit dieser Arbeit der Tendenz entgegen, dass die indi­gene Kultur haupt­säch­lich mit der Vergan­gen­heit in Zusam­men­hang gebracht wird und präsen­tiert eine Vorstel­lung von Natur, die mit Kanada-Klischees bricht.