Die Welt verteidigt Nawalny gegen das autoritäre politische Regime. Die von ihm entlarvte Kleptokratie hat aber auch systemische Voraussetzungen im globalen Finanzkapitalismus. Warum kommen diese nicht stärker in den Blick?

  • Matthias Meindl

    Matthias Meindl ist Slavist und habilitiert sich an der Universität Zürich mit einer Arbeit zur sexuellen Revolution in Jugoslawien um 1968. Zuletzt hat er mit Georg Witte Kirill Medvedevs "Antifaschismus für alle" herausgegeben.
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Krieg den Dikta­toren, Friede den Palästen?
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Im Film Ein Palast für Putin hat Alexei Nawalny den frommen und patrio­ti­schen Wladimir Putin als gewöhn­li­chen ‚Dieb‘ vorge­führt. Der Lack blät­terte aber schon länger ab und ließ unter Putins arti­fi­zi­eller Medi­en­in­sze­nie­rung als „Garant“ von Stabi­lität und Ordnung die Figur des Mafia-Paten hervor­treten. Korrup­ti­ons­ent­hül­lungen Nawalnys und des in der Zwischen­zeit ermor­deten Boris Nemzows waren schon im Protest-Winter 2011/12 ein Grund dafür gewesen, den eisigen Tempe­ra­turen auf der Straße zu trotzen. Jetzt, mit der Pandemie als Hinter­grund, scheint die Unzu­frie­den­heit über die korrupte Elite eine neue Stufe erklommen zu haben.

Ehrbe­lei­di­gungen – neofeu­da­lis­ti­scher Prunk und tölpi­sche Häscher

Der Film des 2011 von Nawalny gegrün­deten Anti-Korruptions-Fonds, kurz FBK, handelt von Putins Palast­bau­pro­jekt am Schwarzen Meer in der Nähe von Gelend­schik. Das Ressort, um ein Viel­fa­ches größer als die südrus­si­sche Stadt selbst, wird von aussen mithilfe von Drohnen sondiert, während der Innen­raum des Palasts minu­tiös anhand von archi­tek­to­ni­schen Plänen und Inven­tar­listen virtuell nach­ge­bildet wird. Details zu Putins Palast­bau­pro­jekt waren seit fast zehn Jahren bekannt, neu hingegen ist die massen­wirk­same Aufbe­rei­tung der „Geschichte des größten Schmier­geld­skan­dals“, wie der Film im Unter­titel heisst. Weiterhin veröf­fent­lichte der Anti-Korruptions-Fonds zwei gleich­falls aber­mil­lio­nen­fach ange­klickte Youtube-Clips über den Gift­an­schlag gegen Nawalny. Im ersten Clip, erstellt in Zusam­men­ar­beit mit dem jour­na­lis­ti­schen Portal Bellingcat, reka­pi­tu­liert Nawalny im Wesent­li­chen die gelun­gene Iden­ti­fi­zie­rung der für den Anschlag verant­wort­li­chen FSB-Agenten bzw. Chemiewaffen-Experten. Bellincat recher­chierte diese in Zusam­men­ar­beit mit CNN. Im zweiten Clip entlockt Nawalny gar einem dieser Agenten unter Vorspie­ge­lung einer falschen Iden­tität Geständ­nisse am Telefon.

Nawalny über Putins (Stasi-)Prinzip… „Immer das eine sagen und das andere tun“, Quelle: youtube.com

Putin leug­nete den Gift­an­schlag durch den Geheim­dienst FSB mit gewohnter ‚Süffi­sanz‘: Nawalny wäre mit Sicher­heit tot, wenn der Geheim­dienst ihn wirk­lich hätte ermorden wollen. Dessen Antwort darauf lautete: Wenn in Russ­land derzeit die Menschen wie Fliegen auf den Kran­ken­haus­fluren an COVID sterben, müsse man nicht davon ausgehen, dass der Geheim­dienst fehler­frei und profes­sio­nell arbeite, viel­leicht sei er genauso auf den Hund gekommen wie der Rest des Landes. Da der Auto­krat eben­jener Insti­tu­tion entstammt und seine Macht in letzter Konse­quenz auf deren Gewalt gründet, war dies die ulti­ma­tive Ehrbeleidigung.

West­liche Reak­ti­ons­muster und Strafinstrumente

Es ist ein wieder­keh­rendes Muster, dass die russi­schen Verhält­nisse dem Westen immer dann nicht länger tragbar erscheinen, wenn Putin seine promi­nenten Kritiker:innen einsperren lässt oder ihnen gar nach dem Leben trachtet. Der größte Kummer der west­li­chen Öffent­lich­keit sind diese ekla­tanten Verstöße gegen Demo­kratie und Menschen­rechte. Ein Teil dieses Reak­ti­ons­mus­ters ist der Ruf nach Konse­quenzen für die wirt­schaft­li­chen Bezie­hungen mit Russ­land. Aktuell ist der Fall Nawalny Wind in den Segeln der Gegner der Fertig­stel­lung von Nord Stream 2. Abge­sehen davon, dass es schla­gend gute ökolo­gi­sche und ener­gie­po­li­ti­sche Gründe gibt, gegen die Ostsee­pipe­line zu sein, sind solche Wirt­schafts­sank­tionen unge­recht, inso­fern sie auch gewöhn­liche Menschen treffen. Zudem ist ihre Legi­ti­mität schwach, weil sie vielen geopo­li­tisch und wirt­schaft­lich moti­viert erscheinen.

Ein anderes Instru­ment, dessen sich die EU auch im Fall Nawalny bedient, sind ziel­ge­naue Sank­tionen gegen Personen, denen man Verant­wor­tung für die Menschen­rechts­ver­let­zungen zuschreibt. Seitdem der Anwalt Sergei Magnitski, der hohe russi­sche Beamte der Unter­schla­gung von Steu­er­ein­nahmen bezich­tigt hatte, 2009 in einem Unter­su­chungs­ge­fängnis in Moskau starb, hat dieses Instru­ment an Bedeu­tung gewonnen. 2016 verab­schie­dete der US-Kongress den Global Magnitsky Act, demgemäß Personen, die sich Menschen­rechts­ver­let­zungen schuldig gemacht haben, mit der Einschrän­kung ihrer Reise­frei­heit und dem Einfrieren ihrer Konten bestraft werden können. Viele Länder welt­weit haben diese Gesetz­ge­bung mitt­ler­weile über­nommen, und in der Tat erscheint dieses Straf­in­stru­ment gerechter und effek­tiver. Aber selbst wenn seine Anwen­dung, wie es Nawalnys Anti-Korruptions-Fonds gefor­dert hat, auf einen Perso­nen­kreis von Unter­stüt­zern und Profi­teuren von Putins Herr­schaft ausge­weitet würde, kann man sich nicht recht vorstellen, dass ein solches Vorgehen das System ins Wanken bringen oder zur Verän­de­rung zwingen würde. Ironi­scher­weise könnten Sank­tionen gegen Putins Umfeld gar kongruent sein mit dessen eigenen Bestre­bungen, die Eliten zu natio­na­li­sieren und ihre Abhän­gig­keit zu verstärken.

Nawalny über Putins 90er Jahre, Quelle: youtube.com

Sank­tionen mögen im Einzel­fall mehr oder weniger effektiv, legitim oder gerecht sein – ihre Schwäche ist, dass die Ökonomie als eine Art Werk­zeug­kasten in Dienste der Politik behan­delt wird, während jene das Unbe­wusste oder Unbe­wäl­tigte darstellt, das dem poli­ti­schen Handeln voraus­geht. Nawalny entlarvt die Diebe, die in Russ­land an der Macht sind, die west­liche Zuschau­er­schaft applau­diert und über­sieht dabei geflis­sent­lich, dass die elabo­rierten Schalt­pläne der Selbst­be­rei­che­rung einer Herr­schafts­clique, wie der Anti-Korruptions-Fonds sie rekon­stru­iert, einge­bettet sind in unser aller System, dem eines unre­gu­lierten globalen Finanzkapitalismus.

Neben inner­rus­si­schen Unter­schla­gungs­me­cha­nismen, so zeigt es Nawalnys Film, dienen zur Finan­zie­rung des Palast­bau­pro­jekts auch Offshore-Firmen. Einer der Geld­geber ist etwa, laut Anti-Korruptions-Fonds, Alex­ander Plechow, der Treu­händer der Vermögen des Cellisten Sergei Roldugin, von dem nach dem Panama-Papers-Leak im Jahr 2016 ange­nommen wurde, dass er Vermögen seines Freunds Wladimir in seinem Namen hält. Des Weiteren spielen im Film die Offshore-Firmen von Juri Kowalt­schuk eine Rolle, der nach Meinung des Ökonomen und Russland-Experten Anders Åslund einer der Haupt­günst­linge Putins darstellt.

Die Günst­lings­wirt­schaft und der globale Finanzkapitalismus

Åslund ist nach wie vor stolz, in den 1990er Jahren dem Wirt­schafts­mi­nister und Premier­mi­nister unter Jelzin, Jegor Gaidar, als Berater gedient zu haben. Russ­lands Trans­for­ma­tion in eine Markt­wirt­schaft per Schock­the­rapie hält er, trotz des Aufstiegs der Olig­ar­chen, für einen Erfolg. Putin habe eine gesun­dete Wirt­schaft geerbt. Eine auto­ri­täre Klep­to­kratie setzte für ihn erst dann ein, als Putin die Rohstoff­öko­nomie wieder verstaat­lichte. Hinsicht­lich der Einbet­tung dieser Klep­to­kratie ins globale Finanz­system spricht Åslund eine deut­liche Sprache: Es ist der ekla­tante Mangel an Recht­staat­lich­keit, der die Eliten nötigt, ihr Vermögen in Länder zu schaffen, wo es geschützt ist. Hier endet ihr Patrio­tismus, möchte man hinzu­fügen: Ihre zyni­sche, eigent­lich ‚russo­phobe‘ Wahr­neh­mung des eigenen Landes und seiner Geschichte verbietet ihnen die Hoff­nung, Russ­land könne sich in abseh­barer Zeit zu einem Staat entwi­ckeln, der ihre Vermögen schützen könnte.

„Ein Palast für Putin“, Montage des FBK, Quelle: www.youtube.com

Die viel geschol­tenen Steu­er­oasen sind, so Åslund, oft nur Durch­gangs­sta­tion der Kapi­tal­flucht, denn jene verfügen nicht über die nötige „finan­zi­elle Tiefe“ (finan­cial depth), also über attrak­tive Anla­ge­mög­lich­keiten in ausrei­chendem Maßstab. Der Groß­teil des außer Landes geschafften russi­schen Kapi­tals landet schließ­lich in den USA und dem Vereinten König­reich und wird dort oft in den Metro­polen in Immo­bi­lien ange­legt. Åslund kriti­siert in seinem Buch Russia’s Crony Capi­ta­lism (2019), dass es eine Regu­lie­rung dort, im Unter­schied zu vielen euro­päi­schen Ländern, prak­tisch gar nicht gibt. Doch das sind Details. Wenn Putin in einer Montage von Nawalnys Film breit aus der ludo­vi­zia­ni­schen Sonnen­iko­no­gra­phie grinst, weil es wieder in der Kasse klin­gelt, wird das bald auch die Laune eines Schweizer Privat­ban­kiers, eines Londoner real estate agent oder eines Yachten-Verkäufers in Miami heben. Oder eines Lobby­isten in Berlin? Åslund hebt zusätz­lich die Gefahr hervor, dass dieses russi­sche Geld zuneh­mend auf poli­ti­sche Meinungsbildungs- und Entschei­dungs­pro­zesse in Europa Einfluss nimmt.

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Demo­kratie und Ungleichheit

Trotz der Soli­da­rität der Russi­schen Sozia­lis­ti­schen Bewe­gung mit dem poli­ti­schen Gefan­genen Nawalny hat der Dichter, Musiker und Akti­vist Kirill Medwedjew, der dieser Orga­ni­sa­tion ange­hört, kriti­siert, dass Nawalny die massive soziale Ungleich­heit nur im Kontext der Putin’schen Günst­lings­wirt­schaft verur­teile, während er dem Kapi­ta­lismus an sich unkri­tisch gegen­über­stünde. In dieser Kritik öffnet sich ein Frage­ho­ri­zont, der über Trans­pa­renz, Lega­lität und Recht­staat­lich­keit hinausweist.

Nawalny über post­kom­mu­nis­ti­sche Karrieren, Quelle: youtube.com

Zum Synonym der Analyse und Kritik von Ungleich­heit ist der Name Thomas Piketty geworden. Im Gegen­satz zu Åslund sieht der fran­zö­si­sche Wirt­schafts­wis­sen­schaftler im neuen Mammut­werk Capital and Ideo­logy schon in Russ­lands ökono­mi­scher Trans­for­ma­tion in den 1990er Jahren, die unglück­li­cher­weise in eine hyper­ka­pi­ta­lis­ti­sche Ära fiel, die „klep­to­kra­ti­sche Wende“. Piketty konsta­tiert, dass die Sowjet­union in der Verwal­tung des aus einem verfehlten ökono­mi­schen Expe­ri­ment resul­tie­renden Mangels eines der egali­tärsten Systeme der modernen Geschichte gewesen sei. Dabei versucht er jedoch einzu­kal­ku­lieren, dass sich Ungleich­heit in diesem System im Wesent­li­chen über Privi­le­gien konsti­tu­ierte. Binnen eines Vier­tel­jahr­hun­derts, ab 1990, wurde Russ­land, was die Einkommen anbe­langt, zu einem der inega­li­tärsten Länder der Welt. Etwa so inega­litär wie die USA, die im Bereich Klien­tel­po­litik übri­gens einige ‚Fami­li­en­ähn­lich­keiten‘ aufweist. Piketty geht davon aus, dass im glei­chen Zeit­raum in Russ­land etwa genauso viel durch Kapi­tal­flucht dem sehschwa­chen russi­schen Fiskus entzogen wurde wie im Land legale Vermö­gens­werte bekannt sind, sprich fünfzig Prozent des Gesamt­ver­mö­gens. Der entspre­chende Anteil sei für die USA vier, für Europa zehn Prozent.

Das Ausmaß dieser andau­ernden Enteig­nung der Bevöl­ke­rung des ressour­cen­rei­chen Landes erklärt den Hoch­druck, mit dem russi­sche Troll­farmen an der Diskre­di­tie­rung noch mehr oder weniger funk­tio­nie­render Demo­kra­tien arbeiten. Es erklärt den Hoch­druck, mit dem das poli­ti­sche System zum Zwecke der Umlen­kung der Unzu­frie­den­heit der Bevöl­ke­rung Natio­na­lismus schürt und Russ­land kultu­rell vom Westen abgrenzt. Man betrachte die Verur­tei­lung von zwei Künst­le­rinnen von Pussy Riot zu mehr­jäh­riger Lager­haft im Jahre 2012. Ihr ‚Verbre­chen‘, das soge­nannte „Punk-Gebet“ in der Christ-Erlöser-Kathedrale, pran­gerte die Korrum­piert­heit der ortho­doxen Kirche und ihres Ober­haupts, des Patri­ar­chen Kirill an, den sie, wie viele andere, für einen ehema­ligen KGB-Agenten hielten. Während welt­weit für die Frei­las­sung der mutigen Frauen und für die Achtung von Meinungs- und Kunst­frei­heit allge­mein protes­tiert wurde, nahm das Putin-Regime die Aktion dankbar als Steil­vor­lage im Kultur­kampf an: um in der Brand­mar­kung der ‚Hexen‘ aber­mals die ‚verwest­lichte‘, libe­rale und femi­nis­ti­sche, ‚volks­feind­liche‘ und ‚blas­phe­mi­sche‘ Intel­li­gen­zija zu margi­na­li­sieren. Der volks­tüm­liche Nawalny bietet Putin diese Gele­gen­heit nicht. Er ist auch deshalb ein so gefähr­li­cher Gegner, weil er an sich selbst ein unap­pe­tit­li­cher Natio­na­list ist.

Palast von innen, Shisha-Bar mit Pole-Dance-Stange, www.youtube.com

All dies geschieht vor dem Hinter­grund des Fehlens einer tatsäch­li­chen Konkur­renz der Ideo­lo­gien und Gesell­schaft­mo­delle, wie sie es im Kalten Krieg gab. Global haben, so Pikettys These, natio­na­lis­ti­sche und neoiden­ti­täre Ideo­lo­gien Konjunktur, weil krasse soziale Ungleich­heit als unver­meid­lich, natur­haft und dem Raum legi­timer poli­ti­scher Frage­stel­lungen entzogen wahr­ge­nommen wird und wahr­ge­nommen werden soll. Scho­nungslos ist Pikettys Antwort darauf, warum man sich im Westen wenig für die Quelle russi­schen Reich­tums inter­es­siert und nicht versucht, dieser Enteig­nung einen Riegel vorzu­schieben. Er nennt es das Syndrom der Büchse der Pandora: Man fürchtet im spezi­ellen Fall die Frage nach der Gerech­tig­keit der Ungleich­heit der Vermö­gens­ver­tei­lung aufzu­werfen, weil man sich vor der Frage im Allge­meinen fürchtet.

Was steht am Ende von Pikettys Kapitel über Russ­lands Klep­to­kratie? Die lako­ni­sche Forde­rung nach einem trans­pa­renten inter­na­tio­nalen Register von Vermö­gens­werten, wobei Trans­pa­renz für Piketty eine Voraus­set­zung im Kampf gegen die voran­schrei­tende Ungleich­heit ist, die die Demo­kratie gefährdet und die Lösung der sozial-ökologischen Frage verhin­dert. Die russi­schen Verhält­nisse haben ihre eigene Genea­logie, verzahnen sich aber mit globalen Miss­ständen. Eine Stär­kung der Demo­kratie in Europa in Pikettys Sinne könnte Russ­land helfen, mit seiner despo­ti­schen Tradi­tion zu brechen.