
Im Film Ein Palast für Putin hat Alexei Nawalny den frommen und patriotischen Wladimir Putin als gewöhnlichen ‚Dieb‘ vorgeführt. Der Lack blätterte aber schon länger ab und ließ unter Putins artifizieller Medieninszenierung als „Garant“ von Stabilität und Ordnung die Figur des Mafia-Paten hervortreten. Korruptionsenthüllungen Nawalnys und des in der Zwischenzeit ermordeten Boris Nemzows waren schon im Protest-Winter 2011/12 ein Grund dafür gewesen, den eisigen Temperaturen auf der Straße zu trotzen. Jetzt, mit der Pandemie als Hintergrund, scheint die Unzufriedenheit über die korrupte Elite eine neue Stufe erklommen zu haben.
Ehrbeleidigungen – neofeudalistischer Prunk und tölpische Häscher
Der Film des 2011 von Nawalny gegründeten Anti-Korruptions-Fonds, kurz FBK, handelt von Putins Palastbauprojekt am Schwarzen Meer in der Nähe von Gelendschik. Das Ressort, um ein Vielfaches größer als die südrussische Stadt selbst, wird von aussen mithilfe von Drohnen sondiert, während der Innenraum des Palasts minutiös anhand von architektonischen Plänen und Inventarlisten virtuell nachgebildet wird. Details zu Putins Palastbauprojekt waren seit fast zehn Jahren bekannt, neu hingegen ist die massenwirksame Aufbereitung der „Geschichte des größten Schmiergeldskandals“, wie der Film im Untertitel heisst. Weiterhin veröffentlichte der Anti-Korruptions-Fonds zwei gleichfalls abermillionenfach angeklickte Youtube-Clips über den Giftanschlag gegen Nawalny. Im ersten Clip, erstellt in Zusammenarbeit mit dem journalistischen Portal Bellingcat, rekapituliert Nawalny im Wesentlichen die gelungene Identifizierung der für den Anschlag verantwortlichen FSB-Agenten bzw. Chemiewaffen-Experten. Bellincat recherchierte diese in Zusammenarbeit mit CNN. Im zweiten Clip entlockt Nawalny gar einem dieser Agenten unter Vorspiegelung einer falschen Identität Geständnisse am Telefon.

Nawalny über Putins (Stasi-)Prinzip… „Immer das eine sagen und das andere tun“, Quelle: youtube.com
Putin leugnete den Giftanschlag durch den Geheimdienst FSB mit gewohnter ‚Süffisanz‘: Nawalny wäre mit Sicherheit tot, wenn der Geheimdienst ihn wirklich hätte ermorden wollen. Dessen Antwort darauf lautete: Wenn in Russland derzeit die Menschen wie Fliegen auf den Krankenhausfluren an COVID sterben, müsse man nicht davon ausgehen, dass der Geheimdienst fehlerfrei und professionell arbeite, vielleicht sei er genauso auf den Hund gekommen wie der Rest des Landes. Da der Autokrat ebenjener Institution entstammt und seine Macht in letzter Konsequenz auf deren Gewalt gründet, war dies die ultimative Ehrbeleidigung.
Westliche Reaktionsmuster und Strafinstrumente
Es ist ein wiederkehrendes Muster, dass die russischen Verhältnisse dem Westen immer dann nicht länger tragbar erscheinen, wenn Putin seine prominenten Kritiker:innen einsperren lässt oder ihnen gar nach dem Leben trachtet. Der größte Kummer der westlichen Öffentlichkeit sind diese eklatanten Verstöße gegen Demokratie und Menschenrechte. Ein Teil dieses Reaktionsmusters ist der Ruf nach Konsequenzen für die wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland. Aktuell ist der Fall Nawalny Wind in den Segeln der Gegner der Fertigstellung von Nord Stream 2. Abgesehen davon, dass es schlagend gute ökologische und energiepolitische Gründe gibt, gegen die Ostseepipeline zu sein, sind solche Wirtschaftssanktionen ungerecht, insofern sie auch gewöhnliche Menschen treffen. Zudem ist ihre Legitimität schwach, weil sie vielen geopolitisch und wirtschaftlich motiviert erscheinen.
Ein anderes Instrument, dessen sich die EU auch im Fall Nawalny bedient, sind zielgenaue Sanktionen gegen Personen, denen man Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen zuschreibt. Seitdem der Anwalt Sergei Magnitski, der hohe russische Beamte der Unterschlagung von Steuereinnahmen bezichtigt hatte, 2009 in einem Untersuchungsgefängnis in Moskau starb, hat dieses Instrument an Bedeutung gewonnen. 2016 verabschiedete der US-Kongress den Global Magnitsky Act, demgemäß Personen, die sich Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben, mit der Einschränkung ihrer Reisefreiheit und dem Einfrieren ihrer Konten bestraft werden können. Viele Länder weltweit haben diese Gesetzgebung mittlerweile übernommen, und in der Tat erscheint dieses Strafinstrument gerechter und effektiver. Aber selbst wenn seine Anwendung, wie es Nawalnys Anti-Korruptions-Fonds gefordert hat, auf einen Personenkreis von Unterstützern und Profiteuren von Putins Herrschaft ausgeweitet würde, kann man sich nicht recht vorstellen, dass ein solches Vorgehen das System ins Wanken bringen oder zur Veränderung zwingen würde. Ironischerweise könnten Sanktionen gegen Putins Umfeld gar kongruent sein mit dessen eigenen Bestrebungen, die Eliten zu nationalisieren und ihre Abhängigkeit zu verstärken.

Nawalny über Putins 90er Jahre, Quelle: youtube.com
Sanktionen mögen im Einzelfall mehr oder weniger effektiv, legitim oder gerecht sein – ihre Schwäche ist, dass die Ökonomie als eine Art Werkzeugkasten in Dienste der Politik behandelt wird, während jene das Unbewusste oder Unbewältigte darstellt, das dem politischen Handeln vorausgeht. Nawalny entlarvt die Diebe, die in Russland an der Macht sind, die westliche Zuschauerschaft applaudiert und übersieht dabei geflissentlich, dass die elaborierten Schaltpläne der Selbstbereicherung einer Herrschaftsclique, wie der Anti-Korruptions-Fonds sie rekonstruiert, eingebettet sind in unser aller System, dem eines unregulierten globalen Finanzkapitalismus.
Neben innerrussischen Unterschlagungsmechanismen, so zeigt es Nawalnys Film, dienen zur Finanzierung des Palastbauprojekts auch Offshore-Firmen. Einer der Geldgeber ist etwa, laut Anti-Korruptions-Fonds, Alexander Plechow, der Treuhänder der Vermögen des Cellisten Sergei Roldugin, von dem nach dem Panama-Papers-Leak im Jahr 2016 angenommen wurde, dass er Vermögen seines Freunds Wladimir in seinem Namen hält. Des Weiteren spielen im Film die Offshore-Firmen von Juri Kowaltschuk eine Rolle, der nach Meinung des Ökonomen und Russland-Experten Anders Åslund einer der Hauptgünstlinge Putins darstellt.
Die Günstlingswirtschaft und der globale Finanzkapitalismus
Åslund ist nach wie vor stolz, in den 1990er Jahren dem Wirtschaftsminister und Premierminister unter Jelzin, Jegor Gaidar, als Berater gedient zu haben. Russlands Transformation in eine Marktwirtschaft per Schocktherapie hält er, trotz des Aufstiegs der Oligarchen, für einen Erfolg. Putin habe eine gesundete Wirtschaft geerbt. Eine autoritäre Kleptokratie setzte für ihn erst dann ein, als Putin die Rohstoffökonomie wieder verstaatlichte. Hinsichtlich der Einbettung dieser Kleptokratie ins globale Finanzsystem spricht Åslund eine deutliche Sprache: Es ist der eklatante Mangel an Rechtstaatlichkeit, der die Eliten nötigt, ihr Vermögen in Länder zu schaffen, wo es geschützt ist. Hier endet ihr Patriotismus, möchte man hinzufügen: Ihre zynische, eigentlich ‚russophobe‘ Wahrnehmung des eigenen Landes und seiner Geschichte verbietet ihnen die Hoffnung, Russland könne sich in absehbarer Zeit zu einem Staat entwickeln, der ihre Vermögen schützen könnte.

„Ein Palast für Putin“, Montage des FBK, Quelle: www.youtube.com
Die viel gescholtenen Steueroasen sind, so Åslund, oft nur Durchgangsstation der Kapitalflucht, denn jene verfügen nicht über die nötige „finanzielle Tiefe“ (financial depth), also über attraktive Anlagemöglichkeiten in ausreichendem Maßstab. Der Großteil des außer Landes geschafften russischen Kapitals landet schließlich in den USA und dem Vereinten Königreich und wird dort oft in den Metropolen in Immobilien angelegt. Åslund kritisiert in seinem Buch Russia’s Crony Capitalism (2019), dass es eine Regulierung dort, im Unterschied zu vielen europäischen Ländern, praktisch gar nicht gibt. Doch das sind Details. Wenn Putin in einer Montage von Nawalnys Film breit aus der ludovizianischen Sonnenikonographie grinst, weil es wieder in der Kasse klingelt, wird das bald auch die Laune eines Schweizer Privatbankiers, eines Londoner real estate agent oder eines Yachten-Verkäufers in Miami heben. Oder eines Lobbyisten in Berlin? Åslund hebt zusätzlich die Gefahr hervor, dass dieses russische Geld zunehmend auf politische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse in Europa Einfluss nimmt.
Demokratie und Ungleichheit
Trotz der Solidarität der Russischen Sozialistischen Bewegung mit dem politischen Gefangenen Nawalny hat der Dichter, Musiker und Aktivist Kirill Medwedjew, der dieser Organisation angehört, kritisiert, dass Nawalny die massive soziale Ungleichheit nur im Kontext der Putin’schen Günstlingswirtschaft verurteile, während er dem Kapitalismus an sich unkritisch gegenüberstünde. In dieser Kritik öffnet sich ein Fragehorizont, der über Transparenz, Legalität und Rechtstaatlichkeit hinausweist.

Nawalny über postkommunistische Karrieren, Quelle: youtube.com
Zum Synonym der Analyse und Kritik von Ungleichheit ist der Name Thomas Piketty geworden. Im Gegensatz zu Åslund sieht der französische Wirtschaftswissenschaftler im neuen Mammutwerk Capital and Ideology schon in Russlands ökonomischer Transformation in den 1990er Jahren, die unglücklicherweise in eine hyperkapitalistische Ära fiel, die „kleptokratische Wende“. Piketty konstatiert, dass die Sowjetunion in der Verwaltung des aus einem verfehlten ökonomischen Experiment resultierenden Mangels eines der egalitärsten Systeme der modernen Geschichte gewesen sei. Dabei versucht er jedoch einzukalkulieren, dass sich Ungleichheit in diesem System im Wesentlichen über Privilegien konstituierte. Binnen eines Vierteljahrhunderts, ab 1990, wurde Russland, was die Einkommen anbelangt, zu einem der inegalitärsten Länder der Welt. Etwa so inegalitär wie die USA, die im Bereich Klientelpolitik übrigens einige ‚Familienähnlichkeiten‘ aufweist. Piketty geht davon aus, dass im gleichen Zeitraum in Russland etwa genauso viel durch Kapitalflucht dem sehschwachen russischen Fiskus entzogen wurde wie im Land legale Vermögenswerte bekannt sind, sprich fünfzig Prozent des Gesamtvermögens. Der entsprechende Anteil sei für die USA vier, für Europa zehn Prozent.
Das Ausmaß dieser andauernden Enteignung der Bevölkerung des ressourcenreichen Landes erklärt den Hochdruck, mit dem russische Trollfarmen an der Diskreditierung noch mehr oder weniger funktionierender Demokratien arbeiten. Es erklärt den Hochdruck, mit dem das politische System zum Zwecke der Umlenkung der Unzufriedenheit der Bevölkerung Nationalismus schürt und Russland kulturell vom Westen abgrenzt. Man betrachte die Verurteilung von zwei Künstlerinnen von Pussy Riot zu mehrjähriger Lagerhaft im Jahre 2012. Ihr ‚Verbrechen‘, das sogenannte „Punk-Gebet“ in der Christ-Erlöser-Kathedrale, prangerte die Korrumpiertheit der orthodoxen Kirche und ihres Oberhaupts, des Patriarchen Kirill an, den sie, wie viele andere, für einen ehemaligen KGB-Agenten hielten. Während weltweit für die Freilassung der mutigen Frauen und für die Achtung von Meinungs- und Kunstfreiheit allgemein protestiert wurde, nahm das Putin-Regime die Aktion dankbar als Steilvorlage im Kulturkampf an: um in der Brandmarkung der ‚Hexen‘ abermals die ‚verwestlichte‘, liberale und feministische, ‚volksfeindliche‘ und ‚blasphemische‘ Intelligenzija zu marginalisieren. Der volkstümliche Nawalny bietet Putin diese Gelegenheit nicht. Er ist auch deshalb ein so gefährlicher Gegner, weil er an sich selbst ein unappetitlicher Nationalist ist.

Palast von innen, Shisha-Bar mit Pole-Dance-Stange, www.youtube.com
All dies geschieht vor dem Hintergrund des Fehlens einer tatsächlichen Konkurrenz der Ideologien und Gesellschaftmodelle, wie sie es im Kalten Krieg gab. Global haben, so Pikettys These, nationalistische und neoidentitäre Ideologien Konjunktur, weil krasse soziale Ungleichheit als unvermeidlich, naturhaft und dem Raum legitimer politischer Fragestellungen entzogen wahrgenommen wird und wahrgenommen werden soll. Schonungslos ist Pikettys Antwort darauf, warum man sich im Westen wenig für die Quelle russischen Reichtums interessiert und nicht versucht, dieser Enteignung einen Riegel vorzuschieben. Er nennt es das Syndrom der Büchse der Pandora: Man fürchtet im speziellen Fall die Frage nach der Gerechtigkeit der Ungleichheit der Vermögensverteilung aufzuwerfen, weil man sich vor der Frage im Allgemeinen fürchtet.
Was steht am Ende von Pikettys Kapitel über Russlands Kleptokratie? Die lakonische Forderung nach einem transparenten internationalen Register von Vermögenswerten, wobei Transparenz für Piketty eine Voraussetzung im Kampf gegen die voranschreitende Ungleichheit ist, die die Demokratie gefährdet und die Lösung der sozial-ökologischen Frage verhindert. Die russischen Verhältnisse haben ihre eigene Genealogie, verzahnen sich aber mit globalen Missständen. Eine Stärkung der Demokratie in Europa in Pikettys Sinne könnte Russland helfen, mit seiner despotischen Tradition zu brechen.