Seit die Schwedische Akademie im Oktober 2019 verkündet hat, Peter Handke den Nobelpreis zu verleihen, reisst Kritik an dieser Entscheidung nicht ab. Verdient Handke den Literaturnobelpreis? Verharmlost er Kriegsverbrechen? Verhöhnt er Kriegsopfer? Nimmt er wahr, was andere nicht sehen oder ist er vielmehr blind?

  • Markus Wild

    Markus Wild ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Basel. Er ist Forschungsrat im Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und Mitglied des Leitungsgremiums der eikones Graduate School der Universität Basel.

Ich empfand Peter Handkes Eine winter­liche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerech­tig­keit für Serbien (1996), die im Zentrum der Ausein­an­der­set­zung um den Nobel­preis steht, bei seinem Erscheinen als peini­gend und pein­lich. Mir ist ein Gespräch in Erin­ne­rung, in dem ein Bekannter meinte, ich solle zum besseren Verständnis auch Abschied des Träu­mers vom Neunten Land (1991) lesen. Ich tat es nicht. Selt­sa­mer­weise kann ich mich ansonsten an kein Gespräch erin­nern, in denen wir uns als Studie­rende intel­lek­tuell oder emotional mit diesen Kriegen ausein­an­der­ge­setzt hätten. Sicher, der Krieg fand statt, und das entsetzte uns. Wir hatten unsere – falls es über­haupt unsere waren – Meinungen dazu, es fehlte jedoch die wirk­liche Ausein­an­der­set­zung, der Krieg fand in einer anderen Welt, sozu­sagen in den Medien, statt.

Gale­rija 11/07/95 (Museum zum Gedenken an die Opfer des Massa­kers von Srebre­nica) in Sara­jevo, Foto: Tarik Samarah, Quelle: galerija110795.ba

Als ich 2014 Sara­jewo besuchte, betrat ich – anders als meine beiden Reise­ge­fähr­tinnen – die „Gale­rija 11/07/95“, das Museum zum Gedenken an die Opfer des Massa­kers von Srebre­nica, nicht. Ich wusste immer noch nicht, wie ich mit diesem Ereignis umgehen sollte. Ich weiss es heute noch nicht. Ich wartete vor der „Gale­rija“ auf einem Stuhl. Irgend­wann hatten sich zwei Stras­sen­hunde zu mir gelegt. Heute, nach 25 Jahren, habe ich die winter­liche Reise erneut gelesen, ebenso Handkes übrige Texte zu den Jugo­sla­wi­en­kriegen. Das Pein­liche und Peini­gende ist geblieben.

Handke hat zwischen 1991 und 2011 zehn Texte zu den Kriegen in Jugo­sla­wien veröf­fent­licht.* Darin ergreift er für Jugo­sla­wien, für Serbien, für das serbi­sche Volk Partei, gegen die Abspal­tung der Teil­re­pu­bliken, gegen die west­liche Bild- und Bericht­erstat­tung, gegen die Gleich­set­zung mit Faschisten, gegen die NATO-Intervention, gegen die Legi­ti­mität des Inter­na­tio­nalen Kriegs­ver­bre­cher­tri­bu­nals. Obwohl diese Kritik­punkte diskus­si­ons­würdig sind, hat Handke diese Punkte immer mehr aus den Augen verloren. Seine Texte – Reise­be­richte, Zeugen­be­richte, Notizen, Tage­bü­cher – geben vor, wahr­haftig zu sein und die poeti­schen Mittel in den Dienst der lite­ra­ri­schen Wahr­heits­fin­dung zu stellen. Auch poeti­sche Mittel können genau und ange­messen sein, auch lite­ra­ri­sche Wahr­heits­fin­dung soll Wahr­heits­fin­dung sein. Beides miss­lingt Handke gründlich.

Das bezeich­nende Detail: „musli­mi­sche Soldaten“

Beginn des Prozesses gegen Slobodan Milo­sevic in Den Haag, Quelle: heraldchronicle.com

Der „Umweg­zeu­gen­be­richt“ Die Tablas von Daimiel (2006) beginnt mit dem Kriegs­ver­bre­cher­pro­zess gegen den ehema­ligen serbi­schen Präsi­denten Slobodan Milošević, zu dem Handke als Zeuge hätte zuge­lassen werden können. Er besuchte Milošević, Zeuge sein wollte er nicht, beide spra­chen dem Gericht die Legi­ti­mität ab. Statt­dessen zog Handke es später vor, am Grab von Milošević eine Rede zu halten.

In Die Tablas über­zeugt Handke ein „klein­win­ziges und meinet­halben lach­haftes Detail gleich am Anfang des Verfah­rens“ davon, dass Milošević nicht schuldig sein konnte. Handke „sah, ja, sah, daß es für das Ganze stand.“ Dieses Detail bestand in der Weise, in der Milošević auf die Anklage reagierte, „den Morden und Vertrei­bungen an der musli­mi­schen Bevöl­ke­rung“ in Bosnien keinen Einhalt geboten zu haben. Erstaunt über die Verken­nung balka­ni­scher Macht­ver­hält­nisse habe Milošević traurig geant­wortet, wer meine, ein serbisch-bosnischer Gendarm werde sich von ihm etwas befehlen lassen, „der habe keine Ahnung von einem Gendarm jenseits der Drina in Bosnien“.

Es ist erstaun­lich, dass Handke in diesem Detail das Ganze sehen zu können meint. Noch erstaun­li­cher ist, wie Handke die Verbre­chen jenseits des Flusses Drina beschreibt (Die Tablas, S. 24):

Nur fußt gerade die am schwersten wiegende, die Haupt­an­klage gegen den früheren serbi­schen und dann „rest“-jugoslawischen Präsi­denten – die des Völker­mords jenseits der Donau in Kroa­tien (s. die Massaker von Vukovar) und, vor allem, jenseits der Drina in Bosnien (s. die Massaker an den musli­mi­schen Soldaten von Srebre­nica) – auf der juris­ti­schen Konstruk­tion einer „joint criminal enter­prise“, eines die Grenzen der einzelnen Repu­bliken über­schrei­tenden verbre­che­ri­schen Unter­neh­mens, dessen Chef S. Milošević gewesen sei: indem er es auf ein „Groß­ser­bien“ abge­sehen habe, auch ohne beson­dere Befehls­aus­gabe, ja sogar auch ohne seine Mitwis­ser­schaft an den Massa­kern jenseits der serbi­schen Grenzen, treffe ihn die oberste Verant­wor­tung für den Genozid von Srebre­nica 1995.

Protest der Mütter von Srebre­nica vor der schwe­di­schen Botschaft in Sara­jevo, Quelle: freitag.de

Nicht nur hat Handke ein „klein­win­ziges“ und „lach­haftes“ Detail unmit­telbar davon über­zeugt, dass der Ange­klagte für den Genozid „jenseits der Drina in Bosnien (s. die Massaker an den musli­mi­schen Soldaten von Srebre­nica)“ unmög­lich verant­wort­lich sein könne, sondern durch seine Wort­wahl stellt er das Massaker von Srebre­nica als Genozid in Frage: „Massaker an den musli­mi­schen Soldaten“ – „Soldaten“, nicht „Zivi­listen“! Dies ist kein lach­haftes Detail, sondern ein entschei­dendes. Die massen­weise Tötung von Soldaten ist eine Kriegs­hand­lung, die massen­weise Tötung von Zivi­listen hingegen wird zum Kriegs­ver­bre­chen oder sogar – wie in Srebre­nica – zum Genozid.

Handke streicht in dieser Klam­mer­be­mer­kung die Anschul­di­gung, um die es im Prozess geht. Wie der Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler Jürgen Brokoff – in dessen Arbeiten sich die Beob­ach­tung dieses „Details“ eben­falls findet – fest­hält: Handkes „auf vermeint­liche Neben­säch­lich­keiten auswei­chende, lite­ra­ri­sche Mittel einset­zende Ideo­logie gehört, gerade weil sie so subtil verfährt, zu den proble­ma­tischsten Entglei­sungen eines deutsch­spra­chigen Autors nach dem Zweiten Welt­krieg.“ (Jürgen Brokoff, FAZ 15.07.2010)

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In Frage stellen: Srebrenica

Im Sommer 1995 hatten serbi­sche Einheiten in Srebre­nica über 8000 Bosniaken – Zivi­listen, über­wie­gend Knaben und Männer – ermordet. Der inter­na­tio­nale Gerichtshof hat das Massaker 2007 als Genozid verur­teilt. Möchte Handke das Massaker in Frage stellen (Eine winter­liche Reise, S. 103f.)?

Du willst doch nicht auch noch das Massaker von Srebre­nica in Frage stellen?“ sagte dazu S. nach meiner Rück­kehr. „Nein“, sagte ich. „Aber ich möchte dazu fragen, wie ein solches Massaker denn zu erklären ist, begangen, so heißt es, unter den Augen der Welt­öf­fent­lich­keit, und dazu nach über drei Jahren Krieg, wo, sagt man, inzwi­schen sämt­liche Parteien, selbst die Hunde des Krieges, töten­s­müde geworden waren, und noch dazu, wie es heißt, als ein orga­ni­siertes, syste­ma­ti­sches, lang vorge­plantes Hinrichten.“ Warum solch ein Tausend­fach­schlachten? Was war der Beweg­grund? Wozu? Und warum statt einer Ursachen-Ausforschung („Psycho­pa­then“ genügt nicht) wieder nichts als der nackte, geile, markt­be­stimmte Fakten- und Scheinfakten-Verkauf?

Gale­rija 11/07/95 (Museum zum Gedenken an die Opfer des Massa­kers von Srebre­nica) in Sara­jevo, Foto: Tarik Samarah, Quelle: galerija110795.ba

Die Wort­wahl „musli­mi­sche Soldaten“ straft Handke Lügen. Er stellt den Genozid in Frage und erklärt das Massaker zur Kriegs­hand­lung. Noch in einem anderen Sinne stellt er in seiner Antwort auf S. das Massaker in Frage, nämlich indem er schein­be­rech­tigte und schein­un­schul­dige Sugges­tiv­fragen aufwirft. Die mund­ge­rechten Antworten auf diese Fragen proto­kol­liert Handke in Die Tablas nach Aussagen von „zwei, drei Srebrenica-Serben“. Srebre­nica sei gerechte Vergel­tung für die Morde an der serbi­schen Bevöl­ke­rung von Kravica; die Bosniaken hätten „in den Dörfern alle Serben samt Frauen und Kindern getötet, die Unsrigen aber nach dem Fall von S. ausschließ­lich Soldaten. Was ist der Genozid?“ (Die Tablas, S. 50)

Soldaten, nicht Zivi­listen; Kriegs­hand­lung, kein Massaker. Wo also ist der Genozid? Handke wirft Fragen auf wie Demagogen Signal­worte streuen und begibt sich auf die Suche nach den ihm passenden Antworten. Aus dem Munde der Srebrenica-Serben wandert das Wort „Soldaten“ in Handkes Umschrei­bung der Anklage gegen Milošević, von dem er ja ‚sah‘, dass er nicht schuldig sein konnte. Handke ‚sah‘, was er zuerst im scheinbar offenen Fragen und dann im Mund seiner Zeugen vorge­kaut vorge­funden hatte.

Handkes Rhetorik gleicht jener der Neuen Rechten. Wer urteilt „Das ist so“ oder „Das ist nicht so“, muss Verant­wor­tung für ein solches Urteil über­nehmen, muss Gründe dafür vorbringen können, und diese müssen zu über­zeugen vermögen. Wer hingegen In-Frage-stellt oder Zweifel anbringt, fragt und zwei­felt ja nur (Fragen und Zwei­feln werden ja wohl noch erlaubt sein!), braucht dafür keine Gründe, muss dafür keine Verant­wor­tung übernehmen.

Darin liegt ein folgen­schwerer Irrtum. Wer beispiels­weise hinter­fragt oder zwei­felt, ob menschen­ge­machte Klima­er­wär­mung exis­tiere oder wirk­lich Juden ermordet wurden, fragt und zwei­felt nicht nur, sondern igno­riert die Gründe, die für ein „Ja“ spre­chen und weist für diese Igno­ranz Verant­wor­tung leicht­fertig, ja fahr­lässig zurück. Handkes lite­ra­ri­sche Schein­be­schei­den­heit des Fragens sitzt diesem Irrtum auf und erklärt ihn zur Poetik seiner Kriegsberichterstattung.

Die Tablas, Quelle: fragasepragas.blogspot.com

Gegen die Deka­denz des Westens, west­liche Propa­ganda, Main­stream-Jour­na­listen, Fake News („Scheinfakten-Verkauf“), gekaufte Richter etc. setzt Handke die schein­bare Unschuld des Fragens und die schein­bare Offen­heit einer anderen Wahr­heit. Hinter dieser Pose aber steckt – als „bezeich­nendes Detail“ versteckt im „musli­mi­schen Soldaten“ – die In-Frage-Stellung des Massa­kers von Srebrenica.

Nur weil Handke in seinen Kriegs­pam­phleten die Kniffe der Neuen Rechten anti­zi­piert, hat er noch keinen Nobel­preis verdient, im Gegen­teil. Meine Argu­men­ta­tion legt nahe, dass zwischen den angeb­lich nicht auto­ri­sierten Inter­view­aus­sagen Handkes über Srebre­nica, die 2011 in der neurechten Zeit­schrift Ketzer­briefe erschienen sind, und seinen eigenen Kriegs­texten eine grös­sere Verwandt­schaft besteht, als Handke und sein Verlag glauben machen möchten.

Kontrast­sehen: Propaganda

Das Selber­sehen ist für Handke von grösster Bedeu­tung. Gleich zu Beginn 1991 meinte Handke, er habe viele Gründe für die Souve­rä­nität Slowe­niens gehört, aber noch keinen gesehen (Abschied S. 7):

Damit diese Gründe aber im einzelnen denkbar, oder faßbar, oder einschlägig würden, müßte ich sie erst einmal sehen; das Haupt­wort „Grund“ kann, für mich jeden­falls, nur bestehen zusammen mit dem Zeit­wort „sehen“. Und ich sehe keinen Grund, keinen einzigen […] für den Staat Slowenien.

Damals war Handke – wie die Mehr­zahl der euro­päi­schen Poli­tiker – der Ansicht, dass die Souve­rä­nität der Bundes­staaten die ethni­schen Konflikte nicht eindämmen, sondern anheizen würde.

Drina­brücke in Više­grad, Hinter­blie­bene und Ange­hö­rige gedenken der Opfer, Quelle: n-tv.de

Aller­dings hat Handke diesen Punkt völlig aus den Augen verloren. Ihn hat mehr und mehr sein Selber­sehen im Kontrast zu der in seinen Augen „augen­ver­stop­fenden“ „Propa­ganda“ der west­li­chen Medien inter­es­siert. Das Selber­sehen wird immer mehr zu einem Kontrast­sehen, das am Ende der Sicht der serbi­schen Propa­ganda unum­wunden Recht gibt.

Während des Koso­vo­krieges 1999 sieht Handke im serbi­schen Staats­fern­sehen Bilder – das Volk „zieht sein ältestes und feier­täg­lichstes Gewand an, und warum nicht seine schönste Volks­tracht?, und es tanzt seine ältesten und tradi­tio­nellsten Tänze. Es singt. Es zeigt und erzählt, so bedroht, die fried­lichsten und unschul­digsten der Bilder von sich selbst“ (Unter Tränen 19f.). Das sei keine Lügen­pres­sen­pro­pa­ganda wie im Westen, „nichts Gemachtes oder gar Bezwecktes, viel­mehr … Natur­ge­wach­senes … wahr­nehmbar allein durch Verbrei­tet­werden, Propa­giert­werden“ (ebd., S. 19).

Auch wenn Handke falsche Bilder zu Recht kriti­siert (die Serben sind kein Volk barba­ri­scher Slivo­vitz­trinker), so leitet er daraus doch zu Unrecht ab, die falsch Reprä­sen­tierten müssten grund­sätz­lich im Recht sein. Das Problem besteht darin, dass Handkes Sehen gelenkt ist durch die Oppo­si­tion zu den „west­li­chen Medien“, er oft nicht wirk­lich weiss, was er sieht, lite­ra­risch verne­belt, was er zu sehen meint, Momente symbo­lisch über­frachtet, Propa­gan­da­bilder als authen­tisch akzep­tiert. An kaum einer Stelle in seinen Kriegs­texten vermag er zu sehen, erblindet durch das zwang­hafte Kontrastsehen.

Gerade mit seiner Wahr­neh­mung – man hat in der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft von einer „Krise des Sehens“ gespro­chen – schei­tert Handke als Dichter. Es gelingt ihm nicht, eine nicht-diffamierende, nicht-verzerrende, nicht-parteiische und letzt­lich eine nicht-revisionistische Wahr­neh­mung der Kriege zu entwi­ckeln. Handke hat sich mit den Kriegs­texten als Lite­ra­tur­no­bel­preis­träger diskre­di­tiert – und ich fürchte, dem Lite­ra­tur­no­bel­preis wider­fährt nun dasselbe mit dieser Wahl.

 

* Die erwähnten zehn Texte von Handke zu den jugo­sla­wi­schen Kriegen sind:
Abschied des Träu­mers vom Neunten Land (1991); Noch einmal vom Neunten Land (1992); Eine winter­liche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina (1996); Sommer­li­cher Nach­trag zu einer winter­li­chen Reise (1996); Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999); Unter Tränen fragend (2000); Rund um das Große Tribunal (2003); Die Tablas von Daimiel (2006); Die Kuckucke von Velika Hoča(2009) und Die Geschichte des Dragoljub Mila­nović (2011).
Diese Texte finden sich in Peter Handke, Aufsätze 2 (Handke Biblio­thek, Bd. 11), Berlin: Suhr­kamp 2018. Nach dieser Ausgabe wurde oben zitiert.