Am 15. Mai 2021 einigten sich die Sonderbeauftragten Ruprecht Polenz und Dr. Zedekia Ngavirue für die deutsche und die namibische Regierung auf ein „Versöhnungsabkommen“. Es ist der nach fünfeinhalb Jahren und neun Verhandlungsrunden fixierte Kompromiss zum Umgang mit der deutschen Gewaltgeschichte in der damaligen Kolonie Südwestafrika. Dem sollte die offizielle Unterzeichnung durch die Außenminister beider Länder folgen. Doch Heiko Maas verschob die für Juni geplante Reise nach Windhoek auf unbestimmte Zeit. Dies dürfte sowohl der derzeit heftig wütenden Corona-Pandemie in Namibia, vor allem aber dem unerwartet massiven lokalen Widerstand gegen das Verhandlungsergebnis geschuldet sein. Denn ganz so reibungslos wie erhofft, lässt sich „Versöhnung“ auf bilateraler Ebene nicht mit Völkerverständigung gleichsetzen. Zumal nicht dann, wenn der Aushandlungsprozess koloniale Asymmetrien reproduziert.
Das Vergangene ist nicht vergangen
Das Eingeständnis Deutschlands, die während des Kaiserreichs verübten Kolonialgräuel in „Deutsch-Südwestafrika“ seien aus heutiger Sicht ein Völkermord gewesen, wurde auch international aufmerksam verfolgt. Immerhin ist dies ein Novum in der Auseinandersetzung von Kolonialmächten mit ihrer Vergangenheit. Doch was als richtungsweisender Ansporn für die zivilgesellschaftlichen Bemühungen postkolonialer Initiativen in den ehemaligen Kolonialmetropolen begann, endete durch die mit dem Schuldeingeständnis einhergehende „Schadensbegrenzung“ mit einer Enttäuschung. Denn die einstige Kolonialmacht rang sich zu einem Kompromiss durch, der die noch immer offenen Wunden keinesfalls vernarben lässt.
Junge Namibianer:innen kritisieren die Reproduktion struktureller Gewaltverhältnisse und die Wirksamkeit kolonialer Asymmetrien, wie etwa Tommy Veundja Tjaronda in einem Interview:
Hier haben wir einen Täter, der absolut keinen Versuch der Versöhnung unternommen hat und sich weigert, für seine Verbrechen zu bezahlen. Und derselbe Täter dirigiert und fordert weiterhin, wie seine Strafe für die von ihm begangenen Verbrechen aussehen soll.
Die verheerende Bilanz des deutschen Kolonialismus zwischen 1884 und 1915 im heutigen Namibia ist dank profunder kolonialhistorischen Studien für alle, die es wissen wollen, empirisch solide belegt und zusammengefasst worden. Der von den Nachfahren der Betroffenen als deutsch-namibischer Krieg bezeichnete Völkermord kostete nach groben Schätzungen weit mehr als die Hälfte der Ovaherero und über ein Drittel der Nama das Leben. Die Damara galten als (ungezählter) „Kollateralschaden“, und auf die San wurden von Siedlern noch bis zum Ende der deutschen Kolonialzeit regelrechte „Buschmannjagden“ verübt. Durch eine Reihe von Verordnungen wurden die Überlebenden in Reservate gepfercht und ihrer bisherigen Lebensweise beraubt. Dass durch die Vergewaltigungen von Frauen (nicht nur in Gefangenschaft durch die Soldateska) Generationen lokaler Nachkommen der Deutschen an ihre Vorfahren erinnert werden (von denen sie bis heute meist verleugnet werden), gehört zum kolonialen Alltag der Gegenwart.
Die in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kaum mehr präsente koloniale Vergangenheit ist in Namibia keine Fußnote der Geschichte. Jenseits der irreversiblen demographischen Folgen für die Betroffenen der Massenvernichtung manifestiert sich diese Geschichte vielmehr fortwährend in der vom Siedlerkolonialismus geschaffenen sozio-ökonomischen Ungleichheit. Nicht zuletzt die Verteilung des damals geraubten Landes, das immer noch ganz überwiegend im Besitz von weißen und insbesondere deutschsprachigen Farmern ist, bleibt eine tägliche Erinnerung. Für die Menschen Namibias gilt weiterhin: „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen“ (William Faulkner).
Völkermord als zivilisatorische Mission?
Vielfach ist zu lesen, dass es sich beim Krieg in Namibia „nur“ um Aufstandsbekämpfung gehandelt hatte. Alan Posener argumentierte z.B. am 24. Juni dieses Jahres in Die Welt „Der Holocaust ist nicht vergleichbar mit der Niederschlagung des Herero- oder Maji-Maji-Aufstands“ und „Der Fortschritt der Zivilisation ist von seinen Schattenseiten nicht zu trennen“. Verstanden als eine Replik auf Dirk Moses wirft er diesem vor, die behauptete „Eliminierung ganzer Gruppen in der Weltgeschichte“ als „ein weit verbreitetes Muster“ würde durch kein einziges Beispiel belegt und wäre Unsinn.
Doch wie bereits zeitgenössische Quellen belegen, vollzog sich der Völkermord zwischen 1904 und 1908 in aller Öffentlichkeit. Am 2. Oktober 1904 erließ der Oberkommandierende der deutschen „Schutztruppen“ Lothar von Trotha einen Vernichtungsbefehl, in dem er unmissverständlich erklärte:
„Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen.“
Zwei Tage später erklärt von Trotha in einem Bericht an Generalstabschef von Schlieffen, dass der „Aufstand“ der „Anfang eines Rassenkampfes“ sei. Der noch im Krieg als Buch veröffentlichte Bericht der Kriegsgeschichtlichen Abteilung I des Großen Generalstabs prahlte:
Keine Mühen, keine Entbehrungen wurden gescheut, um dem Feinde den letzten Rest seiner Widerstandskraft zu rauben; wie ein halb zu Tode gehetztes Wild war er von Wasserstelle zu Wasserstelle gescheucht, bis er schließlich willenlos, ein Opfer der Natur seines eigenen Landes wurde. Die wasserlose Omaheke sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: die Vernichtung des Hererovolkes. (S. 207)
Generaloberst Graf von Schlieffen als Leiter des Generalstabs telegrafierte General von Trotha herzliche Glückwünsche und der Bericht endet mit der Feststellung: „Die Hereros hatten aufgehört, ein selbständiger Volksstamm zu sein.“
Anerkennung? – Ja, aber…
Was die Zeitgenossen wussten und die Forschung bestätigt hat, ist nun auch in der Politik angekommen. Dem Eingeständnis des Völkermords anlässlich einer Pressekonferenz des Außenministeriums im Juli 2015 folgte Ende desselben Jahres die Aufnahme bilateraler deutsch-namibischer Regierungsverhandlungen. Doch maßgebliche Vertretungen von Nachfahren der am meisten betroffenen Bevölkerungsgruppen waren daran nicht oder nur marginal durch regierungskonforme und keinesfalls repräsentative Gruppierungen beteiligt. Die von den Verhandlungen ausgeschlossenen Vertretungen der Ovaherero und Nama pochten vergeblich auf die von beiden Staaten ratifizierte Erklärung der Vereinten Nationen zu den Rechten indigener Völker, in der es heißt:
Indigene Völker haben das Recht, an Entscheidungsprozessen in Angelegenheiten, die ihre Rechte berühren können, durch von ihnen selbst gemäß ihren eigenen Verfahren gewählte Vertreter mitzuwirken und ihre eigenen indigenen Entscheidungsinstitutionen zu bewahren und weiterzuentwickeln.
Dieses Rechtes beraubt, strengten die Ausgeschlossenen gemeinsam mit Vertretungen in der Diaspora an einem New Yorker Gericht vergeblich eine Klage gegen die deutsche Regierung an. Diese wurde fast zur gleichen Zeit wie die Bekanntgabe des bilateralen Verhandlungsergebnisses Anfang Juni in letzter Instanz abgelehnt.
In der inoffiziell kursierenden deutschen Übersetzung des Mitte Mai 2021 paraphierten, also vorläufig unterzeichneten Abkommens „akzeptiert Deutschland eine moralische, historische und politische Verpflichtung, sich für diesen Völkermord zu entschuldigen und in der Folge die für eine Versöhnung und für den Wiederaufbau erforderlichen Mittel bereitzustellen“ (III:/11.). Damit wird eine rechtliche Verpflichtung explizit negiert, was der bereits 2003 von Außenminister Fischer erlassenen Handlungsmaxime entspricht, keine entschädigungsrelevante Entschuldigung auszusprechen. Die von namibischer Seite geforderten Reparationsleistungen werden ausdrücklich verworfen. Stattdessen erklären die Regierungen, dass „alle finanziellen Aspekte der vergangenheitsbezogenen Fragen“ damit geregelt seien (V./20.). Am 9. Juni bekräftigte Heiko Maas im Bundestag, dass es „keine Rechtsgründe“ für diese und weitere Zahlungen gäbe, das Abkomme beruhe auf Freiwilligkeit.
Die politischen Asymmetrien bei den Verhandlungen zeigen sich auch auf einer symbolischen Ebene. Als Heiko Maas am 28. Mai in einem Statement das Verhandlungsergebnis verkündete, nannte der Außenminister zwar den deutschen Sonderbeauftragten Ruprecht Polenz namentlich, ließ aber den Namen seines namibischen Gegenübers, des Oxford Absolventen und ehemaligen Botschafters Zedekia Ngavirue aus. Es handelt sich nicht nur um eine Unhöflichkeit, sondern um eine Nachlässigkeit, die den hierarchisierten kolonialen Blick durch die Anonymisierung „des Anderen“ reproduziert.
Völkermord und Völkerverständigung im Billigtarif
Das Abkommen sieht vor, Namibia mit 1,1 Milliarden Euro zu unterstützen. Die über 30 Jahre Laufzeit verteilte „Wiederaufbauhilfe“ entspricht in etwa dem Betrag, der über die vergangenen 30 Jahre seit Namibias Unabhängigkeit an Mitteln entwicklungspolitischer Zusammenarbeit bereitgestellt wurde. Dass diese materielle Geste trotz der weitaus höheren Forderungen der namibischen Seite akzeptiert wurde, liegt wohl teilweise an der dramatischen Wirtschaftslage des Landes und der schwindenden Akzeptanz der regierenden SWAPO Party of Namibia. Seit 2015 in einer Rezession, wird der Niedergang durch die verheerenden Auswirkungen der noch immer eskalierenden Covid-Pandemie beschleunigt. Die finanziell prekäre Lage führte zu einer Verschuldungsspirale, und auch Misswirtschaft und Korruption sorgten für wachsenden Unmut in der Bevölkerung. Erstmals verbuchte die regierende SWAPO – seit der Unabhängigkeit als „Befreiungsbewegung an der Macht“ uneingeschränkt dominant – einen erheblichen Rückgang von Wahlstimmen in der Präsidentschafts- und Parlamentswahl vom November 2019. Von der Wirtschaftskrise und dem politischen Legitimationsverlust angeschlagen, hoffte die Regierung wohl, ein Abschluss der Verhandlungen könnte als „Erfolgserlebnis“ das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen.
1,05 Milliarden Euro sollen für Entwicklungsprojekte in sieben Regionen des Landes verwendet werden, wo die meisten Nachfahren der damals vom Vernichtungskrieg betroffenen Menschen leben. Die aufgrund von Vertreibung und Flucht in der Diaspora lebenden Nachfahren (nicht zuletzt Tausende von Nama in Südafrika und Ovaherero in Botswana) bleiben von dem Verhandlungsergebnis jedoch ausgeschlossen. Auch wenn das Geld für Projekte hauptsächlich im Bereich ländlicher Entwicklung und Infrastruktur durchaus sinnvoll verwendet werden kann, ist die Summe doch ein Tropfen auf den heißen Stein. Eine Milliarde Euro gab Gesundheitsminister Spahn für Corona-Schutzmasken zweifelhafter Qualität aus. Für den Bau des Stuttgarter Bahnhofs (S21) wurden zuletzt acht Milliarden Euro veranschlagt. In der Sendung „Wortwechsel“ im Deutschlandfunk entgegnete Polenz auf die Zahlenvergleiche, dass infrastrukturelle Bauprojekte doch nichts mit der politisch-moralischen Dimension des Versöhnungsabkommens zu tun hätten und deshalb nicht passten. Dass Polenz auch Kritiker:innen fragte, welche Summe sie denn vorschlagen würden, ist im Grunde ein neuerlicher Beweis für den kolonialen Blick. Schließlich haben nicht Deutsche das zu beantworten. Ein ernstgemeinter Versuch müsste die Frage an die Menschen Namibias richten. Zwei weitere Zahlen sind ebenfalls bezeichnend: Während die restlichen 50 Millionen Euro zur Verwendung im Rahmen von Versöhnung, Erinnerung, Forschung und Bildung vorgesehen sind, werden allein die jährlichen Betriebskosten des Humboldt Forums auf 60 Millionen Euro veranschlagt.
Kolonialer Blick 2021
Noch harrt das Abkommen seiner Ratifizierung. Danach soll Präsident Frank-Walter Steinmeier im namibischen Parlament um Entschuldigung bitten, in welchem die Mehrheit der Ovaherero, Nama, Damara und San gar nicht vertreten ist. Der Unmut im Lande ist deutlich spürbar. Im namibischen Parlament drohte bereits die erste Aussprache in einem Eklat zu enden. Ähnliches könnte dem deutschen Präsidenten blühen.
Eine Völkerverständigung ist also trotz aller Verhandlungen nicht in Sicht. Diese kann ohnehin nicht zwischen Regierungen vereinbart werden, sondern muss zwischen den Menschen erfolgen. Dazu müsste sich Deutschland aber auch der Aufgabe stellen, die koloniale Amnesie im eigenen Land anzugehen und entschieden allen Formen von Rassismus und anderer Diskriminierung sowie kolonialapologetischer Verharmlosung entgegentreten. So besehen, müsste der deutsche Präsident die Bitte um Entschuldigung zuerst im eigenen Land aussprechen und damit die MitbürgerInnen daran erinnern, dass die kolonialen Schandtaten weiterhin der Anerkennung und des Gedenkens ihrer Opfer im öffentlichen Raum harren.
Der Namibia-Sonderbeauftragte Ruprecht Polenz erläuterte in seiner monatlichen Kolumne die Vereinbarung als „Weg zu einer Aussöhnung mit Namibia“ und endet mit der Feststellung: „Einen Anspruch auf Versöhnung gibt es nicht.“ Auch Außenminister Maas stellte schon in seinem Statement fest: „Gelebte Versöhnung kann nicht dekretiert werden.“ Da haben beide wohl recht und das setzt zumindest 2021 kolonialen Verhältnissen eine Grenze.
Immerhin kann Versöhnung nicht von der Regierung der einstigen Tätergesellschaft den Nachfahren der vom deutschen Kolonialismus bis heute nachhaltig Betroffenen oktroyiert werden. Es liegt an diesen, ob sie die Form und den Inhalt einer Bemühung um Versöhnung akzeptieren und in eine wirklich gleichberechtigte Interaktion zu treten bereit sind, um die gemeinsame Geschichte halbwegs adäquat in der Gegenwart zu bearbeiten. Doch solange die Asymmetrie des kolonialen Blicks weiter die Wahrnehmung der Wirklichkeiten trübt, haben die vom damaligen Völkermord noch immer Betroffenen mangels der notwendigen Voraussetzungen allen Grund, sich dem zu widersetzen.