Konsum und Krise gehören zusammen. Für viele Menschen manifestierte sich die aktuelle Krise zu allererst im Supermarkt durch fehlendes Toilettenpapier. Sie machten bislang weitgehend unbekannte Erfahrungen, wie das Anstehen, um einen Laden zu betreten, oder mussten neue Verhaltensregeln lernen. Im kulturellen Gedächtnis werden die zahllosen Witze, Memes und Videos von leergefegten Supermarktregalen bleiben, die zeigen, was der Bevölkerung wirklich wichtig zu sein scheint: Neben Toilettenpapier auch Nudeln, Backhefe und Alkohol.
Im Alltag macht sich die Krise, sofern man selbst oder das Umfeld nicht direkt von der Krankheit betroffen ist, vor allem durch die Einschränkung von Konsummöglichkeiten bemerkbar. Seien es Restaurant- oder Konzertbesuche, der Besuch im Fitnessstudio oder eine Urlaubsreise. Und dennoch wird den Verbraucher*innen eine zentrale Rolle in der Krise zugeschrieben. Aus Konsument*innen sollen, um es mit Alvin Toffler zu sagen, „prosumers“ werden: Prosument*innen, die Produkte und Dienstleistungen nicht nur kaufen, sondern zu deren Co-Produzent*innen werden, indem sie Schutzmasken nähen, ihr eigenes Brot backen und vielleicht neue Talente beim Haareschneiden entdecken. Sie werden ermahnt, auf Hamsterkäufe zu verzichten. Stattdessen sollen sie solidarisch und zukunftsorientiert konsumieren und etwa Gutscheine kleiner Läden oder von Kulturinstitutionen kaufen. Die Rückkehr zur „Normalität“ wird demgegenüber vor allem mit einer Rückkehr zu den gewohnten Konsummöglichkeiten in Verbindung gebracht. Die eingeführte Maskenpflicht beim Einkaufen hält die Krise im Alltag aber weiterhin präsent und erinnert Verbraucher*innen daran, dass sie noch lange nicht überwunden ist.
Konsum als Bürgerpflicht
Für das 21. Jahrhundert scheint deshalb zuzutreffen, was die Historiker Konrad Jarausch und Michael Geyer bereits für das 20. Jahrhundert konstatiert haben, dass nämlich die Verbraucher*innen „das hauptsächliche Subjekt“ sind. Gerade in der Krise erlangt das von Lizabeth Cohen für die USA eingeführte Modell des „consumer citizen“ neue Bedeutung. Demnach kommt Verbraucher*innen und ihrem Konsumverhalten eine bedeutende Rolle bei staatlichen und wirtschaftlichen Steuerungsversuchen zu. Sie haben nicht nur das Recht zu konsumieren, sondern es wird von ihnen auch erwartet, dass sie es tun. Ähnlich den Staatsbürger*innenpflichten hat der „consumer citizen“ eine Verantwortung, seine Pflichten zu erfüllen
Cohen führte den Ursprung dieses Konzepts auf die späten 1930er-Jahre zurück, als die US-amerikanische Politik nach Lösungen zur Überwindung der Wirtschaftskrise suchte. Verbraucher*innen wurde nun erstmals eine bedeutende Rolle dabei zugesprochen. Ihre Aufwertung und eine Hinwendung zu keynesianischen, antizyklischen Methoden der Kaufkraftförderung entsprangen demnach aus einer Krisensituation heraus. Wenige Jahre zuvor hatte Reichskanzler Heinrich Brüning in Deutschland – der damaligen ökonomischen Mehrheitsmeinung entsprechend – noch genau gegenteilig gehandelt und Anfang der 1930er-Jahre einen harten Austeritätskurs eingeschlagen. Anstatt Konsumanreize zu schaffen, erhöhte die Regierung die Steuern auf Güter wie Zucker, Tabak und Bier. Gleichzeitig wurden auch die Steuern auf Löhne und Umsätze angehoben und die Sozialausgaben gesenkt. Hoher privater Konsum wurde als krisenverschärfend gesehen, da er den Zielen der Deflationspolitik entgegenwirkte.

Während der Wirtschaftskrise in den 1970er-Jahren sollten sich Verbraucher*innen aktiv an der Überwindung der Krise beteiligen. Quelle: FAZ 5.10.1977
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm demgegenüber die Bedeutung, die privatem Konsum und dem Verhalten der Verbraucher*innen zugeschrieben wurde, zu. „Purchasers as citizens“ seien durch ihren Konsum mitverantwortlich für das wirtschaftliche Wohlergehen des Staates. Da privater Konsum demnach nicht nur den eigenen Interessen dient, ergibt sich daraus geradezu eine Pflicht, möglichst viel zu konsumieren. Konsumanreize gelten seitdem als probate Mittel zur Bekämpfung von Wirtschaftskrisen.
Zum Ausdruck kam dieser Anreizgedanke etwa auch 2009, als die Bundesregierung eine – im Volksmund bald „Abwrackprämie“ genannte – „Umweltprämie“ einführte. Mit diesem staatlichen Zuschuss, der für den Kauf eines Neuwagens gewährt wurde, wenn man den alten verschrottete, reagierte sie auf die durch einen deregulierten, digitalen und global vernetzten Finanzmarkt ausgelöste Wirtschafts- und Finanzkrise.
Auch aktuell werden Prämienmodelle, wie etwa Einkaufsgutscheine, als Konsumanreize diskutiert. Die Idee sieht jedoch vor, sie an klare Vorgaben zu knüpfen, wo und wie diese eingelöst werden können, um lokale Händler*innen und Gastronom*innen zu unterstützen. Daran zeigt sich, dass politische Akteur*innen nicht darauf vertrauen, dass „consumer citizen“ ihrer „Pflicht“ zum „richtigen“ Konsumieren auch ohne Vorgaben nachkämen.
Die trügerische Sicherheit von Prognosen
Die Maßnahmen zur Steuerung des Konsumverhaltens basieren dabei vornehmlich auf Prognosen von Wirtschaftsexpert*innen und Konsumforscher*innen. Letitia Lenel und andere haben jüngst auf die Bedeutung solcher Prognosen hingewiesen. Unabhängig davon, ob sie „richtig“ oder „falsch“ liegen, können sie politische und wirtschaftliche Entwicklungen nachhaltig beeinflussen. Obwohl die mittel- und langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie noch nicht abzusehen sind, mangelt es nicht an Prognosen, die genau diese voraussagen. So geht der IWF von einem Rückgang der Weltwirtschaft in diesem Jahr um drei Prozent aus, rechnet aber mit einem Wachstum von sechs Prozent im kommenden Jahr.
Folgt man der Berichterstattung über den jüngsten Konsumklimaindex der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), der mit -23 Prozentpunkten ein Rekordtief seit Beginn der Umfrage im Jahr 1980 erreicht hat, so wird deutlich, dass die Stimmung der Verbraucher*innen als wichtiger Indikator für die kurz- und mittelfristige Wirtschaftsentwicklung gilt. Gerade wird diese überaus negativ gesehen. So ist in der Berichterstattung von einem „epochalen Schock“, einem „Kollaps“ oder „Absturz“ sowie von „düsteren Ausblicken“ die Rede.
Nach dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 waren Ökonom*innen in die Kritik geraten, weil sie die Krise nicht hatten kommen sehen. Ebenso fehlten, wie der Wirtschaftshistoriker Hartmut Berghoff betont hat, vielen Angestellten im Finanzsektor das Wissen und die Erfahrung von vorangegangenen Wirtschaftskrisen, sodass sie diese in ihrem Handeln nicht antizipierten und von einem stetigen Wirtschaftswachstum ausgingen.
Obwohl das Modell des „homo oeconomicus“, das von einem rationalen, das heißt von einem ökonomischen Kosten-Nutzen-Modell und an empirischen Fakten orientierten Verhalten der Konsument*innen ausgeht, in den letzten Jahrzehnten durch die Verhaltensökonomie in die Kritik geraten ist, vertrauen Wirtschaftsprognosen und politische Akteure weiterhin stark auf ökonomisch rational handelnde und faktenorientierte Verbraucher*innen.
Konsumverhalten während der Öl- und Wirtschaftskrise
Ein Blick auf historische Krisen kann hingegen zu einem besseren Verständnis und einem reflektierten Umgang mit der aktuellen Situation beitragen. Auch der Ausbruch der ersten Ölpreiskrise 1973 und die darauffolgende Rezession wurde von Zeitgenoss*innen weithin als ein Schock wahrgenommen. Apokalyptische Vorhersagen und Kassandrarufe prophezeiten das drohende Ende einer „Ära“, der „Überflußgesellschaft“ oder gar der „Marktwirtschaft“. Der erste deutliche Wirtschaftseinbruch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellte Kommentator*innen, Expert*innen und Verbraucher*innen vor neue und unerwartete Herausforderungen.
Die jetzige Krise lässt sich in vielerlei Hinsicht nicht mit der Ölpreis- und Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre vergleichen. Und doch lassen sich Ähnlichkeiten feststellen. Beide Krisen wurden bzw. werden als neuartige Phänomene beschrieben, die unvermittelt während eines lang anhaltenden Wirtschaftsbooms auftraten. Ebenso handelte es sich um ursprünglich externe Phänomene (Jom-Kippur-Krieg in Nahost 1973, Corona-Ausbruch in Wuhan 2019), die eine massive Wirkung in Deutschland entfalteten. Sie wurden beide als Zäsur wahrgenommen und ihr Einfluss als langfristig und massiv prognostiziert. Mit den autofreien Sonntagen als Krisenmaßnahmen kam es in der Geschichte der Bundesrepublik zu bis dato unbekannten Eingriffen in das Konsumverhalten.

Während der Ölkrise im Herbst 1973 wurde Benzin zur Hamsterware. Quelle: spiegel.de
Es soll an dieser Stelle weder darum gehen, Homologien zwischen beiden Krisen zu behaupten, noch die aktuellen Krisennarrative zu dekonstruieren. Dies ist angesichts der offenen Situation auch gar nicht möglich. Ein Blick auf die Krise der 1970er-Jahre ist jedoch hilfreich, um das Sensorium für die Tücken von (allzu) weitreichenden Prognosen und vorschnellen Annahmen, insbesondere hinsichtlich des Konsument*innenverhaltens zu schärfen und die Grenzen des „consumer citizen“-Konzepts klarer in den Blick zu bekommen.
Denn während der Ölpreiskrise im Winter 1973/74 zeigte sich, wie auch in der aktuellen Situation, dass Konsument*innen keine homines oeconomici sind und gerade in wahrgenommenen Krisenzeiten keine rationalen Kaufentscheidungen treffen. Was aktuell das Toilettenpapier ist, war seinerzeit das Benzin. Obwohl trotz massiver Verteuerungen des Ölpreises und Lieferembargos im Zuge des Jom-Kippur-Kriegs im Herbst 1973 die Versorgung mit Benzin für PKWs in der Bundesrepublik gesichert war, kam es zu temporären Engpässen, da Autofahrer*innen Benzin hamsterten und Tankstellen wesentlich öfter anfuhren als üblich und nötig. Erst der übermäßige und nach wirtschaftlichen Maßstäben zum Teil unnötige Konsum von Benzin führte zu dessen Knappheit.
Gegenüber Aufrufen zum ökonomisch rationalen Konsumverhalten zeigten sie sich kaum empfänglich. Dazu gehörte auch, eine temporäre und aus ökonomischer Sicht wiederum unnötige Zurückhaltung beim privaten Konsum. Obwohl das durchschnittliche Einkommen in den Jahren 1973/74 um drei Prozent zunahm, beendete der Einzelhandel das Jahr 1974 zum ersten Mal mit einem Umsatzrückgang um drei Prozent. Obwohl Politiker*innen und Wirtschaftsexpert*innen gefordert hatten, die Wirtschaft durch Anschaffungen zu unterstützen, drosselten Konsument*innen ihr Konsumverhalten und legten das Geld lieber zur Seite.
Allerdings währte die Zurückhaltung nicht lange. Bereits 1975, als sich die bundesrepublikanische Wirtschaft in einer Rezession befand, nahmen die Konsumausgaben, insbesondere für teure Güter wie Autos und Urlaubsreisen, wieder deutlich zu. Die Neuzulassungen von Pkws erreichten in diesem Jahr einen Rekordwert. Diese Entwicklung kontrastierte scharf mit Prognosen und Wirtschaftsdaten, die im selben Jahr die schlechteste Wirtschaftsentwicklung in der Geschichte der Bundesrepublik konstatierten. Tatsächliche Einkommens- und Wirtschaftsentwicklungen entsprachen demnach nicht unbedingt dem subjektiven Krisenempfinden der Konsument*innen.
Prognosen zur Konsumentwicklung wurden auch dadurch erschwert, dass sich das tatsächliche Konsumverhalten häufig von dem unterschied, was Verbraucher*innen in Umfragen angaben. Insbesondere bei Themen wie der Autonutzung, die in der öffentlichen Debatte der 1970er Jahre umstritten war, gaben Befragte zumeist Antworten, die sie als sozial erwünscht ansahen. So kam es, dass Wirtschaftsexpert*innen und Konsumforscher*innen von einem grundlegenden Wandel im Verhältnis zum Pkw ausgingen, der eine zunehmend skeptische und zurückhaltende Nutzung von Autos erwartbar machte. Tatsächlich nahmen jedoch die Autokäufe sowie die Nutzung in den 1970er-Jahren kontinuierlich zu.
Ähnliches lässt sich in der aktuellen Debatte um den Klimawandel erkennen. Obwohl die öffentliche Debatte im letzten Jahr von einem Umdenken insbesondere beim Reisen geprägt war und 70 Prozent der Befragten in einer Umfrage angaben, dass sie aufgrund des Klimawandels weniger fliegen würden, nahmen private Flugreisen auch 2019 zu. Besonders hoch war zudem der Anstieg bei Kreuzfahrten.
Eigensinnige Konsument*innen
Ein historischer Blick auf das Konsumverhalten legt nahe, dass Verbraucher*innen trotz anderslautender Aussagen an ihren etablierten Konsumpraktiken festhalten und diese sich nur langsam und langfristig wandeln. Zumeist werden zurückgestellte Anschaffungen und Konsumwünsche sobald es geht nachgeholt. In Krisenzeiten kann es allerdings zu kurzfristigen, gemessen am mikroökonomischen Verhaltensmodell auch irrationalen, Verhaltensänderungen kommen, die stark vom subjektiven Krisenempfinden geprägt sind.

Während sich die bundesrepublikanische Wirtschaft 1975 in einer Rezession befand, verreisten so viele Bundesbürger*innen ins Ausland wie noch nie. Quelle: Der Spiegel 28/1975
Wie auch die aktuelle Situation zeigt, sind Konsument*innen demnach nur in geringem Maße empfänglich für Mahnungen, ihren „Pflichten“ als consumer citizens nachzukommen und zum Wohl der Gemeinschaft und der wirtschaftlichen Entwicklung zu konsumieren. Erst seit den Lockerungen der Krisenmaßnahmen sind in den letzten Wochen überproportional stark nachgefragte Produkte wieder verlässlich verfügbar. Die Hamsterkäufe haben erst dadurch abgenommen und nicht durch die Versicherungen, dass die Versorgung gesichert sei.
Den Verbraucher*innen kommt unbestritten eine bedeutende Rolle in der jetzigen Krise zu. Allerdings haben historische Erfahrungen gezeigt, dass Wirtschafts- und Konsumprognosen, die auf Vorhersagen des Konsumverhaltens basierten, nicht selten zu falschen Schlüssen kamen. Nichtsdestotrotz beeinflussen sie teilweise weitreichende politische und wirtschaftliche Entscheidungen. Das Verhalten der Verbraucher*innen lässt sich jedoch nur schwer steuern und noch weniger prognostizieren. Stattdessen zeigt sich beim Konsum in der Krise gerade das eigensinnige, häufig unsolidarische und ökonomisch irrationale Verhalten des „consumer citizen“.