Inke Arns und Thibaut de Ruyter haben gerade die achte Station ihrer Ausstellung „Die Grenze“ in Jekaterinburg eröffnet. Jekaterinburg liegt am Ural, jenem Gebirge, das Europa von Asien trennt. Aber auch wegen oder trotz dieser Grenze ist Russland hinter dem Ural nicht plötzlich weniger europäisch oder mehr asiatisch. Wo also endet Europa, wo beginnt Asien? Diese Frage haben die KuratorInnen und KünstlerInnen aus Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Tadschikistan, der Ukraine, Weißrussland, Russland, Kasachstan, Usbekistan, Kirgisien, Estland, Deutschland und der Türkei gestellt und sowohl komische als auch kritische Antworten bekommen.
Sylvia Sasse: Ihr seid mit eurer Ausstellung inzwischen in Jekaterinburg angekommen, der russischen Stadt, die geographisch schon in Asien liegt, 40 km östlich von der imaginären Trennlinie entfernt. Aber es gibt dort weder eine nationale Grenze, noch eine sprachliche, kulturelle oder religiöse. Welche „Grenzen“ sind es also, die euch interessieren?

Blick in die Ausstellung in Krasnoyarsk, Foto: Aleksey Kubasov.
Inke Arns: Es geht uns in der Ausstellung nicht um nationale Grenzen, Staatengrenzen oder gar geopolitische Grenzkonflikte, sondern vor allem um Grenzzonen oder auch um Zonen der Uneindeutigkeit, des Übergangs, Zonen, die man nicht zuordnen kann – deswegen auch „Grenze“ im Singular. Als wir die ehemalige Sowjetunion bereist haben, trafen wir in Jekaterinburg, das geographisch gesehen in Asien liegt, Irina, die Kontaktperson des Goetheinstituts, eine etwa fünfzigjährige sowjetische Dame. Die sagte immer: „Ich lebe in Asien, aber meine Datscha ist in Europa.“ Und immer, wenn sie ihre Datscha in Europa erwähnte (die letztlich einfach nur in den Bergen des Ural liegt), ging die Sonne in ihrem Gesicht auf. Da haben wir überhaupt erst realisiert, dass es da eine imaginäre Grenze gibt, die die Leute und auch die Künstler, mit denen wir sprachen, immer zu der Frage provoziert, wo sie eigentlich sind und hingehören: nach Europa oder nach Asien, oder möglichst zu beidem.
Thibaut de Ruyter: Der Untertitel zur Ausstellung heißt „Wo endet Europa und wo beginnt Asien?“ Und umgekehrt. Wir waren zum Beispiel in Vladivostok und dachten, geographisch geht es jetzt nicht noch weiter nach Asien. Das muss also Asien sein. Aber die einzigen Leute aus Asien, die wir dort getroffen haben, waren Touristen aus Korea und China, die zum Glückspiel kamen ins Kasino mit dem vielversprechenden Namen „Tigre du Cristal“.
Inke Arns ist künstlerische Leiterin des Hartware MedienKunstVereins (HMKV) in Dortmund, Autorin und Kuratorin zahlreicher internationaler Ausstellungen zur Gegenwartskunst.
Inke Arns: Vladivostok ist so eine Zone der Uneindeutigkeit. Denn die Leute aus China und Korea kommen nicht nur, weil das Einkaufen günstiger ist oder weil sie dort im Casino spielen dürfen, sondern weil das der kürzeste Weg ist, um Europa zu sehen. Und Vladivostok liegt östlich von China. Das Kasino wird auch noch von einer malaysisch-vietnamesischen Firma betrieben. Eine sehr interessante Situation, in der alles irgendwie durcheinander geht.
Eine asiatische Simulation von Europa, die geographisch in Asien liegt? Eine umgekehrte und umgedrehte Kolonialisierung?
Inke Arns: Ja, dieses Wiederfinden Europas am Ende von Asien hatte auch etwas Bewegendes. Die Geschichte der Stadt erzählt auch von der imperialen Kolonisierung des russischen Ostens sowie von der multikulturellen (europäisch/asiatischen = russisch/chinesisch/koreanischen) Stadt, die Vladivostok bis 1937 war. Stalin hat dann die ethnischen Minderheiten zwangsumgesiedelt – daher gibt es z.B. heute eine sehr große koreanische Community in Kasachstan, und man kann Kimchi an jeder Straßenecke von Almaty kaufen.
Ist Asien so eine Art Brille für euch?

Viron Erol Vert: „All borders are in us“, Foto: Sylvia Sasse.
Thibaut de Ruyter: Wir benutzen Asien, um Europa anders zu lesen. Der in Deutschland lebende türkische Künstler Viron Erol Vert zum Beispiel, der für seine Arbeit „All borders are within us“ Kopftücher entworfen hat, die europäische Frisuren simulieren, sagt, dass die „Great Hijab Debate“ (= die Kopftuchdebatte) ja vor allem ein europäisches Phänomen sei. Also entwirft er als „Lösung“ des Problems ein grenzüberschreitendes Kopftuch für beide Welten, das muslimische Frauen in Europa tragen können und europäische Frauen in muslimischen Ländern.
Eine Art Lachen über Europas angestrengten Blick auf den Osten, auf den Islam?
Thibaut de Ruyter: Ja, aber es geht auch um Projektionen. Als wir in Minsk waren und dort die Ausstellung diskutierten, sagten einige, sie wüssten nicht, was diese Ausstellung überhaupt mit Europa zu tun haben soll. „Asien“ ist in Minsk völlig negativ besetzt, man will unbedingt zu Europa gehören. Aus Asien kommen die Gastarbeiter oder die Flüchtlinge, die in Brest im Flüchtlingslager leben. Sie dachten, wir machen eine Ausstellung über Flüchtlinge und mit Flüchtlingen.
Auch das sagt viel über das imaginäre Europa aus, dass diejenigen, die von Europa (der EU) ausgeschlossen werden, so deutlich zu Europa gehören wollen, dass sie einen europäischen Patriotismus entwickeln, der dann die Nachbarn im Osten abwertet. Die serbische Kulturwissenschaftlerin Milica Bakić-Hayden nennt das „nesting Orientalism“.
Thibaut de Ruyter ist Architekt, Kurator und Kunstkritiker. Er schreibt u.a. für artpress, Il Giornale dell’Architettura, Fucking Good Art, Frieze d/e und entwirft und kuratiert Ausstellungen zur Gegenwartskunst.
Inke Arns: Ich musste bei diesen Diskussionen über die Ausstellung öfters an Slavoj Žižeks Statement zum Begriff „Balkan“ denken, der – wie die Österreicher behaupten, jenseits der Alpen beginne. Die Slowenen, die nach Aussage ihres Tourismus-Büros „on the sunny side of the Alps“ leben, sagen aber, nein, der Balkan beginnt jenseits des Flusses Sava; die Kroaten wiederum sagen, wir sind katholisch und deshalb tiefstes Europa, der Balkan beginne in Serbien, und die Serben sagen: Aber wir haben doch Europa gegen das Osmanische Reich verteidigt, der Balkan, das sind die muslimischen Albaner und Bosnier. Der Balkan, das sind die Anderen.

Alina Kopytsa, „The Wedding Dress“, Co-design Kate Musina, Digitaldruck auf Textil, 2015/16, Foto: Aleksey Kubasov
Weniger humoristisch betrachtet: Die Ziehung der EU-Außengrenze, die unsere Bewegungsfreiheit erweitert, bedeutet umgekehrt immer die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der anderen. Ein Beispiel dafür ist auch die Arbeit von Alina Kopytsa. Die Künstlerin kommt aus der Ukraine und wollte in der Schweiz heiraten. Als Ukrainerin ist sie in der Schweiz – das wäre auch in der EU so – als Frau suspekt. Sie muss also beweisen, dass die Ehe keine Scheinehe ist. Auf dem Hochzeitskleid, das sie daraufhin entworfen hat, sind alle Skype-Gespräche, die sie mit ihrem zukünftigen Mann geführt hat, transkribiert. Es sind Dokumente aus ihrem intimsten Leben, die sie vorlegen musste, um zur Ehe „zugelassen“ zu werden. Das Kleid ist ein unglaubliches Statement. Kopytsa verharrt nicht in der Opferrolle, sondern sie verwandelt ihre eigene Position der Schwäche in eine Position der Stärke, die die sie inkriminierende Situation ausstellt. Bäm!
Thibaut de Ruyter: Man könnte auch von der Prostitutionsgrenze sprechen. Eine fiktive Grenze, die Frauen aus der Ukraine unter Generalverdacht stellt. Und man sieht diese europäische Fiktion auch in der Ukraine selbst. Die Autobahn vom Flughafen in die Innenstadt ist vollgepflastert mit riesigen Werbeplakaten für Bordelle, die dich nicht als Touristen, sondern als potentiellen Freier begrüßen. Sie heißen „Man’s Club“. Neben der Prostitutionsgrenze gibt es auch noch die Karaokegrenze.
Die Karaokegrenze?

Farhad Farzaliyev, „Mugham-Karaoke“, DVD-Player mit „Karaoke-Funktion“, Mikro, LCD/LED-Bildschirm, 2016, Foto: Aleksey Kubazov
Thibaut de Ruyter: Wir wollten ja keine Ausstellung über geopolitische Grenzkonflikte machen, sondern über kulturelle Ähnlichkeiten und Differenzen. Wir konnten in allen Ländern vor Ort recherchieren, und da ich Architekt bin, hat es mir besonders Spaß gemacht, Städte zu entdecken und zu vergleichen. Ich habe irgendwann realisiert, dass die Präsenz von Karaoke-Bars in Russland und in Zentralasien radikal unterschiedlich ist. Diesen Unterschied sieht man auch zwischen Tbilisi, wo es fast keine Karaoke-Bars gibt, und Baku, wo es in fast jeder Straße eine gibt. Daher habe ich das dann die „Karaokegrenze“ genannt: Wenn Du wissen willst, ob Du in Asien oder Europa bist, musst Du nur die Karaoke-Bars in deiner Umgebung zählen. Witzigerweise haben wir in Baku einen Künstler getroffen, Farhad Farzaliev, der uns von seinem Interesse an Karaoke erzählte. Und so kam es, dass wir mit ihm eine neue Arbeit produziert haben, eine Arbeit, die auf der Oberfläche ganz lustig und leicht aussieht – nämlich eine voll funktionsfähige Karaoke-Box. Inhaltlich geht es in dieser Arbeit dann aber um den armenisch-aserbaidschanischen Konflikt um Nagorny-Karabach. Auch hier wird Humor benutzt, um sehr ernste Themen anzusprechen.
Besonders brutal wird der Wunsch nach einem imaginären Europa auch in der Arbeit der kasachischen Künstlerin Natalya Dyu gezeigt. In ihrem Video führt sie vor, was viele asiatische Frauen machen, nämlich ihren Körper zu europäisieren.

Natalia Dyu, „Goodbye my Asian Eyes“, Video 00:05:44 min, 2009, Foto: Sylvia Sasse
Thibaut de Ruyter: Natalya Dyu zeigt eine dreiteilige Videoarbeit. Links sehen wir die Künstlerin als Raupe, rechts ist sie ein wunderschöner Schmetterling. Und in der Mitte sehen wir die Schönheitsoperation, der sie sich unterzogen hat. Die für asiatische Frauen typische Schönheitsoperation, um rundere, europäische Augen zu bekommen, Manga-Augen. „Goodbye my Asian Eyes“ heißt die Arbeit und fragt, was ist „Asien“ zu machen bereit, um zu Europa zu gehören.
Die meisten der KünstlerInnen kommen aus Staaten, die mal zur Sowjetunion gehörten. Damals war es die Ideologie, die sie krampfhaft verbunden hat. Gibt es heute noch Gemeinsamkeiten, neue, andere?
Thibaut de Ruyter: Wenn du in Kasachstan landest, dann bist du in einer Welt, wo im Land selbst ganz unterschiedliche Leute zusammenkommen, Russen und Kasachen, Deutschrussen, Koreaner. Und egal, welcher Ethnie sie angehören, alle Frauen heißen sowieso Tatjana. Aber: All diese Länder, die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, sind total unterschiedlich. Die einen sind reich, die anderen arm, die einen christlich-orthodox, die anderen muslimisch, die einen demokratisch, die anderen nicht usw. Allen gemeinsam ist vielleicht die Korruption.
Thibaut, Du arrangierst die Ausstellung immer wieder anders. D.h. du bildest aus den 23 schwarzen, für die Ausstellung von dir entworfenen Kisten, aus denen heraus die Künstler ihre Arbeiten zeigen, immer wieder neue Konstellationen und Paare.

Cheburashka, Foto: Thibaut de Ruyter
Thibaut de Ruyter: Ja, das ist mir wichtig, wir haben eine eigene Geographie in der Ausstellung. So gibt es neue Verbindungen, mal thematisch, z.B. Arbeiten zum Heiraten, mal regional, z.B. das Problem der Nachbarschaft von Armenien und Aserbaidschan. Aber die Gemeinsamkeiten sind keine historischen, sondern eher neue. Deshalb ergibt auch das Wort „postsowjetisch“ keinen Sinn mehr. Das einzige, was noch funktioniert, ist Čeburaška – die sowjetische Plüschfilmfigur kennen alle. Aber sogar Čeburaška sieht in verschiedenen Ländern unterschiedlich aus. Das armenische Modell ist am besten, es ist aus gutem Plüsch, das aserbaidschanische ist schon asiatischer, es singt.
Eine Čeruburaškagrenze? Wenn postsowjetisch als Bezeichnung keinen Sinn mehr ergibt, dann ist vermutlich auch der Rückbezug auf die Vergangenheit, der in der Ausstellung immer wieder vorkommt, kein gemeinsamer…
Inke Arns: Eigentlich findet der Rückbezug auf die Sowjetunion kaum statt. Es gibt fast keine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Zeit (Ausnahmen sind die Arbeiten von Katya Isaeva und „Where Dogs Run“). Und auch die neue Generation von Künstlern beschäftigt sich damit nicht. Und selbst in der Arbeit der tadschikischen KünstlerInnen Alla Rumyantseva und Alexey Rumyantsev, in der historisches sowjetisches Filmmaterial verwendet wird, geht es nicht um damals, sondern um das Heute. „I met a girl“ stellt Filmausschnitte eines tadschikischen Films aus den 1960er Jahren der Sowjetunion, in der es um die Befreiung eines Mädchens aus lokaler Tradition und Religion geht, der heutigen Situation gegenüber. Die Künstler haben Frauen zu ihren Träumen und ihrer Rolle in der heutigen Gesellschaft Tadschikistans befragt. Das ist keine nostalgische Arbeit, sie ist eher kämpferisch.
Die politische Situation in einigen der Länder, aus denen die Künstler kommen, ist brisant, es herrschen ähnlich diktatorische Verhältnisse wie damals in der Sowjetunion, auch wenn nun Kapitalismus und Nepotismus die Wirtschaft dominieren. Es fällt auf, dass viele Arbeiten mit sehr subtilen Allusionen arbeiten, mit versteckten Witzen, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen.

Saule Dyussenbina, „Kasakh Funny Games“, wallpaper, 2016, Foto: Aleksey Kubasov
Inke Arns: Viele Arbeiten sehen so aus, als seien sie harmlos oder dekorativ. Sie sprechen aber teilweise über sehr harte Themen, die in einigen Ländern nicht direkt angesprochen werden können. Saule Dyussenbinas Projekt ist ein gutes Beispiel. Ihre ornamentalen Tapeten-Entwürfe sehen auf den ersten Blick rein dekorativ aus. Wenn man sich die Motive jedoch genauer anschaut, sieht man Themen wie ökologische Katastrophen, die in der Öffentlichkeit nicht thematisiert werden, man sieht gerontokratische Herrscher, die sich neue Hauptstädte in der Wüste bauen lassen und man findet auch einen subtilen und höchst poetischen – und witzigen – Verweis auf die LGBT-Szene in Almaty.
Oder die Arbeit der usbekischen KünstlerInnen Umida Ahmedova und Oleg Karpov. Sie haben für ihr Video „Hostages of Eternity“ eine einfache, kleine Straßenszene gefilmt. Wir sehen eine Frau, die im Regen mit einem Reisig-Besen Wasser von einer Straße fegt. Hin und her, immer wieder, hingebungsvoll, endlos, aussichtslos. Aber: Diese Straße verbindet den Wohnsitz des usbekischen Präsidenten mit dem Präsidentenpalast, also dem Regierungssitz. Zweimal täglich benutzte Islom Karimov diese Straße, die immer blitzblank zu sein hatte. Wenn man sich klarmacht, was dort zu sehen ist, bekommt diese einfache Aufnahme auf einmal eine große kritische Kraft.
Thibaut de Ruyter: Humor ist unsere kuratorische Strategie. Wir machen mit den KünstlerInnen zusammen subtile Witze über Grenzen, über Europa…
Inke Arns: Und die Künstlerin Olga Jitlina trägt zusammen mit ArbeitsmigrantInnen Witze über Hodscha Nasreddin zusammen, die sie in einer Zeitung publiziert. Hodscha Nasreddin ist eine Figur der folkloristischen Literatur, die von Buchara bis zum Balkan bekannt ist; er ist berühmt für seinen Witz und sein Talent, sich aus schwierigen Situationen zu befreien. Nasreddin machte sich lustig über den Emir Timur und den Khan von Buchara, den russischen Kolonialismus, über diebische Kolchosenleiter und die patriarchalen Sitten in Zentralasien und im Kaukasus. Jitlinas Projekt versucht mit Hilfe des Lachens mit und über Nasdreddin Hodscha kulturelle Grenzen zu überwinden. Sie schreibt dazu: „Nasreddin wird mit seinem widerborstigen Charakter und seinem untrüglichen Blick im heutigen Russland dringend gebraucht. Vielleicht kann er uns dabei helfen, die brachliegenden kulturellen Beziehungen zwischen den inzwischen unabhängigen postsowjetischen Staaten zu reaktivieren? Kann das Lachen die Menschen vorübergehend vergessen lassen, was sie trennt?“
Die Grenze“ ist eine Ausstellung des Goethe-Instituts.

Olga Jitlina, „Nasredin in Russia“, Zeitung, 3 Ausgaben, 2014, Foto: Aleksey Kubasov