Der derzeit einflussreichste russische Künstler – Pëtr Pavlenskij – wird immer wieder auf seinen Geisteszustand untersucht. Was sagt das über das Verhältnis der russischen Gesellschaft zur zeitgenössischen Kunst und über die Funktion der Psychiatrie aus?

  • Sandra Frimmel

    Sandra Frimmel ist wissenschaftliche Koordinatorin des Zentrums Künste und Kulturtheorie (ZKK) der Universität Zürich und Projektleiterin bei der artasfoundation, Zürich.

Der radi­kale Peters­burger Perfor­mance­künstler Pëtr Pavlenskij steht wegen seiner Aktion „Bedro­hung“ („Ugroza“) in Moskau vor Gericht. Weil er in der Nacht des 9. November 2015 Feuer vor dem Haupt­ein­gang des berühmt-berüchtigten Haupt­quar­tiers des Inland­ge­heim­dienstes FSB am Lubjanka-Platz gelegt hatte, wird er nun wegen „Sach­be­schä­di­gung (Vanda­lismus) aus poli­ti­schem und ideo­lo­gi­schem Hass“ ange­klagt. Doch eigent­lich möchte Pavlenskij, der sich mit seiner Kunst gegen den Polizei- und Geheim­dienst­ap­parat, gegen die Apathie, die poli­ti­sche Unent­schie­den­heit und den Fata­lismus der gegen­wär­tigen russi­schen Gesell­schaft richtet, lieber wegen Terro­rismus ange­klagt werden – und schweigt im Gerichts­saal, solange die Rich­terin seinem Wunsch nicht entspricht.

Mit seiner Forde­rung spielt er auf die Verur­tei­lung des ukrai­ni­schen Regis­seurs Oleg Sencov im August 2015 an, der wegen Terro­rismus zu 20 Jahren Lager­haft verur­teilt wurde. Laut der Anklage sei Sencov der Kopf einer terro­ris­ti­schen Verei­ni­gung, die unter anderem die Eingangstür zum Büro der „Russi­schen Gemeinde der Krim“ in Brand gesetzt habe. Pavlenskij sagte hierzu in einem Inter­view aus dem Gerichtssaal:

Der Staat ruft zum Kampf gegen den Terro­rismus auf, und ich kämpfe gegen den Terror. […] [I]ch habe die [Sencov zur Last gelegte] Hand­lung wieder­holt. Und dann muss man mich nach der Logik dieses Justiz­sys­tems nicht des Vanda­lismus verdäch­tigen, sondern des Terro­rismus. Entweder ist es nach dieser Logik Terro­rismus, oder es ist einfach eine Geste.

Kranke Kunst, kranker Künstler?

Die Praxis des Staates, „die Menschen zu erschre­cken, indem er Angst als Steue­rungs­in­stru­ment benutzt“, liefert den Anlass für Pavlens­kijs Aktionen. In dieser Staats­logik ist der Künstler vor allem wahl­weise ein Extre­mist oder psychisch krank (oder beides), der „sich kurieren soll anstatt sich auszu­stellen“, wie der Abge­ord­nete Vitalij Milonov von der Partei „Einiges Russ­land“ äußerte.

Mit der Meinung, dass sowohl Pavlenskij als Einzel­fall als auch die gesamte zeit­ge­nös­si­sche Kunst – ganz gleich welches Genre – psychisch krank seien, ist Milonov nicht allein. Bereits in den Gerichts­pro­zessen und -verfahren seit Ende der 1990er Jahre gegen Perfor­mance­künstler wie Avdej Ter-Oganˮjan und Oleg Mavro­matti sowie gegen die Orga­ni­sa­toren der Ausstel­lungen „Achtung, Reli­gion!“ und „Verbo­tene Kunst 2006“ wurde die von ‚west­li­chen Strö­mungen‘ beein­flusste Gegen­warts­kunst als ‚anste­ckende Krank­heit‘ bezeichnet. Wieder­holt wurde verkündet, sie sei eine „Provo­ka­tion schwer­kranker Menschen“, sei ein „geis­tiges Gift“. Manche von der Anklage bestellten Gutachter gingen so weit, die Beschäf­ti­gung mit der zeit­ge­nös­si­schen Kunst mit einer zerstö­re­ri­schen Drogen­sucht zu verglei­chen, einzelne Werke wurden gar als „psycho­lo­gi­scher Terro­rismus“ dargestellt.

Petr Pavlenskij: "Bedrohung", Foto: Nigrina Beroeva

Petr Pavlenskij: „Bedro­hung“, Foto: Il’ja Varlamov

Was in all diesen Prozessen und Verfahren jedoch nur verbal gefor­dert wurde, nämlich die Erstel­lung psych­ia­tri­scher Gutachten der ange­klagten Künstler und Kura­toren, wurde im Prozess gegen die drei Punk-Aktivistinnen der Gruppe Pussy Riot 2012 zum ersten Mal umge­setzt, und in Pavlens­kijs Fall hat es mitt­ler­weile bereits eine gewisse Routine. Die Pussy-Riot-Aktivistinnen wurden von den Gutach­tern noch als voll­kommen zurech­nungs­fähig einge­stuft (wenn ihnen auch gewisse Auffäl­lig­keiten aufgrund ihrer ‚von der Norm abwei­chenden Lebens­füh­rung‘ und ihres ‚gestei­gerten Selbst­be­wusst­seins‘ beschei­nigt wurden). Bei Pavlenskij ist das anders. Die Gutachten tendieren im Laufe der Jahre immer stärker zur Abstem­pe­lung des Künst­lers als „psychisch krank“, und zwar bezeichnen sie ihn nicht nur als psychisch kranken Künstler, sondern als Menschen, der sich aufgrund seiner psychi­schen Krank­heit für einen Künstler hält.

Nachdem er im Juli 2012 im Rahmen seiner Aktion „Naht“ („Šov“) zum ersten Mal in Erschei­nung getreten war, als er sich zur Unter­stüt­zung von Pussy Riot den Mund zuge­näht und so verstummt ein Protest­plakat präsen­tiert hatte, kam der Psych­iater – die Poli­zisten bringen Pavlenskij übli­cher­weise ins Kran­ken­haus und nicht aufs Poli­zei­re­vier – noch zu dem Schluss, der Künstler sei „psychisch gesund“ und zeige keinerlei Anzei­chen von Wahn­vor­stel­lungen oder Suizid­ge­fähr­dung. Die Auto­ag­gres­sion habe ledig­lich einen „demons­tra­tiven“ Zweck erfüllt.

Ein Jahr darauf, im Mai 2013, legte Pavlenskij sich für seine Aktion „Kadaver“ („Tuša“) nackt in einer Stachel­draht­rolle vor das Gebäude des Peters­burger Parla­ments um zu zeigen, wie jede Hand­lung des Menschen in einem auto­ri­tären System Reak­tionen des Gesetzes hervor­ruft, die sich direkt in den Körper des Indi­vi­duums einschreiben. Diesmal wurde sein Zustand als „unmit­telbar gefähr­dend“ für den Pati­enten einge­stuft, weswegen ihm eine ambu­lante Behand­lung empfohlen (jedoch nicht ange­ordnet) wurde.

Nachdem er sich im November des glei­chen Jahres während seiner Aktion „Fixie­rung“ („Fiksa­cija“) seinen Hoden­sack auf das Kopf­stein­pflaster des Roten Platzes in Moskau gena­gelt hatte, wandelte sich das Bild deut­lich. Nun war die Rede davon, dass Pavlenskij „Wahn­vor­stel­lungen habe“, „sich für einen Künstler“ halte und der Ansicht sei, „er habe einen künst­le­ri­schen Akt“ voll­bracht. Der Psych­iater kam zu dem Schluss, dass der Patient an einer „emotional insta­bilen Persön­lich­keits­stö­rung“ leide.

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Im Anschluss an seine Aktion „Frei­heit“ [„Svoboda“] im Februar 2014, für die der Akti­ons­künstler als Zeichen der Unter­stüt­zung der Protest­be­we­gung auf dem Kiewer Majdan auf einer Brücke im Peters­burger Stadt­zen­trum Auto­reifen und Motor­hauben verbrannt hatte, bean­tragte der Unter­su­chungs­führer zwar ein Gutachten, es wurde jedoch nicht gericht­lich angeordnet.

Nach all diesen Zwangs­dia­gnosen und -gutachten machte Pavlenskij schließ­lich die Psych­ia­trie selbst zum Thema seiner Aktion „Tren­nung“ („Otde­lenie“). Im Oktober 2014 setzte er sich nackt auf die Mauer des Serbski-Wissenschaftszentrums für Sozial- und Gerichts­psych­ia­trie und schnitt sich (in einer Anspie­lung auf van Gogh) mit einem großen Messer das rechte Ohrläpp­chen ab:

Das Messer trennt das Ohrläpp­chen vom Körper. Die Beton­wand der Psych­ia­trie trennt die Gesell­schaft der Vernünf­tigen von den kranken Wahn­sin­nigen. Indem der Poli­zei­ap­parat die Psych­ia­trie wieder zu poli­ti­schen Zwecken einsetzt, nimmt er sich wieder­holt das Recht, über die Grenze zwischen Verstand und Wahn­sinn zu entscheiden. Sich mit psych­ia­tri­schen Diagnosen bewaff­nend, schneidet der Büro­krat im weißen Kittel jene Stücke von der Gesell­schaft ab, die ihn daran hindern, das mono­li­thi­sche Diktat einer für alle gültigen Norm aufzustellen.

Petr Pavlenskij, "Trennung", Quelle: Petr Pavlenskij

Petr Pavlenskij, „Tren­nung“, Quelle: Petr Pavlenskij

Heilung von der Kunst durch die Psychiatrie

Zu diesen „Stücken“, die von der Gesell­schaft abge­schnitten werden sollen, weil sie die ‚herr­schende Ordnung‘ stören, gehört mitt­ler­weile auch Pavlenskij selbst, über den infolge dieser Aktion wiederum drei psych­ia­tri­sche Gutachten ange­fer­tigt wurden. In diesen wurden sich gegen­seitig wider­spre­chende Diagnosen erstellt: eine „akute diffuse psychi­sche Störung“ zum einen, eine „Selbst­be­schä­di­gung […] zu demons­tra­tiven Zwecken“ zum anderen, und zu guter Letzt eine „akute poly­morphe psycho­ti­sche Störung mit auto­ag­gres­sivem Verhalten (mit der Empfeh­lung, Haloper­idol oder Aminazin zu verschreiben)“.

Mit Animazin wurden bereits zu Sowjet­zeiten all jene zwangs­the­ra­piert, die gegen die konven­tio­nellen sowje­ti­schen Normen und Werte verstießen, sei es durch beson­dere Klei­dung oder Frisur, durch ein wie auch immer ausge­prägtes unge­wöhn­li­ches Verhalten in der Öffent­lich­keit, durch ein Inter­esse an bestimmten Formen der Lite­ratur, Musik und bildenden Künste. „[M]it einem Wort“, wie der ameri­ka­ni­sche Psych­iater Isidore Zifer­stein 1966 nach einem einjäh­rigen Aufent­halt in der Sowjet­union schreibt, „wer durch sein Verhalten von der kollek­tiven Norm abweicht, muss damit rechnen, vom Psych­iater […] womög­lich als geis­tes­krank betrachtet zu werden“. Zu diesen zwangs­the­ra­pierten ‚Normen­ab­weich­lern‘ gehörten auch zahl­reiche nonkon­for­mis­ti­sche Künstler, unter anderem Michail Černyšov, der 1966 infolge einer Ausstel­lung im Moskauer Institut für Biophysik ein Jahr zuvor ein halbes Jahr in verschie­denen psych­ia­tri­schen Kliniken verbrachte, darunter im nämli­chen Serbski-Zentrum, das sich Pavlenskij für seine Aktion ausge­sucht hatte. „Eine ordent­liche Dosis Aminazin“, wie Černyšov sich erin­nert, drückt aufs Hirn und „macht aus jedem ein Kätzchen.“

Der Umgang der Polizei und des Gerichts mit Pavlenskij erweckt den Eindruck, als solle die Funk­tion der sowje­ti­schen Psych­ia­trie, als Aufseher über die normierte (Sowjet‑)Gesellschaft zu dienen, ‚kranke‘ Elemente auszu­sor­tieren und ruhig­zu­stellen, reak­ti­viert werden. Die Diagnose „multiple Persön­lich­keits­stö­rung“ diente in der sowje­ti­schen Gerichts­psych­ia­trie zur reich­lich schwam­migen Charak­te­ri­sie­rung von gesell­schaft­lich nonkon­formem und unkon­ven­tio­nellem Verhalten und führte zu mehr­mo­na­tigen Aufent­halten in psych­ia­tri­schen Kliniken.

Doch einige der Ärzte, die bislang mit Pavlenskij konfron­tiert waren, wollen sich nicht auf dieses Spiel einlassen. Aller laut­stark geäu­ßerten Vorwürfe, die Gegen­warts­kunst und ihre Künstler seien krank und normen­ab­trünnig, zum Trotz scheint sich die russi­sche Psych­ia­trie heute nicht mehr ganz so leicht in den Staats­dienst stellen lassen zu wollen. Zumin­dest kam jener Psych­iater, der im Oktober 2014 (allem Anschein nach auf eigene Initia­tive) ein Gutachten erstellte, zu dem Schluss, dass die Psych­ia­trie sich „im Ideal­fall weder in Prozesse des poli­ti­schen Akti­vismus noch in die Meta­mor­phosen des zeit­ge­nös­si­schen künst­le­ri­schen Schaf­fens einmi­schen sollte“.

Und was noch wich­tiger ist: Auch das jüngste Gutachten, für dessen Erstel­lung der Künstler gerade erst für mehrere Wochen aus der Unter­su­chungs­haft in eben jenes Serbski-Zentrum verlegt worden war, auf dessen Mauer er sich ein Ohrläpp­chen abge­schnitten hatte, diagnos­ti­zierte, dass Pavlenski voll­kommen zurech­nungs­fähig sei. Pavlenskij hat mit seiner jüngsten Aktion die direkte Konfron­ta­tion mit dem Gericht bewusst herbei­ge­führt, um seine bislang übliche Auto-Aggressivität in die Hände der Staats­ge­walt zu legen und somit ihre Logik zu testen.

Immerhin geht infolge des jüngsten psych­ia­tri­schen Gutach­tens zumin­dest die staat­liche, sowje­tisch gefärbte Logik, dass wer Kunst nicht nach den gängigen – akade­misch geprägten – Vorstel­lungen macht, wahn­sinnig in einem klini­schen Sinne sein müsse, heute nicht mehr auf. So wahr­schein­lich eine Verur­tei­lung nach den bishe­rigen Präze­denz­fällen auch ist – durch sie würde das Gericht Pavlens­kijs Status als einfluss­reichster Künstler des Jahres 2015, zu dem ihn das Inter­net­portal Artguide nach 2013 bereits zum zweiten Mal erklärte, in einer vermeint­li­chen Über­le­gen­heits­geste nur bestätigen.

Preis­ge­krönte Verbrechen?

Ein kleiner Appendix: Während in der Psych­ia­trie darüber nach­ge­dacht wurde, ob Pavlenskij psychisch gesund ist oder nicht, setzte ihn der Exper­ten­beirat des Preises „Inno­va­tion“, der jähr­lich vom National Centre for Contem­po­rary Arts (NCCA) in Moskau ausge­lobt wird, mit seiner Aktion „Bedro­hung“ in der Rubrik „Werk der visu­ellen Kunst“ auf die Short­list. Doch dabei blieb es nicht. Die Leitung des NCCA nahm die „Bedro­hung“ im Zuge des Gerichts­ver­fah­rens ohne Angabe von Gründen von der Liste, woraufhin der Exper­ten­beirat die Kate­gorie „Werk der visu­ellen Kunst“ aus Protest komplett strich. Offi­ziell heißt es hierzu:

Pavlens­kijs Arbeit wurde von der Liste genommen, weil er gegen das Gesetz verstoßen hat, weil ein mate­ri­eller Schaden entstanden ist. Wir als staat­liche Orga­ni­sa­tion können es uns nicht erlauben, eine Arbeit zu vertreten, durch die während des Herstel­lungs­pro­zesses gegen das Gesetz verstoßen wurde. Vor allem, weil der Preis mit Unter­stüt­zung des Kultur­mi­nis­te­riums verliehen wird, und es wäre seltsam, Geset­zes­ver­stöße zu unterstützen.

In einem poli­ti­schen Klima, in dem staat­liche Insti­tu­tionen, beson­ders jene, die sich mit kriti­schen Phäno­menen wie der Gegen­warts­kunst beschäf­tigen, mehr und mehr unter Beob­ach­tung stehen und um ihre Finan­zie­rung und damit um ihre Exis­tenz bangen müssen, zeugt dieser Schritt in erster Linie von einer voraus­ei­lenden insti­tu­tio­nellen Selbst­zensur, die sich immer stärker ausbreitet. In diesem Zusam­men­hang ist bemer­kens­wert, dass der Innovation-Preis 2011 schon einmal an eine Künst­ler­gruppe verliehen wurde, die mit ihrer Aktion einen (wenn auch nicht rechts­kräftig verur­teilten) Rechts­bruch begangen hatte.

Damals ging der Preis in der glei­chen Kate­gorie, in der auch Pavlens­kijs Aktion nomi­niert war, an die Gruppe Vojna für ihre Aktion „Der Schwanz in der Gefan­gen­schaft des FSB“ („Chuj v PLENu u FSB“) – bemer­kens­wer­ter­weise eine Arbeit, die sich wie auch Pavlens­kijs Aktion gegen den Geheim­dienst richtet. Im Sommer 2010 hatten die Mitglieder der Gruppe in rasanter Geschwin­dig­keit einen riesigen Phallus auf die Peters­burger Litejnyj-Brücke gemalt. Als sich nachts die Brücke öffnete, rich­tete sich der Phallus direkt gegen­über dem lokalen FSB-Gebäude auf. Der mitt­ler­weile verstor­bene Leonid Niko­laev wurde hierfür 48 Stunden in Unter­su­chungs­haft genommen und sollte wegen Vanda­lismus ange­klagt werden, wurde jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt. Damals schien zwar die Verlei­hung des Preises selbst strittig, nicht jedoch die Zulas­sung der Arbeit zur Abstim­mung. Als Pavlenskij bereits post factum im Gerichts­saal von dem Vorfall erfuhr, kommen­tierte er lächelnd: „Oh, na das ist doch ein staat­li­cher Preis.“