Spätestens seit den 1990er Jahren lässt sich in den Literaturwissenschaften ein Boom der Erzählforschung beobachten. Zwar sind nicht erst seitdem Konzepte wie Narrativ in den Sprechweisen von Journalismus, Management und PR-Beratung verankert. Doch Narratologische Methodik hat sich seither mehr und mehr als Welterklärungsmittel etabliert, innerhalb wie außerhalb der literaturwissenschaftlichen Academia. Von Firmengeschichten auf Produktverpackungen bis zu Facebook– und Instagram-Stories scheinen Narrationen und Narrative allgegenwärtig. Wo alles zur Geschichte wird, findet auch die Erzähltheorie gute Gründe, ihr anfangs auf Texte beschränktes Forschungsfeld zu erweitern: Literaturwissenschaftliche Arbeiten zu narrativen Medien wie Comics, Filmen, Serien oder Videospielen boomen seit Jahren. Es ist dieser doppelte Siegeszug, der des Narrativen und seiner Theorie, der heute manchen fragwürdig wird. Kritik daran erfolgt zumal im Namen des ‚echten Lebens‘. Dieses wird den Erzählungen einer digitalisierten Medienwelt oft entgegengesetzt, statt deren mediale Infrastrukturen zu reflektieren.
Der Literaturwissenschaftler Peter Brooks, einst eine der Schlüsselfiguren des narrative turn, hat der ZEIT kürzlich ein Interview gegeben. Anlässlich seines jüngsten Buches Seduced by Story (New York 2022) kritisiert Brooks darin die Omnipräsenz von Narrativen. „Ich denke darüber nach, wie sehr die schiere Menge an Geschichten in unserer Kultur zugenommen hat. Alle wollen dir heute ihre Geschichte erzählen. Ich kann keine Tafel Schokolade kaufen, ohne dass mir auf der Rückseite die Geschichte der Firma erzählt wird. Und ich frage mich: Sind diese Geschichten es wert, gehört zu werden?“ Diese Skepsis an der Vervielfältigung der Narrationen, ihres Werts und Erkenntnisgehalts steht heute nicht allein. Letztes Jahr hat der Germanist Ansgar Mohnkern eine Monografie mit dem kämpferischen Titel Gegen die Erzählung (Wien-Berlin 2022) veröffentlicht. Darin zieht er eine Verbindung zwischen dem Verfahren von Erzählung und Algorithmen in digitalisierten Gesellschaften. Verfahren Erzähltexte nach Roman Jakobson metonymisch, so gelte das auch für Algorithmen. Wie die Erzählung so auf ein Weiterlaufen des Syntagmas setzt, bestehe die soziale Logik metonymischer Kontiguität in einem ewigen ‚Weiter so‘ des Bestehenden (so Mohnkern mit an Adorno geschulter Skepsis). Und mit Byung-Chul Han (Die Krise der Narration, Berlin 2023) hat sich zuletzt einer von Deutschlands meistgelesenen Philosophen der Dominanz des Narrativen angenommen.
Die Literatur und das Leben
Mit der Kategorie des Narrativs begreifen wir, immer schon vulgär-narratologisch, die Welt als von Erzählungen strukturiert. Aber was heißt es, wenn die Jeans-Werbung auf der Straße von einer Geschichte spricht, die man anziehen kann?
Han und Mohnkern setzen dem Narrativen die Rehabilitierung einer ursprünglicheren Wirklichkeit entgegen, an der literarische Erzähltexte gerade noch Anteil haben. Bei beiden ist der Ausgangspunkt Walter Benjamins Aufsatz Der Erzähler von 1937. Benjamin behauptet darin, dass eine in der Lebenspraxis mündlich eingebettete Erzähltradition verschwunden sei. Der archaische Erzähler (den Benjamin durchgehend mit dem Maskulinum anspricht) kommuniziert noch die Erfahrung seiner Lebenswelt. Er webt an einem Material, das er selbst schon vorgefunden hat.
Damit liegt der heutige Reiz von Benjamins Erzähltheorie auf der Hand. Gesellschaften, deren Massenmedien von Erzählungen überströmen, bietet der Konnex aus oralem Erzählen und Leben ein Gegenmodell, das die selbstreferenziellen und medienübergreifenden Franchise-Story-Maschinen von Marvel und Disney kontrastiert. Eine ähnliche Opposition zeichnet sich zu jenen Narrativen ab, die in Journalismus und Politberatung instrumentelle Funktionen ausüben (changing the narrative). Die Texte Melvilles und Prousts, so liest man bei Mohnkern, stehen diesem Leben nahe, indem sie das Erzählen an entscheidenden Momenten suspendierten. Der Verfasser stellt sie schließlich Algorithmen von Serien-Produzenten und -Anbietern wie Netflix gegenüber, die ein unendliches ‚Weiter so‘ gewährleisten, indem sie mit dem nächsten Binge Watching-Vorschlag aufwarten. Ähnlich attackiert auch Byung Chul-Han eine in seinen Augen falsche, vom Leben entbundene Narrativität. Die Informationsgesellschaft reiße ihre Gegenstände aus dem Lebenszusammenhang heraus. Narration nennt Han eine Schlussform. Dieser in der Logik anders besetzte Begriff soll bei ihm eine Ausdeutung des Lebens bezeichnen, welche dieses als Sinnhorizont abschließt. Damit aber sei die Erzählung das Gegenteil der auf Unendlichkeit gestellten Informationsakkumulation von Big Data, Netflix und Co.
Es ist fraglich, ob Benjamins Theorie sich diesen Berufungen fügt. Verfolgt man die Verbindung zwischen oralem Erzählen, Erfahrung und Leben in seinem Erzähleraufsatz von 1937, so stellt für Benjamin bereits der zu Beginn der Neuzeit aufkommende Roman eine Verfallsform der diagnostizierten Symbiose von erzählerischer Oralität und Lebenszusammenhang dar. Im Roman zerreiße der bürgerliche Individualismus mittels der schriftlichen Form das praktische, präsentische Band zwischen Erzählenden und Gemeinschaft. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts steht indes nicht der Roman, sondern die Information in Gestalt des Journalismus der Erzählung gegenüber. Schließlich impliziert Der Erzähler, anders als Byung-Chul Hans Krise der Narration, keine kulturpessimistische Verfallsgeschichte. Benjamin betrachtet den von ihm ausgemachten Zustand als „Begleiterscheinung säkularer geschichtlicher Produktivkräfte, die die Erzählung ganz allmählich aus dem Bereich der lebendigen Rede entrückt hat und zugleich eine neue Schönheit in dem Entschwindenden fühlbar macht“. Die Erzählung musste erst auf die Information warten, um selbst heller zu scheinen – das heißt, um als das erkannt zu werden, was sie war.
Postfaktisches Erzählen?
Die Berufung auf das ‚Leben‘ als gutes Gegenstück zu den Erzählungen der Informationsgesellschaft bleibt problematisch. Die Opposition suggeriert einen Gegensatz, der die Diagnosen von Han, Mohnkern und Brooks durchzieht und der die heutige Zirkulation von Erzählungen nur in ihrer pathologischen Form auffasst. Dazu zählt auch das Ausgreifen der Narrative über den ihnen zugewiesenen – literarischen, fiktionalen, ästhetischen – Bereich.
Brooks’ Vorwort zu Seduced by Story verrät, dass für ihn die Welt-, lies: Wirklichkeitsbeherrschung der Narration („the moment narrative took over the world“) mit der Vorstellung des ersten Kabinetts von George W. Bush begonnen habe: Bush Jr. stellte zukünftige Minister wie Colin Powell oft mit Verweis auf ihre „stories“ vor. Eine solche Aufwertung des Narrativen scheint schon auf die Umstände des Irak-Kriegs vorauszuweisen. Damals half die mediale Zirkulation von Geschichten und Gerüchten, Saddam Husseins Regime verfüge über chemische Waffen, die Intervention zu begründen. Berühmt ist die Rede des damaligen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld von „unknown unknowns“ (2002), bei der er sich die Verbreitung bestimmter Geschichten und Gerüchte zunutze machen konnte. Der Weg von den Erzählungen zum Phänomenbereich des „Postfaktischen“ scheint kurz.
Die Erzählungen haben ihren angestammten Bereich verlassen und die Welt überschwemmt: diese Behauptung besitzt eine Strukturähnlichkeit zu einem zentralen Argument der Postmoderne-Debatten vergangener Jahrzehnte. Bei Mohnkern wird diese Nähe deutlich, wenn er Jean-François Lyotards Begriff der ‚großen Erzählungen‘ als Indiz einer Verwischung der Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit ausmacht. Ausgerechnet bei Jacques Derrida – der weder einen besonders exponierten Begriff der Erzählung etablieren wollte noch eine Referenzgröße der Erzählforschung ist – möchte Mohnkern ein unbedingtes Verwandeln von Wirklichkeit in Erzählung am Werk sehen. Was mit anderen Worten hier argumentativ durchschlägt, ist ein Fiktionalisierungsvorwurf. Dieser ist analog zu jener Einebnung des Gattungsunterschieds zwischen Philosophie und Literatur, deren Jürgen Habermas Derrida in Der philosophische Diskurs der Moderne (1986) bezichtigt hatte. An Habermas geschulte Fiktionstheoretiker*innen machten daraus in den 2000er Jahren die Einebnung der Differenz zwischen Fakt und Fiktion. Dem folgt nun die Grenzverwischung zwischen Erzählung und Leben. Allein, ist dieser Vorwurf mehr als ein mutiertes Narrativ?
Kritik und Geschichte
Die Kritik an der „sinnlosen“ Zirkulation von Narrativen und an Narrativitätsbegriffen hält somit wenigstens drei Fallstricke bereit.
1. Sie besitzt eine implizite Normativität. Han, Mohnkern und Brooks eint, dass sie gute von schlechten Erzählungen trennen. Erstere entstammen fast immer der literarischen Hochkultur; letztere werden vor allem mit der digitalen Sphäre in Verbindung gebracht (Hans Information, Mohnkerns Algorithmen).
2. Dabei wird ein bedenklich unterreflektierter Begriff des Lebens gegen eine zunehmend digital stattfindende Öffentlichkeit mobilisiert. Hier liegt der Verdacht nahe, dass kulturpessimistische Schablonen – der angebliche Verlust eines „echteren“ Lebens, die zur Simulation neigende Postmoderne – an die Stelle kulturwissenschaftlicher Ursachenforschung treten.
3. Schließlich stellt sich die Frage, ob mit den zahllosen Bezügen auf die Erzählung nicht auch die Einheit dieses Begriffs zersplittert. Auch im hochgradig ausdifferenzierten Feld der Narratologie ist es keineswegs selbstverständlich, dass verschiedene Subdisziplinen noch dieselben Konzepte teilen (der Begriff der Welt wäre ein gutes Beispiel: während „mögliche Welt“ in der Fiktionalitätstheorie eine von fiktionalen Texten referenzialisierte Wirklichkeitstotalität meint, diskutiert der Komparatist Eric Hayot als „literary world“ auch sozial und kulturell diverse Weltdeutungen in Erzählmedien).
Die ausgerufene Krise der Erzählung müsste vielleicht weiterführende Fragestellungen hervorbringen. Welche sozialen Infra- und Machtstrukturen betten Wirklichkeit fortwährend in Erzählungen ein? Wer hat ein Interesse daran, welche Erzählungen zu verbreiten? Wo liegt der Punkt, an dem Erzählstrukturen Wirklichkeit überlagern? Eine kulturwissenschaftliche Narratologie, in deren Aufgabenbereiche solche Fragen fielen, kann sicher nicht auf den Begriff der Erzählung verzichten. Statt sich mit seiner Krise zu begnügen, hätte sie ihn analytisch zurückzugewinnen und kritisch zu schärfen. Denn schließlich ließe sich sogar noch fragen: was erzählt eigentlich die Erzählung von der Krise der Erzählung?
Ich denke, der Versuch Narration irgendwelchem Essentiellen gegenüberzustellen ist illusorisch.Die menschliche Kultur baut auf Narrativen auf. Für wahr wird das Narrativ gehalten, das sich in der Konkurrenz der Narrative zeitbedingt und zeitbegrenzt als solches durchsetzt. Was viel mit Macht oder Hegemonie zu tun hat. Mit politischer, wirtschaftlicher, medialer, religiöser, kultureller, zeitgeistmächtiger usw. Wäre es nicht so, wäre die menschliche Zivilisation nicht ein unendlicher Springquell sich ständig ändernder Narrative und Kommunikation geworden. Von der Technik, Naturwissenschaften, Ökonomie, Kultur usw. Die menschliche Zivilisation hat sich so zu einer hohen Diversität erhoben. In Krisenzeiten sucht sie essentielle Wurzeln. Die es nicht gibt. Der… Mehr anzeigen »