Eine Erinnerung an das, was die Zeitschrift Du einmal auszeichnete.

  • Stefan Zweifel

    Stefan Zweifel ist Übersetzer, Journalist und Ausstellungsmacher.

Bekannt­lich gab das Du-Heft Chris­toph Blocher just vor den Natio­nal­rats­wahlen und dem Rechts­rutsch im Herbst 2015 eine Platt­form, sich den Mitte-Wählern als Kunst­mäzen zu präsen­tieren. Der Jour­na­list Oliver Prange schreibt im Edito­rial „Der Berg steht und bleibt, auch er ist nicht verdammt“ – der Wort­laut stammt aus dem Inter­view mit Blocher. Der Chef­re­dak­teur Oliver Prange beschwört, dass Blocher Kunst nicht als Kapital betrachtet, er „dachte nie an eine Samm­lung, nur an Bilder“. Der Satz stammt auch aus Blochers Mund. Der Heraus­geber Oliver Prange schwärmt von der Arbeits­kraft Blochers, wenn er „oft nachts aufsteht“. Auch dieser Satz stammt aus dem Inter­view. Keine der Aussagen von Chris­toph Blocher wurde im Edito­rial als Zitat ausge­zeichnet. Ein gera­dezu revo­lu­tio­närer Schritt in der Schweizer Publi­zistik. Und prompt schal­tete Blocher das ganze Du-Heft für uns alle gratis auf seine Website.

Das Edito­rial machte sich von A bis Z zum Sprach­rohr eines Poli­ti­kers, der genau jenen Geist verkör­pert, gegen den das Du über Jahr­zehnte seine Stimme erhob. Durch Poli­zei­schi­kanen und Arbeits­ver­bote ‚einge­pö­kelt‘, konnten die geistig tätigen Flücht­linge von Arnold Kübler bei der Grün­dung des Du 1941 zwar kaum je direkt einbe­zogen werden, um jenen poli­ti­schen Geist zu schärfen, aus dem die Zeit­schrift entstand. Dafür erhielten sie über entspre­chende Bericht­erstat­tungen, Fotos und Doku­men­ta­tionen um so mehr eine Stimme und ein Gesicht. Davon sind wir inzwi­schen weit entfernt. Eine Epoche geht zu Ende. Die Kultur steht zum Ausverkauf.

Das Blocher-Heft wurde quer­fi­nan­ziert durch Inse­rate wie dasje­nige der Emil Frey Auto AG, mit deren Finanz­macht der SVP-Politiker Walter Frey nach der kriti­schen Bericht­erstat­tung gegen­über der Auto­lobby Ende der 1970er, dann über die Zeit der 1980er-Unruhen hinweg bis 1999 durch einen Inserat-Boykott die Redak­tion des Tages-Anzeigers in die Knie zu zwingen versuchte. Nun aber scheint es so, als wollten dieselben Kreise gleich die Stimme des Du-Chefs kaufen, was seine Vorgänger skan­da­li­sierte. So etwa den lang­jäh­rigen Du-Chef­re­dak­teur Dieter Bachmann:

Es geschah im Herbst des Flücht­lings­elends 2015, dass ‚du‘ – oder das, was davon noch übrig ist – eine Nummer Herrn Blocher widmet und seiner gewiss ansehn­li­chen Samm­lung, einem Mann, der […] allem ins Gesicht schlägt, was diese Zeit­schrift – ein natio­nales Kultur­erbe! – einst ausge­macht hat. Arnold Kübler begann im Früh­ling 1941 mit dem ausdrück­li­chen Vorsatz der Soli­da­rität mit den Geschun­denen rund um die Schweiz. Das ‚du‘ als Titel war sein Programm; im Kreis jener Redak­tion wurde die Idee des Pestalozzi-Dorfes geboren, Hort für die Kriegs­waisen aus den betrof­fenen Ländern.

Man darf gespannt sein, wie das Schwei­ze­ri­sche Natio­nal­mu­seum dieses verges­sene Erbe Ende dieses Jahres in einer Ausstel­lung über die Geschichte des Du wieder in unsere Erin­ne­rung rufen wird: und in die Erin­ne­rung all jener, die wie etwa Karl Lüönd, der Verfasser einer funda­men­talen Studie über die Geschichte der EMS-Chemie, lieber uner­wähnt lassen wollen, dass das Du aus jenem poli­ti­schen Geist der Soli­da­rität geboren wurde, und dagegen betonen, es sei nach dem Verkauf der Zürcher Illus­trierten von Conzett + Huber ins Leben gerufen worden, um die Qualität von deren Farb- und Tief­dru­cken zu bewerben. Während die Blocher-Nummer gratis auf der Blocher-eigenen Website zu lesen ist (inkl. Inse­raten), kann man auf der retro.seals-Seite der ETH alle alten Du-Hefte als pdf gründ­lich überprüfen.

(Bildzitat) Flüchtlingskind aus Belgien, Zeitschrift Du (Dezember 1941) (Quelle: retro.seals)

(Bild­zitat) Flücht­lings­kind aus Belgien, Zeit­schrift Du (Dezember 1941) (Quelle: retro.seals)

Beson­ders bewe­gend ist der Tief­druck jeden­falls beim Bild eines abge­ma­gerten Flücht­lings­kindes aus Belgien, das 1941 bewusst in die erste Weih­nachts­nummer gesetzt wurde und bei den Lesern einen verstö­renden Eindruck hinter­ließ (Link, PDF). Weiter ging es mit einem Heft über das Rote Kreuz in Genf oder Repor­tagen über das Pestalozzi-Dorf; und Anne­marie Schwar­zen­bach, deren Cousin James dereinst die berüch­tigte frem­den­feind­liche Initia­tive lancieren sollte, berich­tete über berühmte Flücht­linge in Amerika (Link, S. 19, PDF). Im März 1945 folgte dann das denk­wür­dige Heft, das auf dem Titel ein Boot mit Flücht­lingen in Seenot zeigte. Sinn­bild einer ewig aktu­ellen Situa­tion. Das Titel­blatt im März 1945 mit den „Schiff­brü­chigen“ (1932) von Hein­rich Altherr aus der öffent­li­chen Kunst­samm­lung Basel kommen­tierte damals ein Kunst­his­to­riker empa­thisch: „Man ist selber einer von denen im Boote, ein halb Verhungerter.“

 (Bildzitat) Titelcover der Zeitschrift Du vom März 1945 (Quelle: retro.seals)

(Bild­zitat) Titel­cover der Zeit­schrift Du vom März 1945 (Quelle: retro.seals)

Genauso pathe­tisch eröff­nete Arnold Kübler sein Edito­rial mit dem Zitat: „Gib dem Manne die Hand, denn er ist ein Flücht­ling.“ Kübler erin­nerte an die 100’000 Menschen, die in der Schweiz Zuflucht gesucht haben und nun vergessen werden. Der mahnende Finger irri­tiert uns heutige Leser viel­leicht, aber weshalb eigent­lich? Ist er nicht beson­ders aktuell? „Wo man das Gesetz­buch kaufen könne, darin die Rechte fest­ge­legt seien, welche dem Flücht­ling in der Schweiz zuständen, fragte ein kroa­ti­scher Soldat. […] Welche Enttäu­schung war es für den Mann, zu hören, dass er ganz und gar von unserem guten Willen abhängig sei. […] Was für ein Ideal­bild unseres Landes hat er vorher in sich herum­ge­tragen.“ (Link, S. 5, PDF)

Und, so fragte Kübler, mit welchem Bild wird er die Schweiz verlassen? Wird es ihn, falls er je zu Reichtum und Einfluss in einem Konzern kommen wird, veran­lassen, mit der Schweiz Geschäfte zu machen, um seinen Dank zu verzinsen? Er kriti­sierte: „Man hat das Schwei­zer­volk und die Flücht­linge möglichst weit getrennt“, und empfahl zur Einfüh­lung als Gegen­übung eine margi­nale Publi­ka­tion, die im Gegen­satz zum Du nicht leicht käuf­lich war, für die Leser damals jeden­falls weniger als heute ein ganzes Du-Heft: „Ueber die Grenzen, eine Flücht­lings­zei­tung […], sie ist leider im Hand­ver­kauf nicht zu haben; denn obgleich sie den Unter­titel Von Flücht­lingen für Flücht­linge trägt, würde der sess­hafte, bewahrte Schweizer sie mit großem Nutzen lesen.“

So spannte das Du für den bürger­li­chen Leser, der solche Hand­zei­tungen lieber nicht in die Hand nimmt, den bildungs­bür­ger­li­chen Bogen vom Alten Ägypten und die Evan­ge­lien bis zum aktu­ellen „Menschen­sturz“ und „Völker­rutsch“, wobei in einer akri­bi­schen Analyse der „40’000 Zivil­flücht­linge“ aus „20 Nationen“ auch nicht jene „21“ vergessen gehen, die in Nerven­heil­an­stalten einge­lie­fert – und nicht etwas ausge­schafft – wurden (Link, PDF). Man stößt im Du jener Kriegs­jahre nicht nur auf die bewe­genden Photo­gra­phien von Werner Bischof und Hans Staub, die flüch­tende Männer mit ihren Kindern neben Panzern zeigen, Frauen mit ihrem Kind hinter Gittern in Zürcher Auffang­la­gern – sondern auch auf die Bild­welt des Samm­lers Blocher, die von Giaco­metti über Hodler präsent ist, dessen Bild „Ashver“ über den pilgernden und ewig flüch­tenden Juden damals im Du und jetzt in Winter­thur zu sehen war, aber auch auf ein Notiz­buch von Albert Anker und Gemälde von Adolf Dietrich.

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Der Geist der Samm­lung Blocher scheint letzt­lich aus dem Geist jenes Du entstanden zu sein, das sich Nummer für Nummer dem Schicksal der Migra­ti­ons­ströme annahm und uns zurief: „Du, Leser, verehrte Leserin, bist aufge­rufen, du Eidge­nosse, du Freund, du Mutter und jegli­ches Du, das in unserem Lande den Frieden genießt.“ (Link, S. 21, PDF) Hans Mayer unter­sucht die letzten vier Flücht­lings­wellen in die Schweiz seit 1933, und Otto Zaugg verschweigt in seinem Artikel nicht: „Für ein kleines über­völ­kertes, auf die Zufuhr von auswärts ange­wie­senes Land, das nur durch die Anstren­gungen und Einschrän­kungen jedes einzelnen Bürgers die vielen Schwie­rig­keiten wirt­schaft­li­cher und mili­tä­ri­scher Art dieser Kriegs­zeit zu über­winden vermag, bringt die Beher­ber­gung all dieser Menschen mancherlei Probleme.“ (Link, PDF) Und so verweist das Du in einem weiteren Essay auf „die größten Anstren­gungen“, die „vom Flücht­ling selbst geleistet werden“ müssen, damit er „aus der bishe­rigen inneren Isoliert­heit in eine Schick­sals­ge­mein­schaft heraus­tritt, die man nicht mehr als Zwang empfindet, sondern die man bewusst mitzu­ge­stalten versucht.“ (Link, S. 19, PDF)

„Und die Schweiz? Soll sie zu allem, was sie schon geleistet hat, noch Neues auf sich nehmen?“ Oder präziser: „Hat sie ihre Pflicht nicht getan?“ Nein, denn, so fährt der Essay von Berta Hoher­muth etwas dialek­tisch fort: „Das Schicksal der Flücht­linge ist welt­be­zogen, das Schicksal unseres Landes ist es nicht weniger; darum liegt in der Zukunft der Flücht­linge auch ein Teil unserer eigenen Zukunft beschlossen.“ Und dann stei­gert sich das Pathos noch­mals in hehre Höhen: „Nothelfen, die Zukunft der Flücht­linge vorbe­reiten, heißt daher nicht nur, den Flücht­lingen behilf­lich sein, sondern ebenso unserem Lande Wege in die Zukunft zu bauen. Darum: Wir müssen uns nicht um die Zukunft der Flücht­linge kümmern, wir dürfen es.“

Dieses Pathos lesend, verstehe ich, dass viele lieber an den Tief­druck denken, dessen Vermark­tung wir anschei­nend die Grün­dung des Du verdanken. Zumal im Du nicht verschwiegen wurde, dass wir, die Intel­lek­tu­ellen, die bedroh­liche Konkur­renz der hoch­be­gabten Flücht­linge damals mit Arbeits­verbot belegten. „Die Befürch­tungen von Schweizer Schrift­stel­lern und Jour­na­listen führten zu einem Arbeits­verbot für lite­ra­risch tätige Flücht­linge.“ Sie wurden „mit helve­ti­scher Propa­ganda und Poli­zei­schi­kanen gesalzen“, um sie „gleichsam ein[zu]pökeln“, da man in diesem Land „den Besitz des Schwei­zer­passes bereits als Talent­aus­weis ansieht.“ (Link, S. 56, PDF)

Das Du aber veröf­fent­lichte von den Schi­ka­nierten sogar Bilder in Farbe, in Tief­druck, etwa von Jacinto Salvado. Gerne hätte Kübler das Du durch nicht nur bera­tende Hilfe von Flücht­lingen und Migranten noch stärker poli­ti­siert, wie er 1957 bei seinem Abgang bedau­erte. Immerhin aber befragte er Flücht­linge mit 145 Frage­bogen nach ihrer Lieb­lings­lek­türe, aber die Flücht­linge schreckten vor den Frage­bogen oft zurück, sie vermu­teten hinter­häl­tige Absichten, bis sie endlich Auskunft gaben über ihre weiten Inter­es­sens­felder, ihre geis­tige Gemein­schaft mit uns. „Welche Art Lektüre und welche Bücher im einzelnen möchten Sie lesen?“ Und „warum?“ (Link, PDF) Eine Frage, die viel­leicht der Lite­ra­tur­club vom 8. März mit Nora Gomringer unter dem Titel „Flucht­wege“ für heute beant­worten wird.

„Wie konnte es kommen, dass diese Welt­an­schauung des Du uns fremd geworden ist?“ – fragte das Du und kriti­sierte sogar den Landi-Geist von 1939: „Die Herr­schaft der ichbe­zo­genen Welt­an­schauung hat ganze Völker in ihr Ich zerbrö­ckeln lassen.“ (Link, PDF) Von der Gegen­warts­kritik flüchtet das Magazin in die Zukunft des Jahres 2400 unter dem Titel HOMO MIGRANS, um ein zwie­späl­tiges Lob über die Schweiz auszu­spre­chen: „Dieses ‚Spre­chen mitein­ander‘, dessen erste Anfänge man bis ins zwan­zigste Jahr­hun­dert zurück bis zu einer Helve­ti­schen Aktion: ‚me muess halt rede miten­dand‘, zurück­ver­folgen kann, trug zu einer neuen Verbin­dung von Mensch zu Mensch am meisten bei.“ (Link, PDF) Viel­leicht müssen wir diesen Satz so wenig durch die Nennung des „einund­zwan­zigsten Jahr­hun­derts“ korri­gieren wie Dieter Bach­manns Verweis auf den Geist, aus dem das Du geboren wurde und bereits damals, noch ohne Quer­fi­nan­zie­rung durch Partei­kol­legen, den Kern der Blocher-Sammlung den Lesern in Farbe und Tief­druck präsentierte.


Dieser Artikel schreibt zwei Texte fort, die zuerst auf kunstundpolitik.ch (Oktober 2015) sowie als Kolumne im Journal #7 des Schau­spiel­hauses Zürich (Januar 2016) erschienen sind.