Liberale Kommentator*innen führen den Ursprung des russischen Angriffs auf die Ukraine zu Recht auf Russlands imperialistische Politik zurück. Sie haben jedoch Unrecht, wenn sie meinen, die Realität dieses Krieges lasse alle ‚irrealen‘ Auseinandersetzungen unbedeutend werden, insbesondere solche, die sich um Fragen der Kultur und der gesellschaftlichen Konventionen, d. h. um Geschlecht und Sexualität, drehen. Zugleich zeigen sich dieselben Kommentierenden davon überrascht, in welchem Ausmaß Putins Politik in Russland unterstützt wird, und stellen ungläubig fest, dass der Vatikan Russland noch immer nicht eindeutig verurteilt hat. Aus ihrer Perspektive sind Patriarch Kirills Worte über die Notwendigkeit, den Donbas gegen Gay-Pride-Paraden zu verteidigen, Putins Äußerungen über cancel culture oder J.K. Rowling bloße Ausrutscher, die nicht der Rede wert sind. Beide Äußerungen erfolgten jedoch nach Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen, und waren alles andere als zufällige Schnitzer. Das liberale Dogma von der Unbedeutsamkeit kultureller Auseinandersetzungen macht uns unfähig, die Mechanismen zu verstehen, die diesen Krieg nicht nur möglich, sondern – in den Augen eines beträchtlichen Teils der russischen Bevölkerung – unvermeidlich und legitim gemacht haben. Seit über einem Jahrzehnt wird ein globaler Kulturkrieg geführt, der wesentlich dazu beigetragen hat, uns in diesen realen Krieg zu treiben.
Anti-Gender als Soft Power
In der russischen Kampagne gegen die Europäische Union und den Westen kommen Geschlecht und Sexualität eine zentrale Stellung zu. Man könnte sogar sagen, dass Russland, indem es sich gegen die vermeintliche moralische Auflösung und Degeneration des Westens wendet, die durch das englische Wort „Gender“ zum Ausdruck gebracht wird, eine ganz eigene Soft Power ausübt. Der Westen wird in den russischen Medien nicht nur als politischer Gegner dargestellt, sondern auch als ‚verkehrte Welt‘, die auf ihr Ende zusteuert, da sie sich dem gesunden Menschenverstand widersetzt.

Demoplakat in Moskau; Quelle: bpb.de
Voller Entsetzen werden die Länder der EU als Orte beschrieben, an denen Kinder aus normalen Familien gerissen werden, um sie Homosexuellen und Pädophilen zu überlassen, als Orte, an denen Ehen mit dem fadenscheinigen Argument zerstört werden, Frauen müssten vor Gewalt geschützt werden und an denen Jugendliche im Namen einer kranken „Gender-Ideologie“ zwangsweise Geschlechtsumwandlungen unterzogen werden. Laut Kreml-Propaganda, die von der russisch-orthodoxen Kirche nachgeplappert wird, wird dieser Wahnsinn heimtückisch in den Osten exportiert: Schwule regieren Europa (oder besser gesagt „Gayropa“), und die von denselben Schwulen terrorisierten europäischen Institutionen zwingen den Ländern, welche in die Fänge des Westens geraten, Gay-Pride-Paraden auf.
Als Putin davon sprach, dass J.K. Rowling wegen Transfeindlichkeit „gecancelt“ worden sei, meinte er in Wirklichkeit die Viktimisierung Russlands durch den Westen: Die Kritik an der Schriftstellerin soll „ein Beweis dafür sein, dass der Westen gerne Menschen ‚entwertet‘, und jetzt wird Russland genauso behandelt“. Innerhalb dieses globalen Kriegs des Guten gegen das Böse wird die Ukraine – die auf ein Bündnis mit dem Westen drängt und sich um die Aufnahme in die EU bewirbt – als Gefahrenquelle und zugleich als kolonisiertes Land gezeichnet, das durch Russland gerettet werden muss. In dieser Erzählung spielt somit die Frage nach Geschlecht und Sexualität keine marginale, sondern eine überaus entscheidende Rolle.
Selbstverteidigung ist angesichts der „kolonialen Aggression“ des Westens und seiner Verbündeten in der Region also bittere Notwendigkeit. Diese Vision brachte Patriarch Kirill am 6. März 2022 klar zum Ausdruck, als er die Notwendigkeit der Putinschen „Sonderoperation“ erläuterte. Seine Erklärung ist es wert, in aller Ausführlichkeit zitiert zu werden, denn ihr Ton und ihre Rhetorik sagen viel darüber aus, wie die Machthaber des heutigen Russlands denken:
Seit acht Jahren wird versucht, das zu zerstören, was im Donbas existiert. Alles nur, weil dieses Land die so genannten Werte, die von denjenigen angeboten werden, die das Recht auf Weltherrschaft beanspruchen, grundsätzlich ablehnt. Heute gibt es einen Test für die Loyalität gegenüber dieser Autorität, eine Art Passierschein für diese ‚glückliche‘ Welt, eine Welt des übermäßigen Konsums, eine Welt der falschen Freiheit. Wissen Sie, was dieser Test ist? Es ist die Gay-Pride-Parade. Die Forderung, eine Gay-Pride-Parade abzuhalten, ist ein Test für die Loyalität zu dieser mächtigen Welt; und wir wissen, dass Menschen oder Staaten, die sich dieser Forderung widersetzen, von dieser Welt abgelehnt und als Fremde behandelt werden.

Vladimir Putin und Patriarch Kirill; Quelle: europeantimes.news
Die westlichen Werte werden in diesem Narrativ als leer, falsch und konsumorientiert dargestellt. Der Westen bleibt dennoch eine bedrohliche Macht; seine Opfer sind einfache Menschen, denen das Böse aufgezwungen wird. Russland wiederum habe eine große zivilisatorische Mission zu erfüllen: Seine Aufgabe bestehe darin, die lokalen Gemeinschaften vor dem Unheil der westlichen „Kolonisierung“ zu schützen und auf längere Sicht der christlichen Welt moralische Erneuerung zu bringen – und den Westen vor sich selbst zu retten. In diesem Narrativ ist Russland der Hort jener Werte, die einst die Achse der westlichen Welt bildeten, und die der Westen unterdessen aufgegeben hat. Diese wahren Werte – die der Donbas, natürlich mit Hilfe Russlands, zu verteidigen versucht – sind die Tradition (einschließlich der so genannten traditionellen Familie), die natürliche Sexualordnung, klare soziale Hierarchien und die dominierende Rolle der Religion, die es erlaubt, Tugend und Laster voneinander zu unterscheiden. All dies habe der Westen vergessen, betört von einer falschen Vision der Freiheit, die von Marx und Freud und später den gegenkulturellen, feministischen und LGBTQ-Bewegungen propagiert wurde. Der Widerstand gegen die „Gender-Ideologie“ ist in Russland integraler Bestandteil des imperialistischen Diskurses, der von den so genannten neuen Traditionalisten propagiert wird, die unter anderem von Alexander Dugin inspiriert wurden.
Putin wandte sich dieser Art von Konservatismus in den Jahren 2011 bis 2013 zu, als Reaktion auf die Massenproteste gegen den Wahlbetrug, mit denen seine dritte Amtszeit als Präsident begann. Diese Wende erwies sich als außerordentlich erfolgreich, vor allem da sie auf fruchtbaren Boden fiel: Die russische akademische und intellektuelle Elite hatte einen neuen Konservatismus propagiert, der auf einer Kombination aus antiwestlichem Nationalismus, Opposition zum Sozialismus und Appellen an sogenannte traditionelle Werte beruhte. Der Wandel, den unsere Region nach 1989 erlebt hat, ist in dieser Vision das Ergebnis der Vorherrschaft des liberalen Westens einerseits und einer Reihe von Demütigungen des Ostens andererseits. Imperiale Nostalgie und Größenwahn durchziehen diese Rhetorik.
Der traditionelle Osten verteidigt sich gegen den dekadenten Westen
Seit Jahren werden diese Ansichten nicht nur von den russischen Medien verbreitet, sondern auch – in leicht abgewandelter Form – von ultrakonservativen Publikationen, die die „Gender-Ideologie“ in ganz Europa kritisieren und von Redner*innen auf Veranstaltungen wie dem „Weltkongress der Familien“, welcher übrigens Ende der 1990er Jahre von Russ*innen und Vertreter*innen der amerikanischen religiösen Rechten ins Leben gerufen wurde. Von der besonderen Mission Russlands im Anti-Gender-Kreuzzug spricht zum Beispiel die deutsche Soziologin Gabriele Kuby, eine der Vorreiterinnen der europäischen Bewegung gegen die „Gender-Ideologie“. In einem Interview stellte sie klar, dass „Russland heute das einzige Land ist, in dem es der Kirche und dem Staat möglich ist, die Grundlagen der Familie wiederherzustellen“. In dieser moralisch-politischen Geografie verläuft eine scharfe Grenze zwischen dem atheistischen Westen und dem der Dekadenz widerstehenden christlichen Osten.

Polizeieinsatz gegen die Gay-Pride-Parade in St. Petersburg 2013; Quelle: taz.de
In Russland wird diese Botschaft direkt in die Gesetzgebung übersetzt. Seit gut zehn Jahren bilden Narrative vom dekadenten und gleichzeitig aggressiven Westen die Grundlage für die Aushöhlung der Zivilgesellschaft, das harte Vorgehen gegen sexuelle Minderheiten und die Einschränkung der Frauenrechte. Im Jahr 2012 verabschiedete die Duma ein Gesetz, in dem Nichtregierungsorganisationen als „Organisationen, die die Funktionen ausländischer Agenten wahrnehmen“, bezeichnet wurden. 2017 wurde der Geltungsbereich des Gesetzes erweitert, um alle Medien, die direkt oder indirekt aus dem Ausland finanziert werden, als „ausländische Agenten“ zu diskreditieren. Im Jahr 2013 wurde ein Verbot „homosexueller Propaganda“ erlassen; in der Praxis bedeutet dies ein Verbot der Bereitstellung von Informationen über die Situation von LGBTQ-Personen, des Anbringens von Regenbogensymbolen und der öffentlichen Zurschaustellung von Zuneigung durch gleichgeschlechtliche Paare, ganz zu schweigen von Demonstrationen. Im selben Jahr trat ein Adoptionsverbot von russischen Kindern durch Personen aus Ländern in Kraft, in denen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet wurde. Russland hat die Istanbul-Konvention, die Opfer häuslicher Gewalt schützt, nicht ratifiziert; außerdem hat Putin 2017 ein Gesetz unterzeichnet, das einmalige Fälle von innerfamiliärer Gewalt entkriminalisiert, wenn sie nicht zum Tod oder zu schwerer Körperverletzung führen.
Die Umsetzung dieser Gesetzesänderungen erfuhr im Allgemeinen starke gesellschaftliche Unterstützung, was weniger auf den russischen moralischen Konservatismus als vielmehr auf die Wirksamkeit einer Rhetorik verweist, die die Gleichstellung der Geschlechter als Ausdruck des westlichen Expansionismus und als Bedrohung für die einfachen Menschen verteufelt. Die Begeisterung für Gesetze, die Gewalt gegen Frauen und sexuelle Minderheiten legitimieren, deutet darauf hin, dass es Putins Propagandist*innen gelungen ist, der Gesellschaft eine Angst vor allem Westlichen einzuimpfen – eine Angst, die sich auch in der Darstellung von Geschlecht und Sexualität niederschlägt. Die derzeitige öffentliche Akzeptanz der Invasion der Ukraine ist eine natürliche Folge dieser Propaganda. In beiden Fällen werden die Rollen von Täter und Opfer geschickt vertauscht und Russland als Opfer kultureller Kolonisierung, wirtschaftlicher Ausbeutung und militärischer Aggression dargestellt. Wer bei Patriarch Kirills Worten genau hinhört, erkennt, wie hauchdünn die Grenze zwischen Kulturkrieg und realem Krieg tatsächlich ist.
Wir haben es hier mit zwei parallel verlaufenden Prozessen zu tun. Einerseits greift der „Krieg gegen Gender“ zu immer radikaleren Methoden, da seine Befürworter*innen zur Rechtfertigung von Gewalt neigen und Aggression als notwendige Verteidigung darstellen. Andererseits wird der militaristische und autoritäre Diskurs zunehmend von der Rhetorik von Geschlecht und Familie durchdrungen. Dies gilt nicht nur für Russland, sondern auch für die populistische Rechte in ganz Europa. Patriarch Kirills Worte oder Putins zahllose Äußerungen über die Bedrohung durch „Gayropa“ sind ein extremes Beispiel dafür, was passieren kann, wenn diese beiden Tendenzen aufeinandertreffen.
Die Vorstellung, Russland verteidige die traditionelle Familie, indem es in der Ukraine Zivilist*innen ermordet, mag jemandem, der diesen Krieg in den westlichen Medien verfolgt hat und beispielsweise Fotos von vergewaltigten Kindern in Butscha gesehen hat, völlig absurd erscheinen. Doch dies ist mehr als nur eine Metapher. Für Konsument*innen russischer Medien bleibt die Argumentation überzeugend: Angesichts der jahrelangen „westlichen Expansion“ wird die „Intervention“ in der Ukraine zu einem Akt der Selbstverteidigung. Es geht nicht nur um die territoriale Integrität Russlands angesichts einer möglichen Erweiterung der NATO, sondern auch um einen Kampf zwischen Gut und Böse, Vernunft und Wahnsinn, zwischen geistigem Erbe und moralischer Degeneration. Doch so oder so – Durchschnittsruss*innen werden die Fotos aus Butscha nie zu Gesicht bekommen.
Russland, ein Leuchtturm der Hoffnung für Europa?
Die Ablehnung der angeblichen „Gender-Ideologie“ – gleichgesetzt mit Abtreibung, Homosexualität, Trans-Rechten, Sexualerziehung und Gender Studies – ist in den letzten Jahren zu jenem Kitt geworden, der ultrakonservative Organisationen (oftmals mit religiösen Wurzeln) mit rechtsradikalen und populistischen Bewegungen in ganz Europa verbindet. Die Forscherinnen Weronika Grzebalska, Eszter Kováts und Andrea Petö haben Geschlechterfragen als „symbolischen Kitt“ bezeichnet, der selbst extreme Nationalisten aus verschiedenen Ländern zusammenzuhalten vermag.

Plakat der Lega Nord gegen gleichgeschlechtliche Ehen, 2012; Quelle: fallacielogiche.it
Im Frühjahr 2019 traf Jarosław Kaczyński, Vorsitzender der polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS), die denkwürdige Aussage, dass „die LGBT-Bewegung und die Gender-Ideologie eine Bedrohung für unsere Identität, eine Bedrohung für unsere Nation und eine Bedrohung für den polnischen Staat sind“. Ähnliche Argumente wie jene Kaczyńskis finden sich in Äußerungen von Politikern rechter Parteien wie Fidesz in Ungarn, Lega Nord in Italien, Vox in Spanien, der AfD in Deutschland und der SVP in der Schweiz, obwohl sie sich nicht überall als gleichermaßen wirksam erweisen. Je nach Kontext ändert sich die Rhetorik: Während die polnischen Anti-Gender-Kampagnen, die seit 2012 mit unterschiedlicher Intensität andauern, offen homofeindlich sind, zieht es die politische Rechte in Deutschland oder Schweden vor, Studiengänge der Geschlechterforschung und Queerfeminismus ins Visier zu nehmen, während sie gleichzeitig Geflüchtete und Migrant*innen aus muslimischen Ländern als Bedrohung für weiße Frauen und „unsere Schwulen“ verteufelt. In den westlichen Ländern verteidigen die Rechten weder das Recht des Mannes, seine Frau zu schlagen, noch schlagen sie (wie in Polen) ein totales Abtreibungsverbot vor, doch sie verunglimpfen eifrig die „Perversionen“ des Feminismus, der bei der Verfolgung einer egalitären Politik angeblich „zu weit gegangen“ ist.
Was rechtsextreme Parteien und ultrakonservative Bewegungen verbindet, ist nicht nur ihre gemeinsame Einstellung zum Thema Geschlecht. Wie aus dem Bericht von Neil Datta vom European Parliamentary Forum hervorgeht, erhielt die Anti-Gender-Bewegung in Europa in den Jahren 2009 bis 2019 Finanzmittel in Höhe von mindestens 188 Millionen US-Dollar aus der Russischen Föderation. Dieses Geld fließt zwar über Nichtregierungsorganisationen und verschiedene „Geldwaschanlagen“, stammt aber hauptsächlich aus den Taschen russischer Oligarchen (die Schlüsselfiguren sind Vladimir Jakunin und Konstantin Malofejev). Das bedeutet nicht, dass Russland der einzige oder gar der Hauptsponsor von Kampagnen gegen die „Queer-Ideologie“ ist: Im gleichen Zeitraum wurden 437 Millionen Dollar in der EU selbst aufgebracht, und 81 Millionen Dollar kamen aus den USA, hauptsächlich von konservativen Think Tanks. Dennoch zeigen diese Finanzströme, wer in Europa durch gemeinsame Ansichten und Geld mit Putin verbunden ist.

Demo anlässlich des World Congress of Families, Verona 2019; Quelle: guardian.ng
Der Kampf gegen „Gender“ ist nicht nur eine Auseinandersetzung über unterschiedliche Weltanschauungen – und er kann angesichts des tatsächlichen Krieges nicht einfach vom Tisch gewischt werden. Er ist ein Krieg des Guten gegen das Böse, in dem der Feind vernichtet werden muss – nicht nur symbolisch, sondern buchstäblich. Auf dem Weltkongress der Familien 2019 in Verona, an dem die Crème de la Crème der europäischen und weltweiten ultrakonservativen Organisationen, der rechtsextremen Parteien und der verschiedenen Zweige des Christentums teilnahm, erklärte einer der Organisatoren, Jacopo Coghe, dass die Bewegung gegen die „Gender-Ideologie“ in Wirklichkeit gegen „die Ideologien des Todes“ kämpfe, „die den Menschen und die menschliche Realität zerstören. Wenn die Mutter nicht mehr die Gebärende ist, und der Vater nicht mehr der Erzeuger, wenn Kinder käuflich sind und das Geschlecht im Kopf entschieden wird, wenn jeder Wunsch zum Recht wird, dann steht nicht nur ein neues Gesellschaftsmodell auf dem Spiel, sondern ein neues Paradigma der Menschheit“. Die Rhetorik ist so aufgebaut, dass sie präventive Gewalt als notwendige Verteidigung rechtfertigt. Putin versucht dies, wie wir bereits wissen, derzeit auszunutzen. Doch wo situieren sich die europäischen „Gender“-Gegner*innen in all dem?

Matteo Salvini mit Putin-T-Shirt vor dem Kreml; Quelle: .lavanguardia.com
Bis Februar 2022 war die Faszination, die das putinistische Russland auf diese Milieus ausübte, kein Geheimnis. Heute jedoch ist sie zu einer beschämenden Last geworden: Marine Le Pen musste über eine Million Wahlkampfbroschüren in den Papierkorb werfen, auf denen sie mit Putin posierte, und Matteo Salvini würde am liebsten alle Erinnerungen an die Fotos auslöschen, auf denen er in einem T-Shirt mit dem Konterfei des russischen Präsidenten zu sehen ist. Die als Putin-Sympathisanten bekannten Führer der spanischen Partei Vox weigerten sich zunächst, den russischen Angriff auf die Ukraine zu verurteilen, schwenkten dann aber um und vergleichen sich nun lieber mit Zelenskyj. Doch werden diese Kehrtwenden Bestand haben? Bedeuten sie, dass diese Parteien in Bezug auf die Fragen nach der moralischen Geografie Europas und auf ihre Haltung zur Europäischen Union einen Politikwechsel vollziehen? Nein, natürlich nicht. Wir müssen davon ausgehen, dass die populistische Rechte die „traditionelle Familie“ und die „Kinder“ weiterhin verteidigen und Brüssel weiterhin angreifen wird, dass sie jedoch ihre pro-russischen Sympathien etwas besser verstecken wird.
Globale ultrakonservative Bewegungen und rechtspopulistische Parteien sind durch eine ‚opportunistische Synergie‘ miteinander verbunden: Erstere erhalten politische und finanzielle Unterstützung für ihre Projekte, während letztere rhetorische Mittel erhalten, die es ihnen ermöglichen, soziale Ängste zu schüren. Ein perfektes Beispiel dafür ist das Bündnis zwischen Ordo Iuris und der politischen Rechten in Polen. Das Ordo Iuris-Institut hat enormen politischen Einfluss erlangt und zahlreiche Regierungsposten mit seinen Leuten besetzt; die rechten Politiker wiederum können so die Frustrationen und Ängste der Wähler vor „degenerierten Eliten, die Jungen in Mädchenkleider stecken wollen“ besser kanalisieren. Narrative über die Notwendigkeit, den Wahnsinn der „Gender-Ideologie“ zu bekämpfen, sind ein nützlicher Deckmantel für autoritäre und faschistoide Haltungen, die behaupten, das Kindswohl zu verteidigen. Im Falle Russlands tragen sie dazu bei, die Bürger davon zu überzeugen, dass die Tötung von Zivilist*innen ein notwendiger Preis sei, der für die Zukunft der christlichen Zivilisation bezahlt werden muss.
Das Schweigen des Papstes

Papst Franziskus und Patriarch Kirill auf Kuba, 2016; Quelle: merkur.de
Wie steht der Vatikan zu dieser Angelegenheit? Warum schweigt der Papst? Dies ist in der Tat schwer zu verstehen, wenn man die aktuellen kulturellen Spaltungen nicht ernst nimmt. Der Vatikan ist einer der Hauptverursacher des „Gender“-Kulturkriegs und eine der Hauptkriegsparteien. Seit den 1990er Jahren bekämpft die katholische Kirche die „Gender-Agenda“ – d. h. Frauen- und Minderheitenrechte sowie sexuellen Liberalismus – als gefährliche Erfindung der westlichen „Zivilisation des Todes“. Anfang der 2010er Jahre verurteilten sowohl der damalige Papst als auch die nachfolgenden Episkopate – einschließlich des polnischen – „Gender“, da sie darin eine Bedrohung für die Zivilisation sahen. Im Februar 2016 fand ein historisches Treffen zwischen Papst Franziskus und Patriarch Kirill in Kuba statt; bei dieser Gelegenheit gaben sie eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie die Ehe für alle verurteilten. Der Fairness halber sei gesagt, dass Franziskus am Weltkongress der Familien 2019 in Verona nicht teilnahm, und dass er sich von der brasilianischen ultrakonservativen Organisation TFP (Tradition, Familie, Eigentum), die ihm feindlich gesinnt ist, fernhält. Von Zeit zu Zeit distanziert er sich auch öffentlich von offener Homofeindlichkeit. Dennoch hat er weder die offene Konfrontation mit dem ultrakonservativen Flügel der Kirche gesucht noch katholische Bischöfe zur Ordnung gerufen, die wie der Krakauer Marek Jędraszewski öffentlich von einer „Regenbogenplage“ sprechen und homophobe Gewalt unterstützen. Ganz im Gegenteil: Er selbst warnte wiederholt vor einer „Kolonisierung durch Gender“.
Das Oberhaupt der katholischen Kirche schweigt zu Russlands barbarischem Krieg nicht nur aufgrund einer langen Tradition der Neutralität und des Wunsches, eine Vermittlerrolle einzunehmen. Den Vatikan und die russisch-orthodoxe Kirche verbindet die gemeinsame Überzeugung, dass der konservative Osten ein Gegengewicht zum liberalen Westen bildet. Doch was sagt der Vatikan zu Russlands Position, die Verteidigung der „wahren Werte“ erfordere den Tod von Zivilist*innen? Diese „Notwendigkeit“ beklagt der Papst zweifelsohne, doch während der Generalaudienz am 24. August sprach er lieber Alexander Dugin sein Beileid zum Tod seiner Tochter aus, als die zahllosen Gräueltaten zu verurteilen, die russische Soldaten an den Töchtern ukrainischer Bürger*innen begangen haben. Daran zeigt sich, dass die öffentlichen Äußerungen des Papstes zum Thema Krieg weder Zufälle noch Versprecher sind, sondern dass sie im Gegenteil die ideologische Nähe zwischen Russland und dem Oberhaupt der katholischen Kirche widerspiegeln.