Ich empfand Peter Handkes Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996), die im Zentrum der Auseinandersetzung um den Nobelpreis steht, bei seinem Erscheinen als peinigend und peinlich. Mir ist ein Gespräch in Erinnerung, in dem ein Bekannter meinte, ich solle zum besseren Verständnis auch Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991) lesen. Ich tat es nicht. Seltsamerweise kann ich mich ansonsten an kein Gespräch erinnern, in denen wir uns als Studierende intellektuell oder emotional mit diesen Kriegen auseinandergesetzt hätten. Sicher, der Krieg fand statt, und das entsetzte uns. Wir hatten unsere – falls es überhaupt unsere waren – Meinungen dazu, es fehlte jedoch die wirkliche Auseinandersetzung, der Krieg fand in einer anderen Welt, sozusagen in den Medien, statt.

Galerija 11/07/95 (Museum zum Gedenken an die Opfer des Massakers von Srebrenica) in Sarajevo, Foto: Tarik Samarah, Quelle: galerija110795.ba
Als ich 2014 Sarajewo besuchte, betrat ich – anders als meine beiden Reisegefährtinnen – die „Galerija 11/07/95“, das Museum zum Gedenken an die Opfer des Massakers von Srebrenica, nicht. Ich wusste immer noch nicht, wie ich mit diesem Ereignis umgehen sollte. Ich weiss es heute noch nicht. Ich wartete vor der „Galerija“ auf einem Stuhl. Irgendwann hatten sich zwei Strassenhunde zu mir gelegt. Heute, nach 25 Jahren, habe ich die winterliche Reise erneut gelesen, ebenso Handkes übrige Texte zu den Jugoslawienkriegen. Das Peinliche und Peinigende ist geblieben.
Handke hat zwischen 1991 und 2011 zehn Texte zu den Kriegen in Jugoslawien veröffentlicht.* Darin ergreift er für Jugoslawien, für Serbien, für das serbische Volk Partei, gegen die Abspaltung der Teilrepubliken, gegen die westliche Bild- und Berichterstattung, gegen die Gleichsetzung mit Faschisten, gegen die NATO-Intervention, gegen die Legitimität des Internationalen Kriegsverbrechertribunals. Obwohl diese Kritikpunkte diskussionswürdig sind, hat Handke diese Punkte immer mehr aus den Augen verloren. Seine Texte – Reiseberichte, Zeugenberichte, Notizen, Tagebücher – geben vor, wahrhaftig zu sein und die poetischen Mittel in den Dienst der literarischen Wahrheitsfindung zu stellen. Auch poetische Mittel können genau und angemessen sein, auch literarische Wahrheitsfindung soll Wahrheitsfindung sein. Beides misslingt Handke gründlich.
Das bezeichnende Detail: „muslimische Soldaten“

Beginn des Prozesses gegen Slobodan Milosevic in Den Haag, Quelle: heraldchronicle.com
Der „Umwegzeugenbericht“ Die Tablas von Daimiel (2006) beginnt mit dem Kriegsverbrecherprozess gegen den ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević, zu dem Handke als Zeuge hätte zugelassen werden können. Er besuchte Milošević, Zeuge sein wollte er nicht, beide sprachen dem Gericht die Legitimität ab. Stattdessen zog Handke es später vor, am Grab von Milošević eine Rede zu halten.
In Die Tablas überzeugt Handke ein „kleinwinziges und meinethalben lachhaftes Detail gleich am Anfang des Verfahrens“ davon, dass Milošević nicht schuldig sein konnte. Handke „sah, ja, sah, daß es für das Ganze stand.“ Dieses Detail bestand in der Weise, in der Milošević auf die Anklage reagierte, „den Morden und Vertreibungen an der muslimischen Bevölkerung“ in Bosnien keinen Einhalt geboten zu haben. Erstaunt über die Verkennung balkanischer Machtverhältnisse habe Milošević traurig geantwortet, wer meine, ein serbisch-bosnischer Gendarm werde sich von ihm etwas befehlen lassen, „der habe keine Ahnung von einem Gendarm jenseits der Drina in Bosnien“.
Es ist erstaunlich, dass Handke in diesem Detail das Ganze sehen zu können meint. Noch erstaunlicher ist, wie Handke die Verbrechen jenseits des Flusses Drina beschreibt (Die Tablas, S. 24):
Nur fußt gerade die am schwersten wiegende, die Hauptanklage gegen den früheren serbischen und dann „rest“-jugoslawischen Präsidenten – die des Völkermords jenseits der Donau in Kroatien (s. die Massaker von Vukovar) und, vor allem, jenseits der Drina in Bosnien (s. die Massaker an den muslimischen Soldaten von Srebrenica) – auf der juristischen Konstruktion einer „joint criminal enterprise“, eines die Grenzen der einzelnen Republiken überschreitenden verbrecherischen Unternehmens, dessen Chef S. Milošević gewesen sei: indem er es auf ein „Großserbien“ abgesehen habe, auch ohne besondere Befehlsausgabe, ja sogar auch ohne seine Mitwisserschaft an den Massakern jenseits der serbischen Grenzen, treffe ihn die oberste Verantwortung für den Genozid von Srebrenica 1995.

Protest der Mütter von Srebrenica vor der schwedischen Botschaft in Sarajevo, Quelle: freitag.de
Nicht nur hat Handke ein „kleinwinziges“ und „lachhaftes“ Detail unmittelbar davon überzeugt, dass der Angeklagte für den Genozid „jenseits der Drina in Bosnien (s. die Massaker an den muslimischen Soldaten von Srebrenica)“ unmöglich verantwortlich sein könne, sondern durch seine Wortwahl stellt er das Massaker von Srebrenica als Genozid in Frage: „Massaker an den muslimischen Soldaten“ – „Soldaten“, nicht „Zivilisten“! Dies ist kein lachhaftes Detail, sondern ein entscheidendes. Die massenweise Tötung von Soldaten ist eine Kriegshandlung, die massenweise Tötung von Zivilisten hingegen wird zum Kriegsverbrechen oder sogar – wie in Srebrenica – zum Genozid.
Handke streicht in dieser Klammerbemerkung die Anschuldigung, um die es im Prozess geht. Wie der Literaturwissenschaftler Jürgen Brokoff – in dessen Arbeiten sich die Beobachtung dieses „Details“ ebenfalls findet – festhält: Handkes „auf vermeintliche Nebensächlichkeiten ausweichende, literarische Mittel einsetzende Ideologie gehört, gerade weil sie so subtil verfährt, zu den problematischsten Entgleisungen eines deutschsprachigen Autors nach dem Zweiten Weltkrieg.“ (Jürgen Brokoff, FAZ 15.07.2010)
In Frage stellen: Srebrenica
Im Sommer 1995 hatten serbische Einheiten in Srebrenica über 8000 Bosniaken – Zivilisten, überwiegend Knaben und Männer – ermordet. Der internationale Gerichtshof hat das Massaker 2007 als Genozid verurteilt. Möchte Handke das Massaker in Frage stellen (Eine winterliche Reise, S. 103f.)?
Du willst doch nicht auch noch das Massaker von Srebrenica in Frage stellen?“ sagte dazu S. nach meiner Rückkehr. „Nein“, sagte ich. „Aber ich möchte dazu fragen, wie ein solches Massaker denn zu erklären ist, begangen, so heißt es, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, und dazu nach über drei Jahren Krieg, wo, sagt man, inzwischen sämtliche Parteien, selbst die Hunde des Krieges, tötensmüde geworden waren, und noch dazu, wie es heißt, als ein organisiertes, systematisches, lang vorgeplantes Hinrichten.“ Warum solch ein Tausendfachschlachten? Was war der Beweggrund? Wozu? Und warum statt einer Ursachen-Ausforschung („Psychopathen“ genügt nicht) wieder nichts als der nackte, geile, marktbestimmte Fakten- und Scheinfakten-Verkauf?

Galerija 11/07/95 (Museum zum Gedenken an die Opfer des Massakers von Srebrenica) in Sarajevo, Foto: Tarik Samarah, Quelle: galerija110795.ba
Die Wortwahl „muslimische Soldaten“ straft Handke Lügen. Er stellt den Genozid in Frage und erklärt das Massaker zur Kriegshandlung. Noch in einem anderen Sinne stellt er in seiner Antwort auf S. das Massaker in Frage, nämlich indem er scheinberechtigte und scheinunschuldige Suggestivfragen aufwirft. Die mundgerechten Antworten auf diese Fragen protokolliert Handke in Die Tablas nach Aussagen von „zwei, drei Srebrenica-Serben“. Srebrenica sei gerechte Vergeltung für die Morde an der serbischen Bevölkerung von Kravica; die Bosniaken hätten „in den Dörfern alle Serben samt Frauen und Kindern getötet, die Unsrigen aber nach dem Fall von S. ausschließlich Soldaten. Was ist der Genozid?“ (Die Tablas, S. 50)
Soldaten, nicht Zivilisten; Kriegshandlung, kein Massaker. Wo also ist der Genozid? Handke wirft Fragen auf wie Demagogen Signalworte streuen und begibt sich auf die Suche nach den ihm passenden Antworten. Aus dem Munde der Srebrenica-Serben wandert das Wort „Soldaten“ in Handkes Umschreibung der Anklage gegen Milošević, von dem er ja ‚sah‘, dass er nicht schuldig sein konnte. Handke ‚sah‘, was er zuerst im scheinbar offenen Fragen und dann im Mund seiner Zeugen vorgekaut vorgefunden hatte.
Handkes Rhetorik gleicht jener der Neuen Rechten. Wer urteilt „Das ist so“ oder „Das ist nicht so“, muss Verantwortung für ein solches Urteil übernehmen, muss Gründe dafür vorbringen können, und diese müssen zu überzeugen vermögen. Wer hingegen In-Frage-stellt oder Zweifel anbringt, fragt und zweifelt ja nur (Fragen und Zweifeln werden ja wohl noch erlaubt sein!), braucht dafür keine Gründe, muss dafür keine Verantwortung übernehmen.
Darin liegt ein folgenschwerer Irrtum. Wer beispielsweise hinterfragt oder zweifelt, ob menschengemachte Klimaerwärmung existiere oder wirklich Juden ermordet wurden, fragt und zweifelt nicht nur, sondern ignoriert die Gründe, die für ein „Ja“ sprechen und weist für diese Ignoranz Verantwortung leichtfertig, ja fahrlässig zurück. Handkes literarische Scheinbescheidenheit des Fragens sitzt diesem Irrtum auf und erklärt ihn zur Poetik seiner Kriegsberichterstattung.

Die Tablas, Quelle: fragasepragas.blogspot.com
Gegen die Dekadenz des Westens, westliche Propaganda, Mainstream-Journalisten, Fake News („Scheinfakten-Verkauf“), gekaufte Richter etc. setzt Handke die scheinbare Unschuld des Fragens und die scheinbare Offenheit einer anderen Wahrheit. Hinter dieser Pose aber steckt – als „bezeichnendes Detail“ versteckt im „muslimischen Soldaten“ – die In-Frage-Stellung des Massakers von Srebrenica.
Nur weil Handke in seinen Kriegspamphleten die Kniffe der Neuen Rechten antizipiert, hat er noch keinen Nobelpreis verdient, im Gegenteil. Meine Argumentation legt nahe, dass zwischen den angeblich nicht autorisierten Interviewaussagen Handkes über Srebrenica, die 2011 in der neurechten Zeitschrift Ketzerbriefe erschienen sind, und seinen eigenen Kriegstexten eine grössere Verwandtschaft besteht, als Handke und sein Verlag glauben machen möchten.
Kontrastsehen: Propaganda
Das Selbersehen ist für Handke von grösster Bedeutung. Gleich zu Beginn 1991 meinte Handke, er habe viele Gründe für die Souveränität Sloweniens gehört, aber noch keinen gesehen (Abschied S. 7):
Damit diese Gründe aber im einzelnen denkbar, oder faßbar, oder einschlägig würden, müßte ich sie erst einmal sehen; das Hauptwort „Grund“ kann, für mich jedenfalls, nur bestehen zusammen mit dem Zeitwort „sehen“. Und ich sehe keinen Grund, keinen einzigen […] für den Staat Slowenien.
Damals war Handke – wie die Mehrzahl der europäischen Politiker – der Ansicht, dass die Souveränität der Bundesstaaten die ethnischen Konflikte nicht eindämmen, sondern anheizen würde.

Drinabrücke in Višegrad, Hinterbliebene und Angehörige gedenken der Opfer, Quelle: n-tv.de
Allerdings hat Handke diesen Punkt völlig aus den Augen verloren. Ihn hat mehr und mehr sein Selbersehen im Kontrast zu der in seinen Augen „augenverstopfenden“ „Propaganda“ der westlichen Medien interessiert. Das Selbersehen wird immer mehr zu einem Kontrastsehen, das am Ende der Sicht der serbischen Propaganda unumwunden Recht gibt.
Während des Kosovokrieges 1999 sieht Handke im serbischen Staatsfernsehen Bilder – das Volk „zieht sein ältestes und feiertäglichstes Gewand an, und warum nicht seine schönste Volkstracht?, und es tanzt seine ältesten und traditionellsten Tänze. Es singt. Es zeigt und erzählt, so bedroht, die friedlichsten und unschuldigsten der Bilder von sich selbst“ (Unter Tränen 19f.). Das sei keine Lügenpressenpropaganda wie im Westen, „nichts Gemachtes oder gar Bezwecktes, vielmehr … Naturgewachsenes … wahrnehmbar allein durch Verbreitetwerden, Propagiertwerden“ (ebd., S. 19).
Auch wenn Handke falsche Bilder zu Recht kritisiert (die Serben sind kein Volk barbarischer Slivovitztrinker), so leitet er daraus doch zu Unrecht ab, die falsch Repräsentierten müssten grundsätzlich im Recht sein. Das Problem besteht darin, dass Handkes Sehen gelenkt ist durch die Opposition zu den „westlichen Medien“, er oft nicht wirklich weiss, was er sieht, literarisch vernebelt, was er zu sehen meint, Momente symbolisch überfrachtet, Propagandabilder als authentisch akzeptiert. An kaum einer Stelle in seinen Kriegstexten vermag er zu sehen, erblindet durch das zwanghafte Kontrastsehen.
Gerade mit seiner Wahrnehmung – man hat in der Literaturwissenschaft von einer „Krise des Sehens“ gesprochen – scheitert Handke als Dichter. Es gelingt ihm nicht, eine nicht-diffamierende, nicht-verzerrende, nicht-parteiische und letztlich eine nicht-revisionistische Wahrnehmung der Kriege zu entwickeln. Handke hat sich mit den Kriegstexten als Literaturnobelpreisträger diskreditiert – und ich fürchte, dem Literaturnobelpreis widerfährt nun dasselbe mit dieser Wahl.