Antikoloniale und panafrikanische Politiker sowie politische Aktivist*innen in Großbritannien haben in den späten 1930er Jahren den Nationalsozialismus mit dem Kolonialismus verglichen – und sich dabei gleichzeitig mit den bedrohten Juden und Jüdinnen in Deutschland solidarisiert.

  • Gil Shohat

    Gil Shohat ist Doktorand am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Dissertationsprojekt zu antikolonialem Aktivismus im London der 1930er-1960er Jahre wird vom Ernst-Ludwig-Ehrlich Studienwerk (ELES) gefördert.

Ende November 1939, also fast drei Monate nach Ausbruch des Zweiten Welt­kriegs, veröf­fent­lichte das in London ansäs­sige Inter­na­tional African Service Bureau (IASB), eine Inter­es­sen­ver­tre­tung schwarzer, sozia­lis­ti­scher und panafri­ka­ni­scher Aktivist*innen, einen Artikel in der briti­schen Wochen­zei­tung New Leader. Das Partei­blatt der Inde­pen­dent Labour Party (ILP), seiner­zeit eine kleine, aber durchaus einfluss­reiche links­so­zia­lis­ti­sche Split­ter­partei mit einer Hand­voll Abge­ord­neter im briti­schen Parla­ment, diente unter der Chef­re­dak­tion des pazifistisch-antikolonial gesinnten Fenner Brockway seit Mitte der 1930er Jahre als Platt­form für in London lebende panafri­ka­ni­sche Intellektuelle.

Kari­bi­sche anti­ko­lo­niale Aktivist*innen, London 1935, v.l.n.r. Amy Ashwood Garvey, unbe­kannte Person, C L R James, Chris Jones (aka Brai­thwaite) und George Padmore; Quelle: bl.uk

In ihrem Beitrag mit der sarkas­ti­schen Über­schrift „African Workers Ask: What Can the Blacks Know of Demo­cracy?” gingen die Vertreter*innen der IASB um die trini­d­a­di­schen Intel­lek­tu­ellen George Padmore und CLR James sowie dem späteren ersten Präsi­denten des unab­hän­gigen Kenia, Jomo Kenyatta, auf die Bemü­hungen der briti­schen Regie­rung ein, nach dem Ersten Welt­krieg ein weiteres Mal mili­tä­ri­sche Truppen aus den Kolo­nien für die Vertei­di­gung des British Empire gegen Nazi-Deutschland auszu­heben. Das IASB lehnte die briti­schen Bestre­bungen rund­herum ab und begrün­dete dies unter anderem damit, „that the Afri­cans have as much freedom and liberty in their own count­ries as the Jews enjoy in Hitler’s Germany“. Ein Empire, das seine Unter­tanen genauso behan­dele wie NS-Deutschland die Juden, sei es nicht wert, vertei­digt zu werden. Sie hielten zudem fest, dass

Afri­kaner, Inder, West­inder und andere farbige Rassen aufge­rufen – und in den fran­zö­si­schen Kolo­nien auf brutalste Weise zwangs­ver­pflichtet – werden, um als Kano­nen­futter für den blutigen Holo­caust zu dienen, der die Welt im Blut zu ertränken und Elend, Ruin und Verwüs­tung unge­ahnten Ausmaßes zu bringen droht.

Aus heutiger Perspek­tive mag die Verwen­dung des Begriffs „holo­caust“ in diesem Zusam­men­hang über­ra­schen. Durch­forstet man jedoch alleine die Ausgaben des New Leader in der Zeit von etwa 1938 bis 1947, fällt auf, dass diese Bezeich­nung wieder­holt als Meta­pher zur Illus­tra­tion der zunächst zu erwar­tenden und schließ­lich einge­tre­tenen Zerstö­rung durch einen erneuten Welt­krieg verwendet wird, den die sozia­lis­ti­sche Linke Groß­bri­tan­niens als „Impe­ria­list War“ begriff. Passend dazu hat Ulrich Wyrwa gezeigt, dass der Begriff „holo­caust“ im Engli­schen seit dem frühen 20. Jahr­hun­dert sowohl als Bezeich­nung für Brand­opfer (im Einklang mit der ursprüng­li­chen bibli­schen Bedeu­tung) als auch für „Gemetzel“ und „Zerstö­rung“ im Allge­meinen verwendet wurde. Erst im Laufe der 1960er und 1970er Jahre setzte sich der Begriff schließ­lich in der englisch- und deutsch­spra­chigen Welt als Ober­be­griff für die Juden­ver­nich­tung durch den Natio­nal­so­zia­lismus durch.

Eine links­so­zia­lis­ti­sche Alter­na­tive zur impe­rialen Ignoranz

Der New Leader fungierte als Gegen­öf­fent­lich­keit zur in Groß­bri­tan­nien vorherr­schenden Empire-Ignoranz der „absent-minded-imperialists“ (Bernard Porter). Die schwarzen Aktivist*innen um Padmore und Kenyatta nutzten sowohl diese Platt­form als auch eigene Publi­ka­tionen, etwa die Inter­na­tional African Opinion, um ange­sichts des drohenden Welt­krieges die Denk­figur des „kolo­nialen Faschismus“ zu etablieren. Ihr lag die zentrale Annahme zugrunde, dass auch Groß­bri­tan­nien als demo­kra­ti­sche Gegen­macht zum euro­päi­schen Faschismus selbst faschis­ti­sche Prak­tiken in ihren Kolo­nien anwen­dete. Eine Unter­stüt­zung des briti­schen Kriegs­ein­tritts sei somit gleich­zu­setzen mit einer Bekräf­ti­gung des impe­rialen Status Quo.

Ein jähr­li­cher Termin, an dem sich diese Gegen­öf­fent­lich­keit mani­fes­tierte, war der soge­nannte „Empire-Day“, an dem die vermeint­li­chen Erfolge des briti­schen Welt­rei­ches im Mutter­land gefeiert wurden. Der New Leader konterte mit einer Themen­seite zur Realität des impe­rialen Projektes aus Sicht der Kolo­ni­sierten. So ließen sie etwa am „Empire Day“ im Jahr 1937 mit Jawa­harlal Nehru und Jomo Kenyatta gleich zwei der künf­tigen Unab­hän­gig­keits­führer aus dem British Empire auf ihren Seiten zu Wort kommen. Kenyattas Beitrag zu den Unter­drü­ckungs­ver­hält­nissen in der Sied­lungs­ko­lonie Kenia mit dem Titel „Hitler Could Not Improve on Kenya“ dient dabei als Exem­pli­fi­zie­rung der Denk­figur des „kolo­nialen Faschismus“. Dabei setzte er die Praxis der Lager­in­haf­tie­rung schwarzer Kenianer*innen bei Nicht­vor­zeigen ihres mit Finger­ab­drü­cken verse­henen Ausweises, genannt „Kipandi“, in Bezug zu den Konzen­tra­ti­ons­la­gern des NS-Regimes. Unter anderem deswegen fiel sein Appell an die weiße briti­sche Linke, die aus seiner Sicht die Gegner­schaft zum Faschismus nicht zurei­chend mit einer anti­ko­lo­nialen Haltung verknüpften, deut­lich aus:

Freunde der kolo­nialen Bevöl­ke­rung sollten Ange­le­gen­heiten dieser Art ernst nehmen und ener­gisch gegen diese Akte des Unrechts protes­tieren, die im Namen ihrer Regie­rung begangen werden. Nur auf diese Weise werden die Kolo­ni­al­völker in der Lage sein, den Unter­schied zwischen den impe­ria­lis­ti­schen Kräften und den Anti­im­pe­ria­listen zu erkennen.

Nancy Cunard (1896-1965); Quelle: vogue.com

Kenyatta und seine panafri­ka­ni­schen Genoss*innen wollten mit den Analo­gien zwischen Kolo­ni­al­herr­schaft und NS-Diktatur auf die aus ihrer Sicht heuch­le­ri­sche Haltung vieler links­li­be­raler, aber auch kommu­nis­ti­scher Politiker*innen aufmerksam machen, die den Kampf gegen den euro­päi­schen Faschismus ohne die gleich­zei­tige Bekämp­fung des eigenen kolo­nialen Impe­riums führen wollten. Sie fanden dabei in heute wenig bekannten weißen briti­schen Aktivist*innen wie etwa Nancy Cunard oder John McNair, aber auch in britisch-jüdischen Aktivist*innen wie Dorothy Pizer lokal verwur­zelte Alli­ierte, die die impe­riale Verfasst­heit ihres Heimat­landes genauso über­winden wollten wie die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Diktatur jenseits des Ärmel­ka­nals. Deren mittel­fris­tiges Ziel waren die deko­lo­ni­sierten „Verei­nigten Sozia­lis­ti­schen Staaten von Europa“ jenseits von sowje­tisch geprägtem Kommu­nismus und US-dominiertem Kapi­ta­lismus. Die Inde­pen­dent Labour Party agierte dabei feder­füh­rend und orga­ni­sierte 1948 den „Kongress der Völker Europas, Asiens und Afrikas“ im fran­zö­si­schen Puteaux bei Paris mit über 300 Dele­gierten aus 37 Ländern.

Die These des „kolo­nialen Faschismus“ als Beispiel für einen umge­kehrten Lernprozess

Die von den Panafrikanist*innen einge­führte Denk­figur des „kolo­nialen Faschismus“ sollte in den darauf­fol­genden Jahren zu einem Allein­stel­lungs­merkmal der ILP in der der briti­schen Linken werden und stellte somit eine Form der „reverse tutelage“ dar. Die Bezeich­nung diente der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin Priyam­vada Gopal in ihrer 2019 veröf­fent­li­chen Studie Insur­gent Empire zur Analyse des Einflusses radi­kaler Antikolonialist*innen aus der impe­rialen Peri­pherie auf weiße briti­sche Empire-Kritiker*innen. Dabei gab es Momente, in denen der Einfluss der Panafrikanist*innen unmit­telbar nach­zu­weisen ist. So nahmen etwa Jomo Kenyatta und George Padmore beide als Vortra­gende an der ILP-Sommerschule im August 1938 teil. Kenyatta forderte dabei in seiner Rede vor der Partei­ju­gend, dass ein Teil der Aufmerk­sam­keit für die „inju­s­tices of the Jewish mino­rity in Germany“ in Empö­rung über die Unter­drü­ckung der indi­genen Arbeiter*innen im British Empire umge­widmet werden solle. James Maxton, Partei­chef der ILP, ließ sich daraufhin in einem New-Leader-Bericht über die Sommer­schule wie folgt zitieren: „I say deli­bera­tely that the poverty condi­tions and the denial of freedom in the Empire are worse than in the Fascist States of Germany and Italy“.

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Die von den panafri­ka­ni­schen Aktivist*innen entwi­ckelten Thesen schlugen sich in Schriften zentraler ILP-Akteure nieder. So bezeich­nete etwa Fenner Brockway in einem Mani­fest von 1942 die briti­sche Deko­lo­ni­sie­rung als zwin­gende Notwen­dig­keit für einen Ausweg aus dem aktu­ellen Kriegs­zu­stand und zog hier eben­falls Vergleiche zwischen den Nazi-Praktiken gegen die Jüdinnen und Juden Europas und den Unter­drü­ckungs­me­cha­nismen des briti­schen Impe­ria­lismus , etwa in Indien und den afri­ka­ni­schen Kolo­nien. In diesem Zusam­men­hang stellte Brockway eine These auf, die später Eingang in wissen­schaft­liche Debatten um poten­zi­elle Konti­nui­täts­li­nien von der kolo­nialen Gewalt zur Gewalt des Natio­nal­so­zia­lismus finden sollte:

Die Tyran­neien des Natio­nal­so­zia­lismus lehnen sich so eng an die des Impe­ria­lismus an, dass man sich letz­teren zum Vorbild genommen haben könnte. In bestimmten Aspekten werden sie unter dem Natio­nal­so­zia­lismus gründ­li­cher, konti­nu­ier­li­cher und grau­samer ange­wandt, aber die Methoden der Diktatur sind, wo immer sie ange­wandt werden, die glei­chen. […] DIE NAZIS IN DEUTSCHLAND BETRACHTEN SICH SELBST ALS EINE HERRENRASSE UND BEHANDELN VOR ALLEM DIE JUDEN, ALS WÄREN SIE UNTERMENSCHLICHE TIERE. DAS IST AUCH DIE HALTUNG DER WEIßEN „SAHIBS“ GEGENÜBER DEN FARBIGEN VÖLKERN.“ (Groß­buch­staben im Original).

Bei den hier disku­tierten rheto­ri­schen Verglei­chen (und ja, Gleich­set­zungen) von Juden­ver­fol­gung und der Unter­drü­ckung der Schwarzen in den Kolo­nien ange­sichts des drohenden Zweiten Welt­krieges und der gleich­zei­tigen stei­genden Viru­lenz der kolo­nialen Frage ist es wichtig zu betonen, dass sich sowohl die panafri­ka­ni­schen Aktivist*innen als auch anti­ko­lo­niale ILP-Politiker*innen dezi­diert und auch prak­tisch mit Jüdinnen und Juden in Europa soli­da­ri­sierten. So war etwa Jomo Kenyatta Teil einer ILP-Delegation, die am 14. November 1938 einen Demons­tra­ti­onszug zur deut­schen Botschaft in London mit anschlie­ßender Kund­ge­bung im Hyde Park, einem der Haupt­schau­plätze anti­ko­lo­nialer Agita­tion zu dieser Zeit, orga­ni­sierte, um gegen die vom NS-Regime orches­trierte Reichs­po­grom­nacht zu protes­tieren. Laut Über­wa­chungs­do­ku­menten des briti­schen Geheim­dienstes MI5, der sowohl panafri­ka­ni­sche Intel­lek­tu­elle als auch anti­ko­lo­niale weiße Brit*innen obser­vierte, betonte Kenyatta in einem Rede­bei­trag auf der Kund­ge­bung, dass sein Akti­vismus in der Haupt­sache der Befreiung der „oppressed native workers in Africa” gelte. Zugleich aber sei für ihn selbst­ver­ständ­lich, am Protest gegen die Unter­drü­ckung und Verfol­gung von Jüdinnen und Juden im Deut­schen Reich teil­zu­nehmen. Die briti­schen Über­wa­chungs­do­ku­mente deuten eben­falls darauf hin, dass Demons­tra­tionen der panafri­ka­ni­schen Aktivist*innen in London regel­mäßig von jüdi­schen Teilnehmer*innen besucht wurden.

Histo­ri­sie­rung als Beitrag zur Versachlichung

Wie das Beispiel des panafri­ka­ni­schen Akti­vismus in Groß­bri­tan­nien in den 1930er und 1940er Jahren zeigt, hat das Nach­denken über den Zusam­men­hang von kolo­nialem Rassismus und natio­nal­so­zia­lis­ti­schem Anti­se­mi­tismus bezie­hungs­weise über die wech­sel­sei­tige Soli­da­rität von Schwarzen und Juden eine bis in die Vorkriegs­zeit reichende Tradi­tion, weshalb eine Histo­ri­sie­rung dieses Phäno­mens trotz (oder gerade wegen) der unbe­strit­tenen histo­ri­schen Komple­xität und gegen­wär­tigen Emotio­na­lität lohnens­wert ist. Ange­sichts der momentan im deut­schen Sprach­raum viru­lenten Debatte um die Verschrän­kungen von Anti­se­mi­tismus und kolo­nialem Rassismus zeigt ein Blick in die Zeit vor 1945 und den darauf­fol­genden Deko­lo­ni­sa­ti­ons­pro­zessen, dass die Verfol­gung der euro­päi­schen Jüdinnen und Juden bereits vor der Kulmi­nie­rung in ihrer nahezu totalen Vernich­tung als Vergleichs­folie für andere Formen rassis­ti­scher Unter­drü­ckung diente. Panafri­ka­ni­sche Aktivist*innen wie George Padmore, aber auch weiße briti­sche Linke wie Fenner Brockway entwi­ckelten bereits damals Analysen, die Kolo­nia­lismus, Rassismus, Anti­se­mi­tismus und Natio­nal­so­zia­lismus als mitein­ander verschränkte Phäno­mene analy­sierten. Die heutigen Argu­men­ta­ti­ons­struk­turen zur Verschrän­kung von NS- und Kolo­ni­al­ge­schichte weisen also Konti­nui­täten zu Denk­fi­guren auf, die zu einer Zeit entstanden, als NS-Diktatur und Kolo­nia­lismus noch keine histo­ri­schen Epochen waren, das heißt, unsere heutigen Erinnerungs- und Erfah­rungs­räume sozu­sagen noch in the making waren. Viel­leicht trägt das Bewusst­sein dieser Geschicht­lich­keit der Idee eines Zusam­men­hangs von Anti­se­mi­tismus und Kolo­ni­al­ras­sismus zu einer Versach­li­chung der Debatte bei.