Narrative Begriffe wurden jahrelang selbstverständlich in der Öffentlichkeit verwendet. Eine Reihe jüngerer Publikationen beklagt nun die Tendenz, die Welt in Form von „Narrativen“ zu denken.

  • Florian Scherübl

    Florian Scherübl ist Literaturwissenschaftler. Nach dem Studium der Philosophie und Germanistik promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit über Erzählwelten. Augenblicklich lehrt er an der TU Dresden und am Bard College Berlin.

Spätes­tens seit den 1990er Jahren lässt sich in den Lite­ra­tur­wis­sen­schaften ein Boom der Erzähl­for­schung beob­achten. Zwar sind nicht erst seitdem Konzepte wie Narrativ in den Sprech­weisen von Jour­na­lismus, Manage­ment und PR-Beratung veran­kert. Doch Narra­to­lo­gi­sche Methodik hat sich seither mehr und mehr als Welt­erklä­rungs­mittel etabliert, inner­halb wie außer­halb der lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Academia. Von Firmen­ge­schichten auf Produkt­ver­pa­ckungen bis zu Face­book– und Insta­gram-Stories scheinen Narra­tionen und Narra­tive allge­gen­wärtig. Wo alles zur Geschichte wird, findet auch die Erzähl­theorie gute Gründe, ihr anfangs auf Texte beschränktes Forschungs­feld zu erwei­tern: Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Arbeiten zu narra­tiven Medien wie Comics, Filmen, Serien oder Video­spielen boomen seit Jahren. Es ist dieser doppelte Siegeszug, der des Narra­tiven und seiner Theorie, der heute manchen frag­würdig wird. Kritik daran erfolgt zumal im Namen des ‚echten Lebens‘. Dieses wird den Erzäh­lungen einer digi­ta­li­sierten Medi­en­welt oft entge­gen­ge­setzt, statt deren mediale Infra­struk­turen zu reflektieren.

Der Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler Peter Brooks, einst eine der Schlüs­sel­fi­guren des narra­tive turn, hat der ZEIT kürz­lich ein Inter­view gegeben. Anläss­lich seines jüngsten Buches Seduced by Story (New York 2022) kriti­siert Brooks darin die Omni­prä­senz von Narra­tiven. „Ich denke darüber nach, wie sehr die schiere Menge an Geschichten in unserer Kultur zuge­nommen hat. Alle wollen dir heute ihre Geschichte erzählen. Ich kann keine Tafel Scho­ko­lade kaufen, ohne dass mir auf der Rück­seite die Geschichte der Firma erzählt wird. Und ich frage mich: Sind diese Geschichten es wert, gehört zu werden?“ Diese Skepsis an der Verviel­fäl­ti­gung der Narra­tionen, ihres Werts und Erkennt­nis­ge­halts steht heute nicht allein. Letztes Jahr hat der Germa­nist Ansgar Mohn­kern eine Mono­grafie mit dem kämp­fe­ri­schen Titel Gegen die Erzäh­lung (Wien-Berlin 2022) veröf­fent­licht. Darin zieht er eine Verbin­dung zwischen dem Verfahren von Erzäh­lung und Algo­rithmen in digi­ta­li­sierten Gesell­schaften. Verfahren Erzähl­texte nach Roman Jakobson metony­misch, so gelte das auch für Algo­rithmen. Wie die Erzäh­lung so auf ein Weiter­laufen des Syntagmas setzt, bestehe die soziale Logik metony­mi­scher Konti­guität in einem ewigen ‚Weiter so‘ des Bestehenden (so Mohn­kern mit an Adorno geschulter Skepsis). Und mit Byung-Chul Han (Die Krise der Narra­tion, Berlin 2023) hat sich zuletzt einer von Deutsch­lands meist­ge­le­senen Philo­so­phen der Domi­nanz des Narra­tiven angenommen.

Die Lite­ratur und das Leben

Mit der Kate­gorie des Narra­tivs begreifen wir, immer schon vulgär-narratologisch, die Welt als von Erzäh­lungen struk­tu­riert. Aber was heißt es, wenn die Jeans-Werbung auf der Straße von einer Geschichte spricht, die man anziehen kann?

Han und Mohn­kern setzen dem Narra­tiven die Reha­bi­li­tie­rung einer ursprüng­li­cheren Wirk­lich­keit entgegen, an der lite­ra­ri­sche Erzähl­texte gerade noch Anteil haben. Bei beiden ist der Ausgangs­punkt Walter Benja­mins Aufsatz Der Erzähler von 1937. Benjamin behauptet darin, dass eine in der Lebens­praxis münd­lich einge­bet­tete Erzähl­tra­di­tion verschwunden sei. Der archai­sche Erzähler (den Benjamin durch­ge­hend mit dem Masku­linum anspricht) kommu­ni­ziert noch die Erfah­rung seiner Lebens­welt. Er webt an einem Mate­rial, das er selbst schon vorge­funden hat.

Damit liegt der heutige Reiz von Benja­mins Erzähl­theorie auf der Hand. Gesell­schaften, deren Massen­me­dien von Erzäh­lungen über­strömen, bietet der Konnex aus oralem Erzählen und Leben ein Gegen­mo­dell, das die selbst­re­fe­ren­zi­ellen und medi­en­über­grei­fenden Franchise-Story-Maschinen von Marvel und Disney kontras­tiert. Eine ähnliche Oppo­si­tion zeichnet sich zu jenen Narra­tiven ab, die in Jour­na­lismus und Polit­be­ra­tung instru­men­telle Funk­tionen ausüben (chan­ging the narra­tive). Die Texte Melvilles und Prousts, so liest man bei Mohn­kern, stehen diesem Leben nahe, indem sie das Erzählen an entschei­denden Momenten suspen­dierten. Der Verfasser stellt sie schließ­lich Algo­rithmen von Serien-Produzenten und -Anbie­tern wie Netflix gegen­über, die ein unend­li­ches ‚Weiter so‘ gewähr­leisten, indem sie mit dem nächsten Binge Watching-Vorschlag aufwarten. Ähnlich atta­ckiert auch Byung Chul-Han eine in seinen Augen falsche, vom Leben entbun­dene Narra­ti­vität. Die Infor­ma­ti­ons­ge­sell­schaft reiße ihre Gegen­stände aus dem Lebens­zu­sam­men­hang heraus. Narra­tion nennt Han eine Schluss­form. Dieser in der Logik anders besetzte Begriff soll bei ihm eine Ausdeu­tung des Lebens bezeichnen, welche dieses als Sinn­ho­ri­zont abschließt. Damit aber sei die Erzäh­lung das Gegen­teil der auf Unend­lich­keit gestellten Infor­ma­ti­ons­ak­ku­mu­la­tion von Big Data, Netflix und Co.

Es ist frag­lich, ob Benja­mins Theorie sich diesen Beru­fungen fügt. Verfolgt man die Verbin­dung zwischen oralem Erzählen, Erfah­rung und Leben in seinem Erzäh­ler­auf­satz von 1937, so stellt für Benjamin bereits der zu Beginn der Neuzeit aufkom­mende Roman eine Verfalls­form der diagnos­ti­zierten Symbiose von erzäh­le­ri­scher Oralität und Lebens­zu­sam­men­hang dar. Im Roman zerreiße der bürger­liche Indi­vi­dua­lismus mittels der schrift­li­chen Form das prak­ti­sche, präsen­ti­sche Band zwischen Erzäh­lenden und Gemein­schaft. Im ersten Drittel des 20. Jahr­hun­derts steht indes nicht der Roman, sondern die Infor­ma­tion in Gestalt des Jour­na­lismus der Erzäh­lung gegen­über. Schließ­lich impli­ziert Der Erzähler, anders als Byung-Chul Hans Krise der Narra­tion, keine kultur­pes­si­mis­ti­sche Verfalls­ge­schichte. Benjamin betrachtet den von ihm ausge­machten Zustand als „Begleit­erschei­nung säku­larer geschicht­li­cher Produk­tiv­kräfte, die die Erzäh­lung ganz allmäh­lich aus dem Bereich der leben­digen Rede entrückt hat und zugleich eine neue Schön­heit in dem Entschwin­denden fühlbar macht“. Die Erzäh­lung musste erst auf die Infor­ma­tion warten, um selbst heller zu scheinen – das heißt, um als das erkannt zu werden, was sie war.

Post­fak­ti­sches Erzählen?

Die Beru­fung auf das ‚Leben‘ als gutes Gegen­stück zu den Erzäh­lungen der Infor­ma­ti­ons­ge­sell­schaft bleibt proble­ma­tisch. Die Oppo­si­tion sugge­riert einen Gegen­satz, der die Diagnosen von Han, Mohn­kern und Brooks durch­zieht und der die heutige Zirku­la­tion von Erzäh­lungen nur in ihrer patho­lo­gi­schen Form auffasst. Dazu zählt auch das Ausgreifen der Narra­tive über den ihnen zuge­wie­senen – lite­ra­ri­schen, fiktio­nalen, ästhe­ti­schen – Bereich.

Brooks’ Vorwort zu Seduced by Story verrät, dass für ihn die Welt-, lies: Wirk­lich­keits­be­herr­schung der Narra­tion („the moment narra­tive took over the world“) mit der Vorstel­lung des ersten Kabi­netts von George W. Bush begonnen habe: Bush Jr. stellte zukünf­tige Minister wie Colin Powell oft mit Verweis auf ihre „stories“ vor. Eine solche Aufwer­tung des Narra­tiven scheint schon auf die Umstände des Irak-Kriegs voraus­zu­weisen. Damals half die mediale Zirku­la­tion von Geschichten und Gerüchten, Saddam Huss­eins Regime verfüge über chemi­sche Waffen, die Inter­ven­tion zu begründen. Berühmt ist die Rede des dama­ligen Vertei­di­gungs­mi­nis­ters Donald Rums­feld von „unknown unknowns“ (2002), bei der er sich die Verbrei­tung bestimmter Geschichten und Gerüchte zunutze machen konnte. Der Weg von den Erzäh­lungen zum Phäno­men­be­reich des „Post­fak­ti­schen“ scheint kurz.

Die Erzäh­lungen haben ihren ange­stammten Bereich verlassen und die Welt über­schwemmt: diese Behaup­tung besitzt eine Struk­tur­ähn­lich­keit zu einem zentralen Argu­ment der Postmoderne-Debatten vergan­gener Jahr­zehnte. Bei Mohn­kern wird diese Nähe deut­lich, wenn er Jean-François Lyotards Begriff der ‚großen Erzäh­lungen‘ als Indiz einer Verwi­schung der Grenzen von Fiktion und Wirk­lich­keit ausmacht. Ausge­rechnet bei Jacques Derrida – der weder einen beson­ders expo­nierten Begriff der Erzäh­lung etablieren wollte noch eine Refe­renz­größe der Erzähl­for­schung ist – möchte Mohn­kern ein unbe­dingtes Verwan­deln von Wirk­lich­keit in Erzäh­lung am Werk sehen. Was mit anderen Worten hier argu­men­tativ durch­schlägt, ist ein Fiktio­na­li­sie­rungs­vor­wurf. Dieser ist analog zu jener Eineb­nung des Gattungs­un­ter­schieds zwischen Philo­so­phie und Lite­ratur, deren Jürgen Habermas Derrida in Der philo­so­phi­sche Diskurs der Moderne (1986) bezich­tigt hatte. An Habermas geschulte Fiktionstheoretiker*innen machten daraus in den 2000er Jahren die Eineb­nung der Diffe­renz zwischen Fakt und Fiktion. Dem folgt nun die Grenz­ver­wi­schung zwischen Erzäh­lung und Leben. Allein, ist dieser Vorwurf mehr als ein mutiertes Narrativ?

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

Kritik und Geschichte

Die Kritik an der „sinn­losen“ Zirku­la­tion von Narra­tiven und an Narra­ti­vi­täts­be­griffen hält somit wenigs­tens drei Fall­stricke bereit.

1. Sie besitzt eine impli­zite Norma­ti­vität. Han, Mohn­kern und Brooks eint, dass sie gute von schlechten Erzäh­lungen trennen. Erstere entstammen fast immer der lite­ra­ri­schen Hoch­kultur; letz­tere werden vor allem mit der digi­talen Sphäre in Verbin­dung gebracht (Hans Infor­ma­tion, Mohn­kerns Algorithmen).

2. Dabei wird ein bedenk­lich unter­re­flek­tierter Begriff des Lebens gegen eine zuneh­mend digital statt­fin­dende Öffent­lich­keit mobi­li­siert. Hier liegt der Verdacht nahe, dass kultur­pes­si­mis­ti­sche Scha­blonen – der angeb­liche Verlust eines „echteren“ Lebens, die zur Simu­la­tion neigende Post­mo­derne – an die Stelle kultur­wis­sen­schaft­li­cher Ursa­chen­for­schung treten.

3. Schließ­lich stellt sich die Frage, ob mit den zahl­losen Bezügen auf die Erzäh­lung nicht auch die Einheit dieses Begriffs zersplit­tert. Auch im hoch­gradig ausdif­fe­ren­zierten Feld der Narra­to­logie ist es keines­wegs selbst­ver­ständ­lich, dass verschie­dene Subdis­zi­plinen noch dieselben Konzepte teilen (der Begriff der Welt wäre ein gutes Beispiel: während „mögliche Welt“ in der Fiktio­na­li­täts­theorie eine von fiktio­nalen Texten refe­ren­zia­li­sierte Wirk­lich­keits­to­ta­lität meint, disku­tiert der Kompa­ra­tist Eric Hayot als „lite­rary world“ auch sozial und kultu­rell diverse Welt­deu­tungen in Erzählmedien).

Die ausge­ru­fene Krise der Erzäh­lung müsste viel­leicht weiter­füh­rende Frage­stel­lungen hervor­bringen. Welche sozialen Infra- und Macht­struk­turen betten Wirk­lich­keit fort­wäh­rend in Erzäh­lungen ein? Wer hat ein Inter­esse daran, welche Erzäh­lungen zu verbreiten? Wo liegt der Punkt, an dem Erzähl­struk­turen Wirk­lich­keit über­la­gern? Eine kultur­wis­sen­schaft­liche Narra­to­logie, in deren Aufga­ben­be­reiche solche Fragen fielen, kann sicher nicht auf den Begriff der Erzäh­lung verzichten. Statt sich mit seiner Krise zu begnügen, hätte sie ihn analy­tisch zurück­zu­ge­winnen und kritisch zu schärfen. Denn schließ­lich ließe sich sogar noch fragen: was erzählt eigent­lich die Erzäh­lung von der Krise der Erzählung?