Das Reden über „Katastrophen“ ist ein fester Teil unseres Alltags – obwohl der Begriff Ereignisse bezeichnet, die das Alltägliche zumindest vorübergehend unterbrechen. Dass so viel über Katastrophen gesprochen wird, führt oft dazu, dass sie uns egal werden oder wir ihre strukturellen Voraussetzungen ausblenden.

  • Cécile Stephanie Stehrenberger

    Cécile Stehrenberger forscht am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt, unter anderem zur Geschichte der Katastrophenforschung und zur Geschichte Äquatorialguineas.

Die Allge­gen­wart der „Kata­strophe“ rührt daher, dass perma­nent über sie gespro­chen wird. In verschie­denen gesell­schaft­li­chen Berei­chen wie Info­tain­ment und Kunst, Wissen­schaft und Politik legi­ti­miert das Katastrophen-Sprechen gewisse Prak­tiken und ruft zu einem bestimmten Tun auf. Und da es selbst auch eine Hand­lung, ein Sprechakt ist, bringt es bisweilen das hervor, was es benennt oder führt zu Reak­tionen, die alles andere als beab­sich­tigt waren.

Katastrophen-Training

Anfang der 1950er Jahre beschäf­tigten sich US-amerikanische Mediziner*innen und Sozialwissenschaftler*innen, die Mitglieder neu gegrün­deter armee­fi­nan­zierter „disaster rese­arch groups“ waren, mit dem „disaster syndrome“. Darunter verstanden sie einen Komplex von Verhal­tens­weisen, die sie in ihren empi­ri­schen Unter­su­chungen regis­trierten: mensch­liche Kata­stro­phen­re­ak­tionen während und unmit­telbar nach Erdbeben, Wirbel­stürmen oder Fabrik­ex­plo­sionen. Sie trafen dabei auf Menschen, die im Ange­sicht der Kata­strophe „benommen“ und „apathisch“ an Ort und Stelle verharrten. Ein solches Verhalten erschien ihnen proble­ma­tisch, stand es doch außer Frage, dass Menschen, die über Radio, Fern­sehen oder Laut­spre­cher die Worte „Alarm“, „Notfall“ oder eben auch „Kata­strophe“ hörten, handeln mussten. Unver­züg­lich sollten sie Schutz suchen oder sich an Rettungs­ar­beiten betei­ligen und dabei den Anwei­sungen von Bürger­meis­tern, Zivil­schutz­be­amten und anderen „Auto­ri­täten“ Folge leisten. Im Ideal­fall erüb­rigten sich diese Anwei­sungen, weil die Subjekte quasi instinktiv das Rich­tige täten.

„Preparedness“-Film des ameri­ka­ni­schen Zivil­schutzes, 1950er Jahre; Quelle: youtube.com

Hinter der Grün­dung der Katastrophen-forschungsgruppen, die sich zwischen 1949 und 1963 an mehreren US-amerikanischen Forschungs­ein­rich­tungen etablierten, stand die prak­ti­sche Frage, durch welche staat­li­chen Maßnahmen sich falsches Kata­stro­phen­ver­halten verhin­dern und rich­tiges fördern ließe. Dabei ging es den mili­tä­ri­schen Sponsor*innen der Studien in erster Linie um die Reak­tionen der ameri­ka­ni­schen Zivil­be­völ­ke­rung im Falle eines nuklearen Angriffs auf die USA. Das Studium von zivilen Kata­stro­phen, von denen ange­nommen wurde, dass sie solchen Angriffen ähnelten, sollte ein Wissen liefern, das sich für die Vorher­sage und Regu­lie­rung der mensch­li­chen Reak­tionen nutzen ließe. Natür­lich war dieses Wissen auch für das Krisen­ma­nage­ment nach Erdbeben oder Flut hilf­reich. Seine zivile Verwen­dung bildete jedoch nicht den Haupt­zweck der Studien.

Anfang der 1950er Jahre kamen die Katastrophenforscher*innen zu dem Schluss, dass man Menschen in ihrem Alltag darauf vorbe­reiten müsse, im Ausnah­me­fall auto­ma­tisch richtig zu handeln. Diese Ansicht wurde in Nord­ame­rika und in verschie­denen west- und nord­eu­ro­päi­schen Ländern von einer Viel­zahl zeit­ge­nös­si­scher Politiker*innen und Expert*innen geteilt, die sich mit dem Kata­stro­phen­schutz beschäf­tigten. Schon Schul­kinder wurden regel­mäßig darin trai­niert, sich beim Ertönen von Sirenen unter ihre Bänke zu kauern oder schnell und dennoch geordnet in Luft­schutz­bunker zu fliehen („Duck and Cover“). Ihre Eltern sollten das Aufsetzen von Gasmasken und den Gang in ihre privaten Schutz­räume üben und Vorräte regel­mäßig inven­ta­ri­sieren. Insbe­son­dere in US-amerikanischen Groß­städten orga­ni­sierten die Zivil­schutz­be­hörden aufwän­dige Groß­übungen, bei denen ein nuklearer Angriff auf die USA simu­liert wurde. In manchen Bundes­staaten war die Teil­nahme an den „Opera­tion Alert“-Trainings gesetz­lich vorgeschrieben.

Unge­wollte Wirkungen

Pazifist*innen demons­trierten gegen diese Übungen und spätes­tens Anfang der 1960er Jahre wurde immer klarer, dass sie nicht die einzigen waren, die sich dem Zivilschutz-Programm verwei­gerten. Umfra­ge­er­geb­nisse zeigten, dass die Mehr­heit der Amerikaner*innen ihm mit „Apathie“ begeg­nete, weder Vorräte noch private Schutz­räume anlegte und die community-shelters mehr schlecht als recht kannte. Auch dafür wurden (wissen­schaft­liche) Erklä­rungen gesucht und gefunden.

Der Psycho­loge Jum Nunn­ally etwa inter­pre­tierte die Zivilschutz-„Apathie“ als eine Art „Rück­zugs­re­ak­tion“ auf bedroh­liche „Bestrafungs“-Szenarien, zu denen er neben der „ther­mo­nu­klearen Kata­strophe“ auch „ökono­mi­sche Depres­sion“ und „Lungen­krebs“ zählte. Für die ther­mo­nu­kleare Kata­strophe galt dabei, wie er betonte, dass einer­seits unklar war, wann genau sie eintreten würde, ande­rer­seits aber fest­stand, dass sie – egal welche Maßnahmen auch ergriffen würden – für viele Menschen den sicheren Tod bedeute. Ein Spre­chen, das mit solchen Szena­rien operiere, bewirke mitunter ein „back­f­iring“: das genaue Gegen­teil dessen, was es beab­sich­tige. Statt zu einem Vorbe­rei­tet­sein („prepared­ness“) führe es zu Angst­zu­ständen („anxiety“), die dann eine Gelähmt­heit („apathy“) nach sich ziehen würden.

Öffent­li­cher Atom­schutz­bunker in Zürich; Quelle: pinterest.com

Schon rund zehn Jahre vor Nunn­allys Ausfüh­rungen waren die Forschungs­gruppen auf einen anderen proble­ma­ti­schen Effekt des Kata­stro­phen­spre­chens aufmerksam geworden. Ihre Auftrag­geber waren davon ausge­gangen, dass Menschen in Kata­stro­phen dazu tendieren würden, in (Massen-)Panik zu geraten, „anti-soziale“ Verhal­tens­weisen wie Plün­dern an den Tag zu legen und „Auto­ri­täten in Frage zu stellen“. Diese Annahmen konnten die Forscher*innen nicht bestä­tigen, sahen sie doch mehr­heit­lich „kontrol­liertes“, „ratio­nales“ und „geord­netes“ Verhalten sowie eine „soziale Grenzen“ über­win­dende „Soli­da­rität“. Die Vorstel­lung eines wahr­schein­li­chen „anti­so­zialen Verhal­tens“, wie sie Infor­ma­ti­ons­me­dien und Popkultur (insbe­son­dere in disaster movies) damals verbrei­teten, bezeich­neten sie als brand­ge­fähr­liche „Kata­stro­phen­my­then“. Sie schrieben, dass die Beto­nung von Panik-Momenten bei der Darstel­lung fakti­scher und poten­ti­eller Kata­stro­phen den Adressat*innen ein solches Verhalten gera­dezu nahe­lege. Genau damit würden sie dazu beitragen, dass es tatsäch­lich auch so kommen müsse. Die Kata­stro­phen­my­then schienen indi­rekt genau das herbei­zu­führen, was sie vermeint­lich ‚nur‛ beschrieben – etwa wenn Kata­stro­phen­schutz­be­amte aus Angst vor Chaos und Panik nicht oder erst zu spät vor Kata­stro­phen warnten – und die daraus resul­tie­rende Plötz­lich­keit der Kata­strophe dann tatsäch­lich Panik gene­rierte. Ein Teufelskreis.

„Ausnah­me­zu­stände“ und „game-over“-Einstellung

Die Effekte von allum­fas­senden und ständig präsenten Bedro­hungs­sze­na­rien haben nicht nur die Katastrophenforscher*innen des Kalten Krieges beschäf­tigt. Sie sind auch ein zentraler Forschungs­ge­gen­stand der jüngeren kultur­wis­sen­schaft­li­chen Ausein­an­der­set­zung mit Kata­stro­phen, die seit Anfang des 21. Jahr­hun­derts stark zuge­nommen hat. Hier kommen etwa die Möglich­keiten in den Blick, die staat­liche, supra-staatliche und nicht-staatliche Akteure haben, um in eine Situa­tion zu inter­ve­nieren, sobald diese als „Kata­strophe“ dekla­riert wird. Dabei geht es auch um die Frage, ob und wie in demo­kra­ti­schen Gesell­schaften mit der Ausru­fung von „Ausnah­me­zu­ständen“ Maßnahmen (z.B. Ausgangs­sperren, pein­liche Befra­gungen etc.) legi­ti­miert werden können, die mit demo­kra­ti­schen Prin­zi­pien nur bedingt vereinbar sind. Auch jenseits von Ausnahmezustands-Analysen setzen sich die kriti­schen disaster- oder secu­rity studies damit ausein­ander, wie das perma­nente Spre­chen über (künf­tige) Kata­stro­phen auch im Alltag dazu beiträgt, Kontroll­an­sprüche und Regu­lie­rungs­tech­niken zu legitimieren.

Verschie­dene neuere Forschungs­stränge beschäf­tigen sich eben­falls intensiv mit den Gefahren des „Kata­stro­phen­spre­chens“. Zu denken wäre hier etwa an die Kritik, die Autor*innen wie Donna Haraway an jenem Spre­chen von der Kata­strophe üben, das in den letzten rund zwanzig Jahren mit der Verbrei­tung des Anthropozän-Konzepts um sich gegriffen hat. Dieses Spre­chen zeichne sich, so Haraway, nicht nur durch die Zemen­tie­rung eines anthro­po­zen­tri­schen Welt­bildes aus, sondern auch dadurch, dass die Betei­li­gung unter­schied­li­cher Menschen­gruppen an der Zerstö­rung des Planeten verschleiert wird. Laut Haraway und anderen Kriti­ke­rinnen legt das Anthropozän-Konzept nicht selten nahe, dass „unsere“ bevor­ste­hende Auslö­schung, die „wir“ verur­sacht haben, gar nicht mehr aufhaltbar sei. Dadurch beför­dere es eine zyni­sche „’game over-atti­tude“.

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Konti­nuität statt Knall: Das andere Katastrophensprechen

Es wäre falsch (und mehr­heit­lich auch nicht in deren Sinn), aus der kultur­wis­sen­schaft­li­chen Kritik am Spre­chen über Kata­stro­phen den Schluss zu ziehen, dass wir aufhören sollten, über kata­stro­phale Reali­täten zu spre­chen – als ob es solche Reali­täten nicht geben würde! Viel­mehr geht es darum, anders über Kata­stro­phen zu spre­chen. Dafür ist es unab­dingbar, sich damit ausein­an­der­zu­setzen, wie sich das Verständnis des Begriffes der Kata­strophe entwi­ckelt und verän­dert hat.

Tornado in Campo, Colo­rado, USA, Foto: Jason Persoff; Quelle: wired.com

Die im Kalten Krieg entstan­denen „disaster rese­arch groups“ fanden mit ihren Thesen zur Wirk­mäch­tig­keit von (falschen) Katastrophen-darstellungen anfäng­lich zwar relativ wenig Beach­tung. Aber insge­samt waren sie mit ihren Arbeiten äußerst einfluss­reich. Zum einen insis­tierten sie in den frühen 1960er Jahren als Politik-Berater*innen darauf, dass sich der ameri­ka­ni­sche Kata­stro­phen­schutz von seiner Fixie­rung auf den nuklearen Angriff lösen müsse. Auf diese Weise trugen sie zur Entwick­lung eines „all hazards mindset“ und einer Aufmerk­sam­keits­ver­schie­bung insbe­son­dere hin zu Natur­ka­ta­stro­phen bei. Zum anderen setzten sie mit ihren Forschungs­re­sul­taten wich­tige Impulse. Die Idee, dass Menschen – auch oder gerade bei wenig staat­li­cher Inter­ven­tion – mit Kata­stro­phen gut zurecht­kommen und an ihnen „wachsen“ können, hat die Weiter­ent­wick­lung und Etablie­rung des Resilienz-Konzepts beför­dert, das heute im Kata­stro­phen­schutz, aber auch über ihn hinaus, zentral geworden ist.

Dabei ist auch noch unser heutiges Spre­chen über Kata­stro­phen von jener 1961 mit Blick auf Nukle­ar­ex­plo­sionen vorge­schla­genen Defi­ni­tion von Charles Fritz geprägt, wonach Kata­stro­phen als „in Raum und Zeit konzen­trierte Ereig­nisse“ zu verstehen sind, die das „Funk­tio­nieren von Gesell­schaften unter­bre­chen“. Tatsäch­lich hält ein Groß­teil der heutigen wissen­schaft­li­chen und prak­ti­schen Ausein­an­der­set­zung an diesem Verständnis von Kata­stro­phen als „disrup­tiven“ Ereig­nissen fest. Auch wenn in diesem Zusam­men­hang von „Prozessen“ und „Struk­turen“ die Rede ist, die zu Kata­stro­phen führen können, werden diese oft nur in ihrer Tendenz, eben kata­stro­phale Ereig­nisse hervor­zu­bringen, zum Thema gemacht: Die Kata­strophe als „disrup­tives“ Ereignis verstellt jedoch den Blick auf die lang­wie­rigen Prozesse und Struk­turen, die ihr zugrunde liegen.

Dies gilt auch für Ausein­an­der­set­zungen mit dem Klima­wandel. Als disrup­tives Ereignis verstanden, führt dieser Sicht­weise gemäß die „kata­stro­phale“ Erder­wär­mung zu Natur­ka­ta­stro­phen wie Wirbel­stürmen und letzt­end­lich zur Doomsday-artig (und damit ereig­nis­haft) insze­nierten Auslö­schung der Welt – wenn nicht mit großem Knall, so doch mit einem klaren Ende. Ein Katastrophen-Sprechen, das zu sehr diesem Knall verhaftet bleibt, vermag es nicht, sich „kata­stro­phalen“ Reali­täten struk­tu­reller Natur adäquat zu nähern, die sich oft durch einen schlei­chenden Verlauf und Charakter auszeichnen. So haben etwa Forschungen im Feld der envi­ron­mental huma­ni­ties oder der science and tech­no­logy studies, die das Reiz­wort „Kata­strophe“ nicht in ihrer Bezeich­nung führen, gezeigt, dass extreme Wetter­kon­stel­la­tionen, aber auch die Verschmut­zung und Vergif­tung von Ökosys­temen, sich in langen Prozessen entfalten, deren Geschwin­dig­keit vari­iert, ohne sich in einzelnen Momenten – in „Kata­stro­phen“ – spek­ta­kulär zu offen­baren. Aus einer solchen Perspek­tive zeigt sich auch, dass es oft komplexe soziale Ungleich­heits­struk­turen sind, entlang derer das Auftreten „kata­stro­phaler“ Prozesse verteilt ist – wie beispiels­weise Müll­de­po­nien öfter in armen Ländern ihre toxi­sche Wirkung frei entfalten, von der dann Frauen und mino­ri­ties tenden­ziell beson­ders stark betroffen sind. Als Kata­strophe erweist sich, so gesehen und in Anleh­nung an ein Wort von Walter Benjamin, dass solche Struk­turen eben nicht unter­bro­chen werden, sondern die Dinge so bleiben, wie sie sind.