Die Allgegenwart der „Katastrophe“ rührt daher, dass permanent über sie gesprochen wird. In verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie Infotainment und Kunst, Wissenschaft und Politik legitimiert das Katastrophen-Sprechen gewisse Praktiken und ruft zu einem bestimmten Tun auf. Und da es selbst auch eine Handlung, ein Sprechakt ist, bringt es bisweilen das hervor, was es benennt oder führt zu Reaktionen, die alles andere als beabsichtigt waren.
Katastrophen-Training
Anfang der 1950er Jahre beschäftigten sich US-amerikanische Mediziner*innen und Sozialwissenschaftler*innen, die Mitglieder neu gegründeter armeefinanzierter „disaster research groups“ waren, mit dem „disaster syndrome“. Darunter verstanden sie einen Komplex von Verhaltensweisen, die sie in ihren empirischen Untersuchungen registrierten: menschliche Katastrophenreaktionen während und unmittelbar nach Erdbeben, Wirbelstürmen oder Fabrikexplosionen. Sie trafen dabei auf Menschen, die im Angesicht der Katastrophe „benommen“ und „apathisch“ an Ort und Stelle verharrten. Ein solches Verhalten erschien ihnen problematisch, stand es doch außer Frage, dass Menschen, die über Radio, Fernsehen oder Lautsprecher die Worte „Alarm“, „Notfall“ oder eben auch „Katastrophe“ hörten, handeln mussten. Unverzüglich sollten sie Schutz suchen oder sich an Rettungsarbeiten beteiligen und dabei den Anweisungen von Bürgermeistern, Zivilschutzbeamten und anderen „Autoritäten“ Folge leisten. Im Idealfall erübrigten sich diese Anweisungen, weil die Subjekte quasi instinktiv das Richtige täten.

„Preparedness“-Film des amerikanischen Zivilschutzes, 1950er Jahre; Quelle: youtube.com
Hinter der Gründung der Katastrophen-forschungsgruppen, die sich zwischen 1949 und 1963 an mehreren US-amerikanischen Forschungseinrichtungen etablierten, stand die praktische Frage, durch welche staatlichen Maßnahmen sich falsches Katastrophenverhalten verhindern und richtiges fördern ließe. Dabei ging es den militärischen Sponsor*innen der Studien in erster Linie um die Reaktionen der amerikanischen Zivilbevölkerung im Falle eines nuklearen Angriffs auf die USA. Das Studium von zivilen Katastrophen, von denen angenommen wurde, dass sie solchen Angriffen ähnelten, sollte ein Wissen liefern, das sich für die Vorhersage und Regulierung der menschlichen Reaktionen nutzen ließe. Natürlich war dieses Wissen auch für das Krisenmanagement nach Erdbeben oder Flut hilfreich. Seine zivile Verwendung bildete jedoch nicht den Hauptzweck der Studien.
Anfang der 1950er Jahre kamen die Katastrophenforscher*innen zu dem Schluss, dass man Menschen in ihrem Alltag darauf vorbereiten müsse, im Ausnahmefall automatisch richtig zu handeln. Diese Ansicht wurde in Nordamerika und in verschiedenen west- und nordeuropäischen Ländern von einer Vielzahl zeitgenössischer Politiker*innen und Expert*innen geteilt, die sich mit dem Katastrophenschutz beschäftigten. Schon Schulkinder wurden regelmäßig darin trainiert, sich beim Ertönen von Sirenen unter ihre Bänke zu kauern oder schnell und dennoch geordnet in Luftschutzbunker zu fliehen („Duck and Cover“). Ihre Eltern sollten das Aufsetzen von Gasmasken und den Gang in ihre privaten Schutzräume üben und Vorräte regelmäßig inventarisieren. Insbesondere in US-amerikanischen Großstädten organisierten die Zivilschutzbehörden aufwändige Großübungen, bei denen ein nuklearer Angriff auf die USA simuliert wurde. In manchen Bundesstaaten war die Teilnahme an den „Operation Alert“-Trainings gesetzlich vorgeschrieben.
Ungewollte Wirkungen
Pazifist*innen demonstrierten gegen diese Übungen und spätestens Anfang der 1960er Jahre wurde immer klarer, dass sie nicht die einzigen waren, die sich dem Zivilschutz-Programm verweigerten. Umfrageergebnisse zeigten, dass die Mehrheit der Amerikaner*innen ihm mit „Apathie“ begegnete, weder Vorräte noch private Schutzräume anlegte und die community-shelters mehr schlecht als recht kannte. Auch dafür wurden (wissenschaftliche) Erklärungen gesucht und gefunden.
Der Psychologe Jum Nunnally etwa interpretierte die Zivilschutz-„Apathie“ als eine Art „Rückzugsreaktion“ auf bedrohliche „Bestrafungs“-Szenarien, zu denen er neben der „thermonuklearen Katastrophe“ auch „ökonomische Depression“ und „Lungenkrebs“ zählte. Für die thermonukleare Katastrophe galt dabei, wie er betonte, dass einerseits unklar war, wann genau sie eintreten würde, andererseits aber feststand, dass sie – egal welche Maßnahmen auch ergriffen würden – für viele Menschen den sicheren Tod bedeute. Ein Sprechen, das mit solchen Szenarien operiere, bewirke mitunter ein „backfiring“: das genaue Gegenteil dessen, was es beabsichtige. Statt zu einem Vorbereitetsein („preparedness“) führe es zu Angstzuständen („anxiety“), die dann eine Gelähmtheit („apathy“) nach sich ziehen würden.

Öffentlicher Atomschutzbunker in Zürich; Quelle: pinterest.com
Schon rund zehn Jahre vor Nunnallys Ausführungen waren die Forschungsgruppen auf einen anderen problematischen Effekt des Katastrophensprechens aufmerksam geworden. Ihre Auftraggeber waren davon ausgegangen, dass Menschen in Katastrophen dazu tendieren würden, in (Massen-)Panik zu geraten, „anti-soziale“ Verhaltensweisen wie Plündern an den Tag zu legen und „Autoritäten in Frage zu stellen“. Diese Annahmen konnten die Forscher*innen nicht bestätigen, sahen sie doch mehrheitlich „kontrolliertes“, „rationales“ und „geordnetes“ Verhalten sowie eine „soziale Grenzen“ überwindende „Solidarität“. Die Vorstellung eines wahrscheinlichen „antisozialen Verhaltens“, wie sie Informationsmedien und Popkultur (insbesondere in disaster movies) damals verbreiteten, bezeichneten sie als brandgefährliche „Katastrophenmythen“. Sie schrieben, dass die Betonung von Panik-Momenten bei der Darstellung faktischer und potentieller Katastrophen den Adressat*innen ein solches Verhalten geradezu nahelege. Genau damit würden sie dazu beitragen, dass es tatsächlich auch so kommen müsse. Die Katastrophenmythen schienen indirekt genau das herbeizuführen, was sie vermeintlich ‚nur‛ beschrieben – etwa wenn Katastrophenschutzbeamte aus Angst vor Chaos und Panik nicht oder erst zu spät vor Katastrophen warnten – und die daraus resultierende Plötzlichkeit der Katastrophe dann tatsächlich Panik generierte. Ein Teufelskreis.
„Ausnahmezustände“ und „game-over“-Einstellung
Die Effekte von allumfassenden und ständig präsenten Bedrohungsszenarien haben nicht nur die Katastrophenforscher*innen des Kalten Krieges beschäftigt. Sie sind auch ein zentraler Forschungsgegenstand der jüngeren kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Katastrophen, die seit Anfang des 21. Jahrhunderts stark zugenommen hat. Hier kommen etwa die Möglichkeiten in den Blick, die staatliche, supra-staatliche und nicht-staatliche Akteure haben, um in eine Situation zu intervenieren, sobald diese als „Katastrophe“ deklariert wird. Dabei geht es auch um die Frage, ob und wie in demokratischen Gesellschaften mit der Ausrufung von „Ausnahmezuständen“ Maßnahmen (z.B. Ausgangssperren, peinliche Befragungen etc.) legitimiert werden können, die mit demokratischen Prinzipien nur bedingt vereinbar sind. Auch jenseits von Ausnahmezustands-Analysen setzen sich die kritischen disaster- oder security studies damit auseinander, wie das permanente Sprechen über (künftige) Katastrophen auch im Alltag dazu beiträgt, Kontrollansprüche und Regulierungstechniken zu legitimieren.
Verschiedene neuere Forschungsstränge beschäftigen sich ebenfalls intensiv mit den Gefahren des „Katastrophensprechens“. Zu denken wäre hier etwa an die Kritik, die Autor*innen wie Donna Haraway an jenem Sprechen von der Katastrophe üben, das in den letzten rund zwanzig Jahren mit der Verbreitung des Anthropozän-Konzepts um sich gegriffen hat. Dieses Sprechen zeichne sich, so Haraway, nicht nur durch die Zementierung eines anthropozentrischen Weltbildes aus, sondern auch dadurch, dass die Beteiligung unterschiedlicher Menschengruppen an der Zerstörung des Planeten verschleiert wird. Laut Haraway und anderen Kritikerinnen legt das Anthropozän-Konzept nicht selten nahe, dass „unsere“ bevorstehende Auslöschung, die „wir“ verursacht haben, gar nicht mehr aufhaltbar sei. Dadurch befördere es eine zynische „’game over‘-attitude“.
Kontinuität statt Knall: Das andere Katastrophensprechen
Es wäre falsch (und mehrheitlich auch nicht in deren Sinn), aus der kulturwissenschaftlichen Kritik am Sprechen über Katastrophen den Schluss zu ziehen, dass wir aufhören sollten, über katastrophale Realitäten zu sprechen – als ob es solche Realitäten nicht geben würde! Vielmehr geht es darum, anders über Katastrophen zu sprechen. Dafür ist es unabdingbar, sich damit auseinanderzusetzen, wie sich das Verständnis des Begriffes der Katastrophe entwickelt und verändert hat.

Tornado in Campo, Colorado, USA, Foto: Jason Persoff; Quelle: wired.com
Die im Kalten Krieg entstandenen „disaster research groups“ fanden mit ihren Thesen zur Wirkmächtigkeit von (falschen) Katastrophen-darstellungen anfänglich zwar relativ wenig Beachtung. Aber insgesamt waren sie mit ihren Arbeiten äußerst einflussreich. Zum einen insistierten sie in den frühen 1960er Jahren als Politik-Berater*innen darauf, dass sich der amerikanische Katastrophenschutz von seiner Fixierung auf den nuklearen Angriff lösen müsse. Auf diese Weise trugen sie zur Entwicklung eines „all hazards mindset“ und einer Aufmerksamkeitsverschiebung insbesondere hin zu Naturkatastrophen bei. Zum anderen setzten sie mit ihren Forschungsresultaten wichtige Impulse. Die Idee, dass Menschen – auch oder gerade bei wenig staatlicher Intervention – mit Katastrophen gut zurechtkommen und an ihnen „wachsen“ können, hat die Weiterentwicklung und Etablierung des Resilienz-Konzepts befördert, das heute im Katastrophenschutz, aber auch über ihn hinaus, zentral geworden ist.
Dabei ist auch noch unser heutiges Sprechen über Katastrophen von jener 1961 mit Blick auf Nuklearexplosionen vorgeschlagenen Definition von Charles Fritz geprägt, wonach Katastrophen als „in Raum und Zeit konzentrierte Ereignisse“ zu verstehen sind, die das „Funktionieren von Gesellschaften unterbrechen“. Tatsächlich hält ein Großteil der heutigen wissenschaftlichen und praktischen Auseinandersetzung an diesem Verständnis von Katastrophen als „disruptiven“ Ereignissen fest. Auch wenn in diesem Zusammenhang von „Prozessen“ und „Strukturen“ die Rede ist, die zu Katastrophen führen können, werden diese oft nur in ihrer Tendenz, eben katastrophale Ereignisse hervorzubringen, zum Thema gemacht: Die Katastrophe als „disruptives“ Ereignis verstellt jedoch den Blick auf die langwierigen Prozesse und Strukturen, die ihr zugrunde liegen.
Dies gilt auch für Auseinandersetzungen mit dem Klimawandel. Als disruptives Ereignis verstanden, führt dieser Sichtweise gemäß die „katastrophale“ Erderwärmung zu Naturkatastrophen wie Wirbelstürmen und letztendlich zur Doomsday-artig (und damit ereignishaft) inszenierten Auslöschung der Welt – wenn nicht mit großem Knall, so doch mit einem klaren Ende. Ein Katastrophen-Sprechen, das zu sehr diesem Knall verhaftet bleibt, vermag es nicht, sich „katastrophalen“ Realitäten struktureller Natur adäquat zu nähern, die sich oft durch einen schleichenden Verlauf und Charakter auszeichnen. So haben etwa Forschungen im Feld der environmental humanities oder der science and technology studies, die das Reizwort „Katastrophe“ nicht in ihrer Bezeichnung führen, gezeigt, dass extreme Wetterkonstellationen, aber auch die Verschmutzung und Vergiftung von Ökosystemen, sich in langen Prozessen entfalten, deren Geschwindigkeit variiert, ohne sich in einzelnen Momenten – in „Katastrophen“ – spektakulär zu offenbaren. Aus einer solchen Perspektive zeigt sich auch, dass es oft komplexe soziale Ungleichheitsstrukturen sind, entlang derer das Auftreten „katastrophaler“ Prozesse verteilt ist – wie beispielsweise Mülldeponien öfter in armen Ländern ihre toxische Wirkung frei entfalten, von der dann Frauen und minorities tendenziell besonders stark betroffen sind. Als Katastrophe erweist sich, so gesehen und in Anlehnung an ein Wort von Walter Benjamin, dass solche Strukturen eben nicht unterbrochen werden, sondern die Dinge so bleiben, wie sie sind.