Ende November 1939, also fast drei Monate nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, veröffentlichte das in London ansässige International African Service Bureau (IASB), eine Interessenvertretung schwarzer, sozialistischer und panafrikanischer Aktivist*innen, einen Artikel in der britischen Wochenzeitung New Leader. Das Parteiblatt der Independent Labour Party (ILP), seinerzeit eine kleine, aber durchaus einflussreiche linkssozialistische Splitterpartei mit einer Handvoll Abgeordneter im britischen Parlament, diente unter der Chefredaktion des pazifistisch-antikolonial gesinnten Fenner Brockway seit Mitte der 1930er Jahre als Plattform für in London lebende panafrikanische Intellektuelle.

Karibische antikoloniale Aktivist*innen, London 1935, v.l.n.r. Amy Ashwood Garvey, unbekannte Person, C L R James, Chris Jones (aka Braithwaite) und George Padmore; Quelle: bl.uk
In ihrem Beitrag mit der sarkastischen Überschrift „African Workers Ask: What Can the Blacks Know of Democracy?” gingen die Vertreter*innen der IASB um die trinidadischen Intellektuellen George Padmore und CLR James sowie dem späteren ersten Präsidenten des unabhängigen Kenia, Jomo Kenyatta, auf die Bemühungen der britischen Regierung ein, nach dem Ersten Weltkrieg ein weiteres Mal militärische Truppen aus den Kolonien für die Verteidigung des British Empire gegen Nazi-Deutschland auszuheben. Das IASB lehnte die britischen Bestrebungen rundherum ab und begründete dies unter anderem damit, „that the Africans have as much freedom and liberty in their own countries as the Jews enjoy in Hitler’s Germany“. Ein Empire, das seine Untertanen genauso behandele wie NS-Deutschland die Juden, sei es nicht wert, verteidigt zu werden. Sie hielten zudem fest, dass
Afrikaner, Inder, Westinder und andere farbige Rassen aufgerufen – und in den französischen Kolonien auf brutalste Weise zwangsverpflichtet – werden, um als Kanonenfutter für den blutigen Holocaust zu dienen, der die Welt im Blut zu ertränken und Elend, Ruin und Verwüstung ungeahnten Ausmaßes zu bringen droht.
Aus heutiger Perspektive mag die Verwendung des Begriffs „holocaust“ in diesem Zusammenhang überraschen. Durchforstet man jedoch alleine die Ausgaben des New Leader in der Zeit von etwa 1938 bis 1947, fällt auf, dass diese Bezeichnung wiederholt als Metapher zur Illustration der zunächst zu erwartenden und schließlich eingetretenen Zerstörung durch einen erneuten Weltkrieg verwendet wird, den die sozialistische Linke Großbritanniens als „Imperialist War“ begriff. Passend dazu hat Ulrich Wyrwa gezeigt, dass der Begriff „holocaust“ im Englischen seit dem frühen 20. Jahrhundert sowohl als Bezeichnung für Brandopfer (im Einklang mit der ursprünglichen biblischen Bedeutung) als auch für „Gemetzel“ und „Zerstörung“ im Allgemeinen verwendet wurde. Erst im Laufe der 1960er und 1970er Jahre setzte sich der Begriff schließlich in der englisch- und deutschsprachigen Welt als Oberbegriff für die Judenvernichtung durch den Nationalsozialismus durch.
Eine linkssozialistische Alternative zur imperialen Ignoranz
Der New Leader fungierte als Gegenöffentlichkeit zur in Großbritannien vorherrschenden Empire-Ignoranz der „absent-minded-imperialists“ (Bernard Porter). Die schwarzen Aktivist*innen um Padmore und Kenyatta nutzten sowohl diese Plattform als auch eigene Publikationen, etwa die International African Opinion, um angesichts des drohenden Weltkrieges die Denkfigur des „kolonialen Faschismus“ zu etablieren. Ihr lag die zentrale Annahme zugrunde, dass auch Großbritannien als demokratische Gegenmacht zum europäischen Faschismus selbst faschistische Praktiken in ihren Kolonien anwendete. Eine Unterstützung des britischen Kriegseintritts sei somit gleichzusetzen mit einer Bekräftigung des imperialen Status Quo.
Ein jährlicher Termin, an dem sich diese Gegenöffentlichkeit manifestierte, war der sogenannte „Empire-Day“, an dem die vermeintlichen Erfolge des britischen Weltreiches im Mutterland gefeiert wurden. Der New Leader konterte mit einer Themenseite zur Realität des imperialen Projektes aus Sicht der Kolonisierten. So ließen sie etwa am „Empire Day“ im Jahr 1937 mit Jawaharlal Nehru und Jomo Kenyatta gleich zwei der künftigen Unabhängigkeitsführer aus dem British Empire auf ihren Seiten zu Wort kommen. Kenyattas Beitrag zu den Unterdrückungsverhältnissen in der Siedlungskolonie Kenia mit dem Titel „Hitler Could Not Improve on Kenya“ dient dabei als Exemplifizierung der Denkfigur des „kolonialen Faschismus“. Dabei setzte er die Praxis der Lagerinhaftierung schwarzer Kenianer*innen bei Nichtvorzeigen ihres mit Fingerabdrücken versehenen Ausweises, genannt „Kipandi“, in Bezug zu den Konzentrationslagern des NS-Regimes. Unter anderem deswegen fiel sein Appell an die weiße britische Linke, die aus seiner Sicht die Gegnerschaft zum Faschismus nicht zureichend mit einer antikolonialen Haltung verknüpften, deutlich aus:
Freunde der kolonialen Bevölkerung sollten Angelegenheiten dieser Art ernst nehmen und energisch gegen diese Akte des Unrechts protestieren, die im Namen ihrer Regierung begangen werden. Nur auf diese Weise werden die Kolonialvölker in der Lage sein, den Unterschied zwischen den imperialistischen Kräften und den Antiimperialisten zu erkennen.

Nancy Cunard (1896-1965); Quelle: vogue.com
Kenyatta und seine panafrikanischen Genoss*innen wollten mit den Analogien zwischen Kolonialherrschaft und NS-Diktatur auf die aus ihrer Sicht heuchlerische Haltung vieler linksliberaler, aber auch kommunistischer Politiker*innen aufmerksam machen, die den Kampf gegen den europäischen Faschismus ohne die gleichzeitige Bekämpfung des eigenen kolonialen Imperiums führen wollten. Sie fanden dabei in heute wenig bekannten weißen britischen Aktivist*innen wie etwa Nancy Cunard oder John McNair, aber auch in britisch-jüdischen Aktivist*innen wie Dorothy Pizer lokal verwurzelte Alliierte, die die imperiale Verfasstheit ihres Heimatlandes genauso überwinden wollten wie die nationalsozialistische Diktatur jenseits des Ärmelkanals. Deren mittelfristiges Ziel waren die dekolonisierten „Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa“ jenseits von sowjetisch geprägtem Kommunismus und US-dominiertem Kapitalismus. Die Independent Labour Party agierte dabei federführend und organisierte 1948 den „Kongress der Völker Europas, Asiens und Afrikas“ im französischen Puteaux bei Paris mit über 300 Delegierten aus 37 Ländern.
Die These des „kolonialen Faschismus“ als Beispiel für einen umgekehrten Lernprozess
Die von den Panafrikanist*innen eingeführte Denkfigur des „kolonialen Faschismus“ sollte in den darauffolgenden Jahren zu einem Alleinstellungsmerkmal der ILP in der der britischen Linken werden und stellte somit eine Form der „reverse tutelage“ dar. Die Bezeichnung diente der Literaturwissenschaftlerin Priyamvada Gopal in ihrer 2019 veröffentlichen Studie Insurgent Empire zur Analyse des Einflusses radikaler Antikolonialist*innen aus der imperialen Peripherie auf weiße britische Empire-Kritiker*innen. Dabei gab es Momente, in denen der Einfluss der Panafrikanist*innen unmittelbar nachzuweisen ist. So nahmen etwa Jomo Kenyatta und George Padmore beide als Vortragende an der ILP-Sommerschule im August 1938 teil. Kenyatta forderte dabei in seiner Rede vor der Parteijugend, dass ein Teil der Aufmerksamkeit für die „injustices of the Jewish minority in Germany“ in Empörung über die Unterdrückung der indigenen Arbeiter*innen im British Empire umgewidmet werden solle. James Maxton, Parteichef der ILP, ließ sich daraufhin in einem New-Leader-Bericht über die Sommerschule wie folgt zitieren: „I say deliberately that the poverty conditions and the denial of freedom in the Empire are worse than in the Fascist States of Germany and Italy“.
Die von den panafrikanischen Aktivist*innen entwickelten Thesen schlugen sich in Schriften zentraler ILP-Akteure nieder. So bezeichnete etwa Fenner Brockway in einem Manifest von 1942 die britische Dekolonisierung als zwingende Notwendigkeit für einen Ausweg aus dem aktuellen Kriegszustand und zog hier ebenfalls Vergleiche zwischen den Nazi-Praktiken gegen die Jüdinnen und Juden Europas und den Unterdrückungsmechanismen des britischen Imperialismus , etwa in Indien und den afrikanischen Kolonien. In diesem Zusammenhang stellte Brockway eine These auf, die später Eingang in wissenschaftliche Debatten um potenzielle Kontinuitätslinien von der kolonialen Gewalt zur Gewalt des Nationalsozialismus finden sollte:
Die Tyranneien des Nationalsozialismus lehnen sich so eng an die des Imperialismus an, dass man sich letzteren zum Vorbild genommen haben könnte. In bestimmten Aspekten werden sie unter dem Nationalsozialismus gründlicher, kontinuierlicher und grausamer angewandt, aber die Methoden der Diktatur sind, wo immer sie angewandt werden, die gleichen. […] DIE NAZIS IN DEUTSCHLAND BETRACHTEN SICH SELBST ALS EINE HERRENRASSE UND BEHANDELN VOR ALLEM DIE JUDEN, ALS WÄREN SIE UNTERMENSCHLICHE TIERE. DAS IST AUCH DIE HALTUNG DER WEIßEN „SAHIBS“ GEGENÜBER DEN FARBIGEN VÖLKERN.“ (Großbuchstaben im Original).
Bei den hier diskutierten rhetorischen Vergleichen (und ja, Gleichsetzungen) von Judenverfolgung und der Unterdrückung der Schwarzen in den Kolonien angesichts des drohenden Zweiten Weltkrieges und der gleichzeitigen steigenden Virulenz der kolonialen Frage ist es wichtig zu betonen, dass sich sowohl die panafrikanischen Aktivist*innen als auch antikoloniale ILP-Politiker*innen dezidiert und auch praktisch mit Jüdinnen und Juden in Europa solidarisierten. So war etwa Jomo Kenyatta Teil einer ILP-Delegation, die am 14. November 1938 einen Demonstrationszug zur deutschen Botschaft in London mit anschließender Kundgebung im Hyde Park, einem der Hauptschauplätze antikolonialer Agitation zu dieser Zeit, organisierte, um gegen die vom NS-Regime orchestrierte Reichspogromnacht zu protestieren. Laut Überwachungsdokumenten des britischen Geheimdienstes MI5, der sowohl panafrikanische Intellektuelle als auch antikoloniale weiße Brit*innen observierte, betonte Kenyatta in einem Redebeitrag auf der Kundgebung, dass sein Aktivismus in der Hauptsache der Befreiung der „oppressed native workers in Africa” gelte. Zugleich aber sei für ihn selbstverständlich, am Protest gegen die Unterdrückung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden im Deutschen Reich teilzunehmen. Die britischen Überwachungsdokumente deuten ebenfalls darauf hin, dass Demonstrationen der panafrikanischen Aktivist*innen in London regelmäßig von jüdischen Teilnehmer*innen besucht wurden.
Historisierung als Beitrag zur Versachlichung
Wie das Beispiel des panafrikanischen Aktivismus in Großbritannien in den 1930er und 1940er Jahren zeigt, hat das Nachdenken über den Zusammenhang von kolonialem Rassismus und nationalsozialistischem Antisemitismus beziehungsweise über die wechselseitige Solidarität von Schwarzen und Juden eine bis in die Vorkriegszeit reichende Tradition, weshalb eine Historisierung dieses Phänomens trotz (oder gerade wegen) der unbestrittenen historischen Komplexität und gegenwärtigen Emotionalität lohnenswert ist. Angesichts der momentan im deutschen Sprachraum virulenten Debatte um die Verschränkungen von Antisemitismus und kolonialem Rassismus zeigt ein Blick in die Zeit vor 1945 und den darauffolgenden Dekolonisationsprozessen, dass die Verfolgung der europäischen Jüdinnen und Juden bereits vor der Kulminierung in ihrer nahezu totalen Vernichtung als Vergleichsfolie für andere Formen rassistischer Unterdrückung diente. Panafrikanische Aktivist*innen wie George Padmore, aber auch weiße britische Linke wie Fenner Brockway entwickelten bereits damals Analysen, die Kolonialismus, Rassismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus als miteinander verschränkte Phänomene analysierten. Die heutigen Argumentationsstrukturen zur Verschränkung von NS- und Kolonialgeschichte weisen also Kontinuitäten zu Denkfiguren auf, die zu einer Zeit entstanden, als NS-Diktatur und Kolonialismus noch keine historischen Epochen waren, das heißt, unsere heutigen Erinnerungs- und Erfahrungsräume sozusagen noch in the making waren. Vielleicht trägt das Bewusstsein dieser Geschichtlichkeit der Idee eines Zusammenhangs von Antisemitismus und Kolonialrassismus zu einer Versachlichung der Debatte bei.