Während die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder noch zögerte, den Völkermord in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika anzuerkennen, hat inzwischen die Diskussion über koloniale Verbrechen an Fahrt aufgenommen. Rückt damit auch die Afrikanische Geschichte stärker ins öffentliche und akademische Interesse?

Es ist gut, dass derzeit in der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land eine Ausein­an­der­set­zung mit der kolo­nialen Vergan­gen­heit statt­findet. Das war 2004 bereits schon einmal für kurze Zeit der Fall, als sich der Beginn des Kolo­ni­al­kriegs in Namibia, dem ehema­ligen Deutsch­süd­west­afrika, zum hundertsten Mal jährte. Zu diesem Anlass wurde – begleitet von Ausstel­lungen, Tagungen, Publi­ka­tionen sowie Radio- und TV-Sendungen – eine erste öffent­liche Debatte über kolo­niale Schuld und Verant­wor­tung geführt, die sich aller­dings vornehm­lich um die Bedeu­tung der Kolo­ni­al­ver­bre­chen für die deut­sche Geschichte drehte und Afri­ka­ne­rinnen und Afri­kaner nur dann in den Focus rückte, wenn es um Kriegs­opfer ging. Bei der aktu­ellen Debatte beschränkt sich die Beschäf­ti­gung mit der kolo­nialen Vergan­gen­heit eben­falls haupt­säch­lich auf Namibia und hier vor allem auf den Genozid, auch wenn das deut­sche Kaiser­reich immerhin die dritt­grösste Kolo­ni­al­macht war, mit Gebieten in Togo, Kamerun, Deutsch-Ostafrika, der Südsee und China. Auch hier fanden grau­same Kriege gegen den Wider­stand der einhei­mi­schen Bevöl­ke­rung statt, geführt mit einer Politik der verbrannten Erde und gnaden­losen Vernich­tungs­ak­tionen – der Maji-Maji Krieg in Ostafrika etwa gilt als einer der grössten Kolo­ni­al­kriege in Afrika und endete mit dem Tod von einem Drittel der Menschen im betrof­fenen Gebiet.

Warum Namibia?

Warum aber steht der Völker­mord in Namibia im Mittel­punkt der Aufmerk­sam­keit? Und warum scheint sich die zu debat­tie­rende kolo­niale Vergan­gen­heit allein auf den Zeit­raum dieses Krieges zu beschränken? Das hängt einer­seits mit den aktuell von Opfer­ver­bänden der Herero und Nama erho­benen Klagen zusammen, die aus völker­recht­li­chen Gründen in New York hängig sind und die eine ebenso öffent­liche und poli­ti­sche – und nicht allein juris­ti­sche – Ausein­an­der­set­zung mit dem Völker­mord erzwingen wollen. Frühere Klagen wie die Class Action Claims, die eben­falls in den USA gegen deut­sche Firmen und die deut­sche Regie­rung erhoben wurden, blieben übri­gens erfolglos.

Die Gründe für den Fokus auf Namibia reichen mögli­cher­weise aber auch tief in die Geschichte zurück. So verur­sachten die horrenden Kriegs­kosten in der Kolonie sogar eine Regie­rungs­krise in Deutsch­land, als 1906 Sozi­al­de­mo­kraten und Zentrum einen Nach­trags­haus­halt in Höhe von 29 Millionen Reichs­mark ablehnten, woraufhin Reichs­kanzler Bern­hard von Bülow den Reichstag auflöste und Neuwahlen ausrief, die als „Hotten­tot­ten­wahlen“ in die Geschichts­bü­cher eingingen – „Hotten­totte“ war eine abfäl­lige Bezeich­nung für die Nama-sprachige Bevöl­ke­rung. Auch nach dem „Verlust“ der Kolo­nien Ende des Ersten Welt­kriegs blieben die meisten deut­schen Siedler im Land, häufig auf Farmen im ehema­ligen, enteig­neten Herero- und Nama­land, und so bestanden immer auch fami­liäre Verbin­dungen zwischen Deutsch­land und dem nunmehr von Südafrika verwal­teten Terri­to­rium. „Südwest­afrika“ blieb Teil kollek­tiver Erin­ne­rungen der Deut­schen, und dies setzte sich mit der Kolo­ni­al­pro­pa­ganda in den 1920er und 1930er Jahren sowie einer ausufernden Kolo­ni­al­li­te­ratur fort, die nicht selten den Kolo­ni­al­krieg in „Südwest“ thema­ti­sierte und von einer „deut­schen Zukunft“ in Afrika träumte. Die Idee einer solchen „Zukunft“ sollte in der Nach­kriegs­zeit durch die Entwick­lungs­hilfe eine neue Gestalt annehmen, und Namibia ist tatsäch­lich bis heute ein bevor­zugter „Entwick­lungs­partner“ Deutsch­lands. Aber auch im Wind­schatten der Anti-Apartheidbewegung der 1980er Jahre blieb Namibia als Schau­platz der counter insur­gency gegen Befrei­ungs­be­we­gungen aus Angola sowie Südafrika und Namibia selbst in der deut­schen Öffent­lich­keit präsent, während die anderen ehema­ligen deut­schen Kolo­nien weder im Schul­un­ter­richt noch in den Medien eine Rolle spielten.

Neue Kolo­ni­al­ge­schichts­schrei­bung

Bereits in den 1950er Jahren hatten sich bundes­deut­sche Poli­tiker und Unter­nehmer mit der „kolo­nialen Unschuld“ Deutsch­lands gebrüstet und sahen sich als Vermittler bei den sich abzeich­nenden anti-kolonialen Ausein­an­der­set­zungen in den briti­schen und fran­zö­si­schen Kolo­nien. Zwei histo­ri­sche Studien aus West- und Ostdeutsch­land – Horst Drechs­lers Deutsch­süd­west­afrika unter deut­scher Kolo­ni­al­herr­schaft erschien 1966 in Ostberlin und Helmut Bleys Kolo­ni­al­herr­schaft und Sozi­al­struktur in Deutsch-Südwestafrika zwei Jahre später in Hamburg – durch­kreuzten aller­dings die Rede von der „kolo­nialen Unschuld“ und stellten sich gegen Rela­ti­vie­rung und Verharm­lo­sung des Kolo­nia­lismus als Zivi­li­sie­rungs­mis­sion. Sie wiesen auf Grund­lage eines ausführ­li­chen Quel­len­stu­diums nach, dass mit dem Krieg eindeutig eine Vernich­tungs­ab­sicht verbunden war und prägten die Bezeich­nung Völker­mord bzw. Genozid für diesen Kolo­ni­al­krieg. Zugleich wiesen sie den Weg für eine neue Kolo­ni­al­ge­schichts­schrei­bung, welche die kolo­nialen Archive eben­falls hinsicht­lich der afri­ka­ni­schen Perspek­tive untersuchte.

„Gefan­gene Herero“: Kaffee­wer­bung, Anfang 20. Jh.; Quelle: pinterest.com

Aller­dings führt die Beschäf­ti­gung mit der kolo­nialen Geschichte nicht zu einem breiten Inter­esse an der afri­ka­ni­schen Geschichte. Bley und Drechsler haben ein zwie­späl­tiges Erbe hinter­lassen – so sehr sie den Weg für eine neue Kolo­ni­al­ge­schichte, verstanden als afri­ka­ni­sche Geschichte, gewiesen haben, so sehr ist mit ihren Werken vornehm­lich der Genozid zum Flucht­punkt der kolo­ni­al­his­to­ri­schen Ausein­an­der­set­zung in Deutsch­land geworden. Im Gefolge ihrer Bücher sind inzwi­schen zahl­reiche univer­si­täre Seminar- und Abschluss­ar­beiten entstanden, die sich immer wieder mit den Gräueln der kolo­nialen Verbre­chen befassen. Jede Gene­ra­tion muss sich offenbar erneut der nach wie vor wenig bekannten kolo­nialen Geschichte annä­hern und ihren mora­li­schen Impli­ka­tionen stellen, aller­dings mit deut­li­cher Präfe­renz für die Ausein­an­der­set­zung mit deut­schen Männern, z.B. Soldaten und Kolo­ni­al­be­amten, und deren Texten und Phantasien.

Mehr afri­ka­ni­sche Geschichte!

Doch gerade weil das Bild von Afrika so tief im euro­päi­schen Imagi­nären zu verorten ist, ist es lohnend, den Blick zu erwei­tern. Das betrifft erstens eine längere histo­ri­sche Perspek­tive in Bezug auf (verschüt­tete) euro­päi­sche Afri­ka­bilder, die auch von einem Begehren für Afrika, dem „Gold­land“, als Ursprung von Reichtum und Gelehr­sam­keit spre­chen. Das betrifft zum zweiten Wider­sprüche der kolo­nialen Situa­tion, die etwa das Zusam­men­treffen von unter­schied­li­chen patri­ar­cha­li­schen Systemen betreffen; warum, so liesse sich fragen, war z.B. die protes­tan­ti­sche Mission für viele afri­ka­ni­sche Frauen attraktiv? Und schliess­lich geht es um die Erfor­schung der afri­ka­ni­schen Geschichte vor der Kolo­ni­al­zeit und aus afri­ka­ni­scher Perspek­tive. Das heisst keines­falls, sich mit afri­ka­ni­schen Menschen zu iden­ti­fi­zieren, sich „einzu­fühlen“ oder gar deren Geschichte „anzu­eignen“. Viel­mehr geht es um die Frage, womit sich Histo­ri­ke­rinnen und Histo­riker im Hinblick auf die ehema­ligen Kolo­ni­al­ge­biete beschäf­tigen, welche Quellen und Frage­stel­lungen sie inter­es­sieren. Forschen wir zum Beispiel auch zu schwarzen Intel­lek­tu­ellen und deren Zeit­schriften im Südafrika des 19. Jahr­hun­derts? Inter­es­siert uns die Diplo­matie von Herr­schern wie König Moshoeshoe oder der Wider­stand von Königin Nzinga? Inter­es­sieren uns die vorko­lo­nialen und kolo­nialen Orga­ni­sa­ti­ons­formen von Frauen? Und schliess­lich auch – welche Entschei­dungen haben Herero- und Nama­führer vor und während des Kolo­ni­al­kriegs getroffen und was hat die über­le­bende Bevöl­ke­rung nach dem Krieg gemacht. Auf den immer wieder gezeigten, wenigen über­lie­ferten Foto­gra­fien aus dem Krieg sind keine starken Männer und Frauen abge­bildet, die darüber beraten haben, ob die Deut­schen mili­tä­risch zu besiegen sind, keine Chiefs, die Briefe an den Gouver­neur schreiben und sich über das Welt­ge­schehen austau­schen, sondern man sieht auf das Skelett abge­ma­gerte Menschen, deren Anblick zu Tränen rührt…

Afri­ka­ni­sche Agency

Afri­ka­ni­sche agency, also die Hand­lungs­macht der afri­ka­ni­schen Bevöl­ke­rung, findet sich para­do­xer­weise eher auf Seiten von Kolo­ni­al­a­po­lo­geten, die in ihren Texten zeigen wollen, dass die Afri­kaner ja auch Gewalt­taten verübt hätten, und ohnehin die Deut­schen gera­dezu zu „Bestra­fungs­ak­tionen“ „gezwungen“ hätten. Diese Beto­nung afri­ka­ni­scher Stärke geht aller­dings mit der Behaup­tung einher, dass die Deut­sche Kolo­ni­al­macht gar keinen Völker­mord im Sinn hatte. Das ist nach­weis­lich falsch und lässt sich durch zahl­reiche Quellen wider­legen, die nicht nur den Krieg betreffen. Auch grös­sen­wahn­sin­nige Projekte, wie der Austausch der gesamten über­le­benden Bevöl­ke­rung von Norden nach Süden und von Süden nach Norden, zeugen von einem Vernich­tungs­willen, der über krie­ge­ri­sche Hand­lungen weit hinausging.

Kriti­sche Kolo­ni­al­ge­schichte kann nicht in einer Rela­ti­vie­rung des Kolo­nia­lismus bestehen, die gerade wieder en vogue ist. Einem solchen Zugang, der die „guten“ und die „schlechten“ Seiten abwägen möchte, geht es nicht um histo­ri­sche Genau­ig­keit und Diffe­ren­ziert­heit, sondern wiederum nur um ein Schuld­ver­hältnis. Wenn nicht alles schlecht war am Kolo­nia­lismus, können wir ein biss­chen aufatmen… Hier erhebt post­ko­lo­niale Kritik wich­tige theo­re­ti­sche Einwände, wenn sie Kolo­nia­lismus als ein unhin­ter­geh­bares Beziehungs- und Macht­ge­flecht unter­sucht, und nicht in erster Linie hinsicht­lich legi­timer oder ille­gi­timer Taten von Einzelnen oder Kollektiven.

Der tansa­ni­sche Akti­vist und Berliner Stadt­führer Mnyaka Sururu Mboro mit einem mögli­chen Stras­sen­schild; Quelle: isdonline.de

In der Praxis wird mit der Umbe­nen­nung von Strassen – z.B. im soge­nannten afri­ka­ni­schen Viertel in Berlin – ein erster Schritt dazu getan, afri­ka­ni­sche Geschichte symbo­lisch im öffent­li­chen Raum zu veran­kern. Es geht nicht um Geschichts­ver­ges­sen­heit oder gar die Zerstö­rung von Erin­ne­rung, sondern im Gegen­teil um eine Erwei­te­rung der histo­ri­schen Perspek­tive, wenn nicht mehr der Kolo­ni­al­ver­bre­cher Carl Peters, sondern etwa der Philo­soph und Jurist Anton Wilhelm Amo oder die Intel­lek­tu­elle Maria Mandessi Bell geehrt wird.

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Es wäre schade, wenn die Frage, was sich über die afri­ka­ni­sche Seite des Krieges und ganz allge­mein über afri­ka­ni­sche Geschichte in kolo­nialen Archiven heraus­finden lässt, schon vor jedem Archiv­be­such und jedem Inter­view unter dem Verdacht der Fort­füh­rung kolo­nialer Domi­nanz stehen würde. Denn ist nicht viel­mehr genau die Tatsache, dass wir es uns leisten können, uns nur mit afri­ka­ni­scher Geschichte zu beschäf­tigen, wenn sie unmit­telbar bedeu­tungs­voll für unsere eigene Geschichte und Ausein­an­der­set­zung mit histo­ri­scher Schuld ist, nicht weit mehr noch eine Fort­füh­rung kolo­nialer Dominanz?