
Es ist zur Routine geworden. Seit mehr als 10 Jahren verkünden Statistiker:innen in Deutschland in jedem Frühjahr einen neuen Höchstwert für die Anzahl der zugelassenen Personenkraftwagen. Rund 48,25 Millionen Fahrzeuge waren es am 1. Januar dieses Jahres, noch einmal eine halbe Million mehr als Anfang 2020. Der jährliche Anstieg liegt dabei im langen Trend: Im Jahr 2000 hatte es in Deutschland noch 42,84 Millionen Autos gegeben, 1980 waren es gar nur 23,19 Millionen. Und 1960 existierte in Deutschland noch weniger als ein Zehntel der heutigen Fahrzeugmenge: 4,49 Millionen PKWs. Ähnlich ist die Entwicklung in Frankreich, der Schweiz und anderen europäischen Ländern. Das Problem dabei ist, dass das heutige Straßennetz vor allem der Großstädte just in den Jahren um 1960 geschaffen wurde, als Autos „modern“, aber gemessen am heutigen Niveau selten waren. Sie wurden zum Schlüsselvehikel einer Stadtplanung, die Wohnen, Arbeiten und Konsum erst räumlich trennte und anschließend durch ein neues Netz aus Autobahnen, mehrspurigen Stadtringen und breiten Straßen wieder zusammenband. Auf ihm sollte das Auto den Menschen einen reibungsfreien Alltag sichern. Doch so breit man die Straßen auch plante, der rasanten Zunahme des Autoverkehrs konnten sie nicht standhalten.

Trafic (1971); Quelle: atlasofplaces.com
Kein Wunder also, dass der politische Druck auf den Autoverkehr und die „autogerechte Stadt“ ebenfalls seit Jahren wächst. Hinzu kommen Klimaschutz, die Umweltbelastungen durch Feinstaub und Lärm und andere Gründe, die in den europäischen Metropolen kaum etwas anderes als so dringlich erscheinen lassen wie eine grundlegende Verkehrswende. 150 Autos pro 1.000 Einwohner hat das Bundesumweltamt als Zielmarke für die großen Städte ausgegeben. Tatsächlich ist der Wert heute mehr als drei Mal so hoch und steigt mit den wachsenden Zulassungszahlen weiter und weiter. So voll es auf Straßen und Parkplätzen auch ist: Noch immer stellen sich mehr und mehr Menschen ein eigenes Auto vor die Tür ihrer Stadtwohnungen, selbst wenn – auch das zeigt die Statistik – sie dieses dann immer weniger bewegen.
Filmische Bilder des automobilen Verkehrs
Für dieses kuriose Verhalten mag es viele Gründe geben, wobei sicher entscheidend ist, dass sich die Frage nach dem städtischen Autoverkehr eben nicht allein als eine nach dem sinnvollsten oder praktikabelsten Fortbewegungsmittel stellt. Gegen die nüchternen Zahlen der Statistiken stehen Vorstellungen und Bilder vom Auto, an denen nicht nur die Automobilindustrie seit den 1960er Jahren mit ihrer Werbung arbeitet. Vor allem der Film bildete und bildet aus unterschiedlichen Gründen einen natürlichen Verbündeten bei der Verbreitung wirklichkeitsferner Bilder des Autoverkehrs: in den „Road Movies“ und Blockbustern etwa, die schicke oder schnelle Autos ganz offen zum Ausdruck von Freiheit, Stärke, Männlichkeit oder Modernität verklären. Natürlich haben sich Filmemacher:innen auch für alle negativen Seiten des Autoverkehrts interessiert und aufregende, beängstigende oder lustige Geschichten um sie entworfen: ausgehend von spektakulären Unfällen, im Stau verpassten Bewerbungsgesprächen oder Autopannen, die Fahrer:innen plötzlich schutzlos der Wildnis ausliefern. Vielfach stiften Autos im Film auf diese Weise dramatische Momente, an denen Filmhandlungen oder gleich das ganze Leben der Protagonist:innen eine andere Richtung einschlagen.
Weltfremde Bilder des automobilen Verkehrs prägen Kino und Fernsehen allerdings gerade dort, wo das Auto ganz achtlos als banales Fortbewegungsmittel auftritt. Denn dann sind Autos fast immer so, wie sich die Stadtplaner:innen der 1960er Jahre diese erträumten: sofort verfügbare und praktikable Verkehrsmittel, die die Menschen zuverlässig von A nach B bringen. Der Held benutzt sie, ohne einen Gedanken an den Verkehr zu verlieren. Am Zielort wartet ein freier Parkplatz auf ihn. Und während der Fahrt fließt der Verkehr so verlässlich und ruhig, dass die Zuschauer:innen ohne Störungen den entspannten Gesprächen der Filmfiguren lauschen können. Natürlich: Zeit ist im Film ein knappes Gut, das man nicht ohne (dramatischen) Grund für Parkplatzsuche oder ein endloses Stopp-and-Go opfern will. Und wenn es schon Dialoge braucht, um Zuschauer:innen mit Informationen zu versorgen, gewinnen diese mit dem vorbeiziehenden Hintergrund einer Autofahrt zumindest etwas visuelle Dynamik. Auch deshalb machen sich Kommissar:innen im Fernsehen zu Zeugenbefragungen verlässlich mit dem Auto auf, statt kurz zum Telefonhörer zu greifen oder die betreffenden Personen ins Kommissariat einzubestellen.
Mittel für einen klaren Blick: Tatis Komik
Filme erzählen uns beständig, dass Autos den Menschen zu Diensten seien, auch wenn es im Alltag doch eher sie sind, die bestimmen, wann wir zur Arbeit aufbrechen (nicht zu spät, der Verkehr!), welchen Weg wir nehmen (um Stau zu vermeiden) und die uns am Zielort erst entlassen, wenn sich für sie ein Platz am Straßenrand findet. Für eine gelingende Verkehrswende wird es deshalb Veränderungen nicht nur auf den Straßen der Städte brauchen, sondern auch in den Bildern, die wir uns vom Auto machen. Was Kino und Fernsehen hierzu beitragen könnten, lassen wohl vor allem die Filme von Jaques Tati erahnen. Der französische Komiker begriff sich selbst als „ein Beobachter des Lebens“, dessen Filme zugleich seine Zuschauer:innen zum Beobachten anhalten sollten. „Ich will, dass Leute über das Leben lachen. […] Alles, was in meinen Filmen vorkommt, gibt es auch in der Realität. Deshalb passiert es mir oft, dass mich Leute anrufen und sagen, dankeschön, Monsieur Tati, dass Sie uns auf so viele Kleinigkeiten aufmerksam machen, die wir sonst gar nicht gesehen hätten“.

Mon Oncle (1958); Quelle: deutschlandfunk.de
Das Mittel, mit dem Tati dafür den eigenen Blick und den seines Publikums scharfstellte, war die Komik. Dabei sind seine Filme auf eine ganz eigene Art lustig, die ihm wohl für alle Zeiten einen prominenten Platz in der Filmgeschichte sichert, auch wenn er diesen bislang weitgehend alleine bewohnt. Zum Anfang einer neuen Art von Filmkomödie, wie Tati selbst hoffte, wurde sein eher schmales Werk leider nicht. In dessen Mittelpunkt steht der freundliche, von Tati selbst gespielte Monsieur Hulot: ein älterer Herr, der mit Regenmantel und Schirm, Hut und Pfeife in der Welt unterwegs ist. Seine gebeugte Haltung und der beschwingte Gang haben etwas Belustigendes, geben ihn aber nicht der Lächerlichkeit preis. Hulot stolpert einfach so ungeschickt, unbedarft und orientierungslos durch die Welt, wie es die meisten Menschen hin und wieder mal tun. Er erlebt dabei auch keine besonders überraschenden oder witzigen Geschichten, die das Publikum fesseln würden. Und es sind auch nicht Missverständnisse oder sonstige Verwicklungen mit anderen Menschen, über die man bei Tati lachen kann. Gefordert ist Hulot vor allem von den technischen Neuerungen, veränderten Moden und unausgesprochenen Regeln einer sich wandelnden Welt, die er nicht richtig versteht. Auf eine leichte, poetische Weise bleibt er ihr entrückt und legt damit ohne besondere Mühen ihre Kuriosität frei.
Das alte, das neue und das „wirkliche Paris“

Mon Oncle; Quelle: adsttc.com
Weil Tati seine Filme dem Leben der 1950er bis 1970er Jahre abschaute, war diese Welt just jene, die auch dem Autoverkehr zum Durchbruch verhalf. Und er beobachtete ihn aufmerksam als Teil einer neuen, technisierten Lebensweise. Dies ist etwa in Mon oncle (1958) zu sehen, Tatis erstem Portrait des neuen, sterilen Großstadtlebens. Der Film wurde in Cannes ebenso ausgezeichnet wie mit einem Oscar. Bestimmend ist der Kontrast zwischen dem alten und dem modernen Leben, der vor allem über Architektur beschrieben wird. Dem alten Paris der Jahrhundertwende, in dem Hulot in einer Wohnung unterm Dach lebt, steht die Stadtvilla seines Schwagers gegenüber, die mit automatisierter Küche, selbstfahrendem Staubsauger und sterilem Vorgarten das Sinnbild für das moderne Leben abgibt – und für die Zwänge, die sich daraus ergeben. Was die Villa ebenfalls auszeichnet, ist der hohe Zaun, der sich direkt am Straßenrand erhebt. Wo das alte Paris durch breite Trottoirs und offene Straßen bestimmt wird, auf denen Gemüsehändler ihre Waren anbieten und sich die Nachbarn treffen, ist das moderne Haus dafür gebaut, mit dem Auto verlassen zu werden. So macht es Hulots Schwager, der sich jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit in eine lange Fahrzeugkette einreiht. Nicht nur die rollenden Autos wirken dabei monoton. Sie machen auch die Menschen gleich, die sie bedienen. Immer wieder macht sich eine Kinderbande mit dem gleichen Scherz über Autofahrer lustig, die verlässlich in der gleichen Weise reagieren. So scherzen können die Kinder nur, weil sie nicht zu den Klassenkameraden gehören, deren Eltern mittags mit dem Auto vor der Schule vorfahren. Zu Fuß finden sie auf dem Heimweg in den Überbleibseln der alten, autofreien Stadt Raum zum Spielen, den das Kinderzimmer der Villa für Hulots Enkel nicht mehr bietet. Dazu gehören Brachflächen, aber auch die Trottoirs und Straßen im alten Stadtviertel, auf denen keine Autos fahren oder parken. Als sich am Ende des Films der Schwager mit seinem Auto hierhin verirrt, bleibt es ein Fremdkörper in der belebten Straße.
In dem ein Jahrzehnt später entstandenen Film Playtime (1967) ist dieses alte Paris dann vollständig verschwunden. Die Stadt besteht nun aus futuristisch anmutenden Glas- und Stahlbauten, zwischen denen es keine Bäume und Grünflächen mehr gibt, sondern nur noch Straßen. Auf ihnen stauen sich die Kolonnen dunkler und grauer Fahrzeuge, die ebenso zur Masse verschmelzen wie die in den Hochhäusern arbeitenden Anzugträger. Den Menschen sind die Autos im Weg. Als Hulot hier aus dem Bus steigt, schlängelt er sich als erstes umständlich durch eine Reihe parkender Wagen. Mit ihm ist eine Reisegruppe in dieser Hochhauswelt unterwegs, deren Weg Hulot immer wieder kreuzt. Die Tourist:innen sind auf der Suche nach dem „wirklichen Paris“, wandeln aber den ganzen Film nur durch diese monotone Wüste, die sich – die Werbefotos im Reisebüro zeigen es – so auf der ganzen Welt findet. Lebendig wird es in ihr erst in den frühen Morgenstunden, wenn andere Fahrzeuge (ein Fahrrad, die Stadtreinigung, alte Lieferwagen) auf den Straßen auftauchen und andere Menschen: Männer in Blaumännern, alte Frauen mit Kopftüchern. Sie reden und lachen laut, auch mit den Anzugträgern, bis die Polizei die Lieferwagen vertreibt und die Chauffeure ihre Chefs mit den Limousinen abholen, die rasch wieder die Straßen verstopfen. Der Film endet in einem überfüllten Kreisverkehr, der mit Musik und absurd langsam fahrenden Autos zur nie endenden Karussellfahrt wird.
Die automobile Moderne als Stillstand

Trafic (1967); Quelle: casa-kino.de
Ausführlich nahm sich Tati den Autoverkehr dann mit seinem letzten Kinofilm Trafic (1971) vor. Diesmal arbeitet Hulot als Werbefachmann in einer kleinen Pariser Firma, die ein Campingauto entwickelt hat, das seinen Fahrer:innen auch beim Ausflug ins Grüne jeden Komfort bieten soll: Dusche, Grill und Fernsehen, einen im Lenkrad versteckten Rasierapparat, eine ausklappbare Sitzgruppe. Das Auto soll auf der Internationalen Automesse in Amsterdam gezeigt werden, wofür Hulot einen Messestand mit Birken aus Pappe und Vogelgezwitscher vom Band entworfen hat. Nun sollen Stand und Auto nach Amsterdam gebracht werden, doch nur das Auto mit dem künstlichen Wald erreicht die Messehalle pünktlich. Der LKW mit den Campingwagen wird – wie die meisten Autofahrer im Film – beständig aufgehalten. Durch volle Straßen, Pannen, fehlendes Benzin, Unfälle oder Polizeikontrollen. Sie führen die Menschen immer wieder ab von den rauschenden Autobahnen hinzu Tankstellen, Werkstätten, Rasthöfen und Polizeirevieren, wo sich das Versprechen automobiler Geschwindigkeit in längliches Warten verkehrt. In der ruhigen ländlichen Welt ohne Verkehr, die gleich neben der Autobahn beginnt, kommen Hulot und seine Mitfahrer:innen dabei jener Urlaubsidylle ganz nah, die das Campingauto verspricht. Als dieses schließlich in Amsterdam ankommt, ist die Messe längst vorüber.

Trafic (1967); Quelle: wikipedia.org
Wie in seinen anderen Filmen dient Tati die Handlung aber nur als Rahmen für szenische Miniaturen, aus denen sich die Komik entfaltet. Für die Szene mit den Scheibenwischern etwa, die mit ihrem Tempo und Rhythmus Verhalten und Gemütslage der Autofahrer:innen spiegeln. Für die weißen Gipsbüsten, die in vielen Autos auf Rücksitzen oder im Kofferraum liegen, weil eine Tankstellenkette sie ihren Kund:innen als Werbegeschenk aufdrängt. Für den Tanklastwagen, der an dem aus Benzinmangel liegengebliebenen LKW vorbeirauscht. Für die streitenden Autofahrer, deren Streit auch von ihren Hunden geführt wird, ebenso zankend und kläffend. Solche Parallelitäten sind ein Stilmittel für Tati, ein anderes Wiederholungen. Diese entdeckte er gerade im dokumentarischen Bildmaterial, das in dem Film verarbeitet ist. So zeigt er, wie sich verschiedene Messebesucher:innen den Fahrzeugen immer in der gleichen Weise nähern: Türen öffnen und schließen, Kofferräume öffnen und schließen, Motorhauben öffnen und schließen. Gleiches bei den vor Ampeln wartenden Fahrer:innen, die sich alle auf die gleich unwillkürliche Weise ins Gesicht fassen; in einer anderen Stelle gähnen sie gleich genüsslich vor sich hin. Und schließlich lebt der Film von Gegenüberstellungen und Kontrasten: zwischen den lauten, vollen Straßen und den stillen, entlegenen Orten, wo Hulot auf Reparaturen warten muss; zwischen den Neuwagen der Messe und den rostigen Autos, die Werkstätten und Schrottplätze bevölkern; ja überhaupt zwischen Autos und Menschen. Ihr Konflikt beschließt den Film in einer Aufnahme des übergroßen Messeparkplatzes, auf dem sich Mensch und Auto gegenseitig behindern und weder Fahrzeuge noch Fußgänger vorrankommen. Die automobile Moderne als Stillstand.
Die Kraft kleiner Scherze
Über Tatis Filme lässt sich mehr zufrieden lächeln als lauthals lachen. Das war gewollt. Zwei Stunden, so erzählte es der Regisseur 1972 in einem seiner wenigen Interviews Elfriede Jelinek, habe er für Trafic an der Autobahn gestanden und „mit den Parisern gelitten, die da zum Baden fuhren. Nicht ein einziger lächelte, die Kinder durften nicht reden. […] Da dachte ich mir, so, jetzt werde ich dafür sorgen, dass die Leute das nächste Mal was zu lächeln haben“. Die Welt zu verändern, in denen er ihren Unsinn freilegte, maß sich Tati hingegen nicht an. Er kenne seine Grenzen, erklärte er Jelinek, die nun mal darin lägen, „die Leute zum Lachen zu bringen“. Dennoch könnte seine filmische Poetik der komischen Beobachtung den aktuellen Streit um die Zukunft des städtischen Verkehrs heute um etwas Wichtiges bereichern. Denn was Tati seinen „kleinen Scherzen des Alltags“ durchaus zubilligte, war die Kraft, „die Menschen auf unterhaltsame Weise ein bisschen sensibler und gescheiter und intelligenter“ zu machen. Das können seine Filme in der Tat noch immer. Und wie sollte sich auf den Straßen der Welt etwas voranbewegen ohne sensiblere und gescheitere Menschen, denen ein Lächeln die Augen dafür geöffnet hat, wie kurios wir gerade unsere Städte doch eingerichtet haben.