„Sollten wir auch in den Krieg ziehen, wir, die Gelehrten, die Intellektuellen?“ Das fragte sich der französische Philosoph und Wissenschaftssoziologe Bruno Latour vor beinahe fünfzehn Jahren. In einem vielbeachteten Aufsatz nahm er vieles vorweg, das wir heute unter dem Stichwort ‚postfaktisches Zeitalter‘ diskutieren. Latour stellte sich seine Leitfrage als „Kriegsveteran“: er war eine der zentralen Figuren der „Science Wars“ der 1990er Jahre. In diesem Kampf um den wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch standen Vertreter der Wissenschaftssoziologie einem Lager von „Realisten“ gegenüber. Erstere betonten, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nie rein objektiv seien, sondern aus ihrem spezifischen historisch-sozialen Kontext hervorgingen. Sie entsprängen auch nicht einzig den genialen Köpfen der Wissenschaftler. Vielmehr hingen sie von Diskursen, Interessen, und materiellen Dingen ab, die sich der Kontrolle der Forscher zu weiten Teilen entzögen. Kurz: die wissenschaftliche Wahrheit sei „konstruiert“.
Die andere Seite, die sich vor allem aus praktizierenden Naturwissenschaftlern rekrutierte, verwahrte sich gegen den „postmodernen Relativismus“. Da dieser in ihren Augen jeglichem wissenschaftlichen Objektivitätsanspruch den Boden unter den Füssen wegzuziehen drohte, setzten sie zum Gegenangriff an. Die Auseinandersetzungen gipfelten in der sogenannten Sokal-Affäre. Dem Physiker Alan Sokal gelang es, einen fehlerhaften und mit kulturwissenschaftlichem Jargon durchsetzten Hoax-Artikel in einer sozialwissenschaftlichen Zeitschrift zu veröffentlichen. Das Medienecho, das er damit auslöste, war gewaltig. „Professor Sokal’s Bad Joke“ brachte es bis zur Titelstory der New York Times. Damit war der Schaden angerichtet. Latours Seite konnte noch so sehr betonen, dass das betreffende Journal eine „schlechte Zeitschrift“ ohne Peer-Review-Verfahren sei. Die „Postmoderne Theorien“ schienen dem geneigten Publikum als „Impostures Intellectuelles“ – intellektuelle Hochstapeleien – entlarvt.
Ein neuer Hoax
Und nun machte in den letzten Tagen unter dem Namen #SokalSquared – Sokal im Quadrat –ein neuer Hoax in den sozialen und klassischen Medien die Runde. Während eines Jahres hatte sich ein Akademiker-Trio die Mühe gemacht, rund 20 Fake-Artikel zu verfassen und wissenschaftlichen Fachjournalen vorzulegen. Es handelte sich dabei um Zeitschriften aus Forschungsfeldern, die gemäss der etwas wackligen Definition des Trios „lose als ‘Kulturwissenschaften’, ‘Identitätsstudien’ (z.B. Geschlechterforschung) oder ‘kritische Theorie’ bekannt sind, weil sie in jener postmodernen Art der ‘Theorie’ verwurzelt sind, die in den späten sechziger Jahren entstand.“ Tatsächlich gelang es, dass immerhin sieben der Hoax-Papers zur Publikation akzeptiert wurden. Und wieder schienen die postmodernen Sozial- und Kulturwissenschaften unter Hohngelächter und teils erstaunlich unkritischer Berichterstattung selbst seriöser Medien als Kaiser ohne Kleider entlarvt.
Aber ist diese Schlussfolgerung richtig? Sokal hatte später selber eingestanden, dass aus seiner Parodie „nicht viel gefolgert werden kann. Sie beweist nicht, dass das ganze Feld der Kulturwissenschaften – und noch viel weniger jenes der Wissenschaftssoziologie – Nonsens sei.“ Auch belege sie nicht, dass die intellektuellen Standards in diesen Feldern generell lasch seien. Dasselbe gilt auch für ‘#SokalSquared’. Dass eine Teilmenge der abgefeuerten Papers angenommen wurde, sagt kaum etwas über die Relevanz des aufs Korn genommenen Forschungsbereichs oder über die Qualität der darin aktiven Wissenschaftler*innen aus. Es wirft einzig ein Schlaglicht auf tatsächlich problematische Aspekte in der wissenschaftlichen Publikationspraxis. Im Zuge der „publish-or-perish“-Kultur hat sich gerade auch in der Publikationslandschaft eine Art „wissenschaftlicher Kapitalismus“ herausgebildet. Dabei stehen die gerade bei kleineren Journals oft ehrenamtlich arbeitenden akademischen Herausgeberschaften unter Publikations- und Zeitdruck und sind entsprechend anfälliger für derartige Hoaxes geworden – trotz inzwischen breiter Durchsetzung der Peer-Review-Praxis. Diese Schattenseiten des Publikationssystems stehen durchaus auch in der Wissenschaftsgemeinde unter Kritik. Dies gerade auch seitens ‘postmoderner’ Wissenschaftler, die sich bewusst sind, dass Wissen in spezifischen historisch-sozialen Kontexten konstruiert wird. Und selbstverständlich bilden auch die Publikationspraktiken einen Teil dieser Kontexte.
Diese unbestrittenen Probleme beschränken sich keinesfalls auf die aufs Korn genommenen postmodernen Studien, sondern erstrecken sich bis in die ‘harten’ Wissenschaften. Entsprechend kam es auch in anderen Forschungsfelder immer wieder zu Parodien, gefälschten Ergebnissen oder manipulierten Experimenten. Bloss produzieren diese Wissenschaftsskandale selten so genüssliche Schlagzeilen wie: „Sozialwissenschaftler mit Hundesex und ‘Mein Kampf’ veräppelt“ (ein guter Überblick über die Hintergründe, die zur teilweisen Annahme der Hoax–Artikel führen, sowie über die ideologische Motivation der Hoaxer findet sich hier).
Nicht die ‘Postmodernen’ hätten das Vertrauen in die Wissenschaft erschüttert, sondern Sokal, der diese mit seiner subversiven Aktion gegen vermeintliche schwarze Schafe zu verteidigen trachtete, hiess es damals in der New York Times. Selbiges – wenngleich hoffentlich nicht im Quadrat – gilt für #SokalSquared. Sein Publikumserfolg zeigt, dass eine mittlerweile jahrzehntealte Diskussion um den Wahrheitsanspruch der Wissenschaft noch lange nicht entschieden ist. Auch wenn sich die Diskussion wie ein müder Abklatsch der ‘Science Wars’ aus den 1990er Jahren ausnehmen mag: In unserem neuen Medienumfeld und der aktuellen politischen Situation könnte diese Neuauflage des Sokal-Hoax eine toxischere Wirkung entfalten als noch sein Original.
Hat Latour die Seiten gewechselt?

Bruno Latour; Quelle: tagesspiegel.de
Inzwischen scheint es, als habe Veteran Latour die Seiten gewechselt. Heute kämpft er auf Seiten der Wissenschaft gegen das Lager der ‘Alternative Facts’ und Klimaleugner. Der Klimawandel und der sorglose Umgang der ‚Modernen‘ mit ihren Lebensgrundlagen haben ihn in seinen jüngeren Arbeiten stark beschäftigt. In seinem vor kurzem auf Deutsch erschienenen Terrestrischen Manifest prangert er unsere Orientierungslosigkeit angesichts der ökologischen Umwälzungen an, denen wir – aus Zynismus, Gleichgültigkeit, oder in einem Zustand der Schockstarre – seltsam tatenlos gegenüberstehen. Dabei sei die Klimafrage zentral, um die politisch-soziale Grosswetterlage zu verstehen, von der Globalisierungskritik über die Migrationsfrage bis zum konservativen Backlash. Da die Situation auch auf ein Klima der Wissenschaftsskepsis zurückzuführen ist, sei es an der Zeit, „etwas von der Autorität der Wissenschaft zurückerobern“, forderte er in einem Interview mit Science: „Das bedeutet das komplette Gegenteil von dem was wir taten, als wir begannen, soziologische Wissenschaftsstudien durchzuführen“.
Latours ‘Seitenwechsel’ könnte man als Ironie der Geschichte betrachten. Jedenfalls, wenn man bereit ist, das oben skizzierte Bild einer unversöhnlichen Feindschaft zwischen postmoderner Theorie und wissenschaftlicher Praxis zu akzeptieren. Doch diese Lesart greift zu kurz. Latour selbst nannte die ‘Science Wars’ einen „Sturm im Wasserglas“, in dem der alles relativierende ‚postmoderne Intellektuelle‘ als neues Feindbild konstruiert worden sei. Leute mit einem „idealistischen und untragbaren“ Bild der Wissenschaft hätten sich unter Beschuss geglaubt. Dass sie die kritischen Sozial- und Kulturwissenschaften als Gegner betrachteten, sei zwar auch auf deren zuweilen wohlfeile ikonoklastische Pose der Kritik zurückzuführen, gesteht er zwar – vielleicht zu selbstkritisch – ein. Seine Kolleg*innen aus den sogenannten Science & Technology Studies (STS) hätten sich aber stets als Verbündete der Wissenschaft betrachtet. In einer Zeit, in der wir zunehmend in politische Auseinandersetzungen verwickelt würden, sässen wir alle im selben Boot, schrieb er 1998 in einem Rückblick auf die ‚Science Wars‘. „Alle, sowohl die Wissenschaftler in den ‘harten’ als auch in den ‘weichen’ Wissenschaften, Politiker und Anwender, haben ein berechtigtes Interesse daran, eine möglichst realistische Einschätzung dessen zu erlangen, was die Wissenschaften können und was nicht.“
Im post-faktischen Zeitalter
Latours Unbehagen über eine politische Belagerung der Wissenschaft hat sich bewahrheitet. Inzwischen sind unter einer öffentlichen Kultur der Fake-News-Vorwürfe, der „alternativen Fakten“ und Info-Wars in den sozialen Netzwerken neben den etablierten Medien auch die Wissenschaften massiv unter Druck geraten. Und wie in den 1990er Jahren wird auch in der heutigen „Krise der Wahrheit“ auf den Sündenbock der ‘Postmodernen’ zurückgegriffen. Die These: postmoderne Theorien hätten die Grundlage für unser ‘post-faktisches Zeitalter’ geschaffen; der Erfolg der Lügen des gegenwärtigen US-Präsidenten und der Zerfall des Vertrauens in die traditionellen Gatekeeper für den Common Sense lasse sich auf die „postmoderne Beliebigkeit“ zurückführen. Dieser Topos hat sich in den Feuilletons mittlerweile zu einem eigentlichen Sub-Genre gemausert. ‚Postmoderne‘, die wie Latour zur Verteidigung wissenschaftlicher Tatsachen übergegangen sind, ernten Häme: „Nun reagieren die einstigen Apologeten der Beliebigkeit empört und wollen die schöne alte Wahrheit zurück.“
Allein: wie in den 90er Jahren beruht der Angriff gegen die „pubertären Theoretiker“ des Relativismus auf einem Strohmann-Argument. Man bedient sich dabei eines strategic misreadings, wie Sylvia Sasse und Sandro Zanetti festhielten. Einerseits wird dabei die analytische mit der normativen Ebene vermischt: Das oft zitierte «Anything goes» etwa hatte der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend eher als deskriptive Feststellung zur Realität der Wissensproduktion formuliert denn als normative Forderung nach ‚postmoderner Beliebigkeit‘. Vor allem aber verkehrt diese Lesart Ursache und Wirkung. Unsicherheit über die Wahrheit ist kein genuin postmodernes, sondern ein sehr modernes Problem. Wie unter anderem Jürgen Habermas herausgearbeitet hat, wälzt der philosophische Diskurs der Moderne seit mehr als 200 Jahren die Frage, wie ein Wahrheitsanspruch ohne metaphysische, d.h. letztlich göttliche Absicherung begründet werden könnte. Mit der Aufklärung verloren religiöse Autoritäten ihre Kraft zur Durchsetzung absoluter Wahrheitsansprüche. In ihre Fussstapfen trat die Wissenschaft, jedoch ohne die einstige Macht über die Wahrheit in gleichem Masse zurück zu erlangen. Nietzsches geflügeltes „Nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen“ ist bloss eine der augenfälligeren Manifestationen einer Skepsis, die die Moderne von Anbeginn begleitete.
Die ‚Modernen‘, wie Latour sie nennt, wussten ihre von Habermas beschriebene ‘strukturelle Überforderung’ noch zu überspielen. Fortschritte und Fortschrittseuphorie einer vor Selbstbewusstsein strotzenden Wissenschaft vermochten das fundamentale Problem der Moderne vergessen zu machen, wie Geltungsansprüche aus sich selbst zu schöpfen wären. Doch genau zu der Zeit, als das Grossnarrativ des Fortschritts mit der ‚1970er-Diagnose‘ rissig wurde, öffnete die postmoderne Theorie diese alte Wunde, etwa, als Jean-François Lyotard 1979 das Zeitalter der Meta-Narrative für beendet erklärte. Und später stocherten die STS um Latour weiter in der offenen Wunde, die viele moderne Realisten immer noch verdrängen wollten. Kein Wunder, dass sie aufheulten.
Drôle de Guerre und die Verteidigung der Wissenschaft
Anders als noch in den 90er Jahren herrsche heute tatsächlich Krieg, so Latour. „Wir stehen endlich in einer eindeutigen Kriegssituation, freilich eines komischen Krieges, einer drôle de guerre: offen erklärt und zugleich verschleiert.“ Die Frontlinien haben sich verschoben: aus einer eher innerakademischen Angelegenheit ist ein Grabenkampf in der breiten Öffentlichkeit geworden. Die grassierende Wissenschaftsskepsis hat die Wissenschaft allerdings zu einem Teil sich selbst zuzuschreiben. Die – nicht nur in den Naturwissenschaften beliebte – szientistische Vorstellung von „harten“, objektiven, durch wissenschaftliche Prozeduren fixierte Fakten kann den Blick auf das Verständnis verstellen, wie Wissenschaft eigentlich funktioniert. Der ‚Erfolg‘ des Sokal-Hoaxes und seiner Nachfolger baut auf einer „idealistischen und untragbaren“ Vorstellung auf, dass in einem wissenschaftlichen Journal allein die wissenschaftliche ‘Wahrheit’ stehen dürfte. Dabei war die Wissenschaftsgeschichte immer auch eine Geschichte von Irrtümern.
Genau dieses Verständnis wäre daher ein Schlüssel, um die Position der Wissenschaft in der Öffentlichkeit zu verteidigen. „Angesichts der Streitlage und des gegenwärtigen Vertrauensschwunds können wir nicht einfach hinter den Diskussionsstand zurückgehen und verkünden, dass der Klimawandel ‘schlicht eine Tatsache’ sei”, meint denn auch Latour. In der Wissenschaftskommunikation reicht es nicht mehr, auf der Wissenschaftlichkeit von „Fakten“ zu bestehen. Vermutlich genügt nicht einmal mehr der Verweis auf die scientific community und ihren „durch gegenseitige Kontrolle, Überprüfung und Kritik strukturierten Forschungsprozess“. Denn de facto ist die Wissenschaft kein perfekter „Marktplatz der Ideen“. Auch hier zählt, wie man etwa bei Bourdieu nachlesen kann, das bessere Argument nicht ohne weiteres als Leitwährung. Es wird belagert von anderen „Kapitalformen“: Reputation, Status, Vernetzung, Forschungsgelder, PR-Etats… In diesem kompetitiven Umfeld wird auch mal mit harten Bandagen gekämpft. Und so kann jede in die Öffentlichkeit getragene Kontroverse, jeder Fehler, jeder Wissenschaftsskandal, jeder noch so lustige Hoax die Meinung bestärken, dass Wissenschaft eben nicht viel mehr wert sei als: Meinung. Dass bei der Wissenschaft gar wie ehemals bei der Religion letztlich der Glaube bestimme, was gilt.
Und so kommt es, dass neben der wissenschaftlichen nun auch andere Communities Zulauf erhalten, die ‘alternative Fakten’ anbieten. „Es gibt mittlerweile mehrere miteinander unvereinbare Territorien [in denen die Intelligenz der Menschen zur Anwendung kommt]”, so Latour. Es sei allerdings nutzlos, sich darüber zu empören, dass Leute an alternative Fakten glauben, wenn sie faktisch in alternativen Welten lebten.
Wenn wir an einer „Rückversicherung” für den Wahrheitsanspruch der Wissenschaft arbeiten wollen, sollten wir also statt Krieg zu treiben, die Brücken zwischen den Welten wiederaufrichten. Das heisst, dass wir transparent und ‚intersubjektiv nachvollziehbar‘ zeigen müssen, wie Wissenschaft in der Praxis funktioniert: als wacklige, tappende „Science in Action“, wie Latour mit Verweis auf eines seiner Hauptwerke betont: „Ich stimme zu, dass dies riskant ist, weil wir dadurch unsere Unsicherheiten und Kontroversen explizit machen.“ Doch genau das ist jenes zentrale Merkmal von Wissenschaftlichkeit, das transparent gemacht werden muss, um die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft zu sichern.